Reids Geschichte
1979 wurde bei mir eine ungewöhnliche Form von Krebs diagnostiziert, nämlich Haarzellen-Leukämie (leukämische Retikuloendotheliose), und es wurde mir gesagt, dass ich höchstens noch etwa zwei Jahre zu leben hätte. Die Schulmedizin hatte mir zu jener Zeit keine wirksame Behandlung anzubieten. Bevor ich Ihnen aber über meine Erfahrungen mit dem Krebs erzähle, möchte ich gerne etwas über mein Leben vor der Diagnose berichten.
Ich wurde im Jahre 1939 in Gainesville in Florida geboren als dritter Sohn meiner Eltern. Unsere Familie lebte in sehr bescheidenen Verhältnissen, und ich wohnte bis zu meiner Heirat im elterlichen Haus. Ich besuchte die Schulen in Gainesville und schloss im Jahre 1962 an der Universität von Florida als Diplomkaufmann ab. Ich hatte an der Universität am Programm für Reserveoffiziere teilgenommen und ging bald nach Abschlussprüfung zur U.S. Air Force. Nach Ableistung meiner Dienstverpflichtung trat ich in die Finanzabteilung eines großen Autowerks in Detroit ein, wo ich eine umfassende Ausbildung und Erfahrung beim Einsatz der EDV zur Lösung von betrieblichen Problemen erwarb. Später wurde ich Unternehmensberater, spezialisiert auf die Anwendung von Computersystemen in den Bereichen Marketing, Verkauf und Vertrieb.
Im Jahre 1975 zog ich nach Chattanooga in Tennessee, um bei einer großen Getränkefirma zu arbeiten. Meine Aufgabe bestand darin, eine Organisation aufzubauen, welche das Abfüllen der Erfrischungsgetränke in mehreren Bundesstaaten koordinierte. Im ersten Jahr verbrachte ich nur dreizehn Nächte in meiner Eigentumswohnung am Lookout Mountain (in der Nähe von Chattanooga). Ich war seit mehreren Jahren geschieden, und in der damaligen Lebensphase klammerte ich mich an meine Arbeit wie an ein Rettungsboot. Wenn ich mal nicht arbeitete, verbrachte ich meine Zeit mit Sport. Ich war in ausgezeichneter körperlicher Verfassung für einen Mann von vierzig. Freundinnen hatte ich jede Menge.
Wie Sie sich vorstellen können, nahmen meine Arbeit, mein Training und meine Frauengeschichten meine Zeit und Kraft voll in Anspruch, sodass ich nicht allzu viel über mein Leben nachdenken musste. Dieses Leben war in den Jahren vor dem Umzug nach Chattanooga kompliziert und stressig geworden. Ich hatte es damals nicht zugegeben, dass ich noch immer darunter litt, dass mehr als zehn Jahre zuvor mein zweites Kind gleich nach der Geburt gestorben war. Auch hatte ich mich noch immer nicht mit meiner gescheiterten Ehe abgefunden. Ich hatte nicht einmal begonnen, mich ernstlich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen. Außerdem war mein erster Sohn aus jener Ehe ein Problem für meine Exfrau und schließlich auch für mich geworden.
Bevor ich nach Chattanooga umzog und Rob vierzehn war, hatte er einen Sommer bei mir in Denver (Colorado) verbracht. Seine Mutter hatte ihn sehr schwierig gefunden, aber im Zusammenleben mit mir schien er einem Engel zu gleichen – bis im Herbst die Zeit für ihn kam, zu seiner Mama zurückzufahren. Da fragte er mich, ob er nicht bei mir in Denver bleiben dürfe. Er flehte mich richtiggehend an, bei mir bleiben zu dürfen, ich bestand aber darauf, dass er zurückging. Ich dachte, es sei unmöglich, ihn ständig bei mir zu haben, da ich ortsunabhängig bleiben musste und auch viel reiste. Ein paar Tage bevor er wegfahren sollte, erhielt ich im Büro einen Anruf von der Polizei. Mein Sohn war verhaftet worden, weil er einen anderen Teenager zusammengeschlagen hatte. Ich war völlig schockiert von seinem Verhalten. Ich versprach, die Arztkosten für den verletzten Jungen zu übernehmen, holte meinen Sohn aus dem Gefängnis und brachte ihn zum Flugzeug zurück nach Atlanta. Ich hatte den Behörden versprechen müssen, ihn für die Gerichtsverhandlung nach Colorado zurückzubringen.
Sobald er wieder bei seiner Mutter in Atlanta lebte, wurde Robs Benehmen immer schlimmer. Schließlich, nachdem ich nach Chattanooga umgezogen war, bestand meine Exfrau darauf, dass ich ihn wieder übernahm. Ich war immer noch viel auf Reisen, deshalb musste ich irgendeinen Weg finden, um ihn unter ständiger Aufsicht zu haben. Ich meldete ihn bei einer Privatschule in Chattanooga an, wo es ein angeschlossenes Internat für Jungen gab. Nach ein paar Monaten musste er diese Schule verlassen. Er wurde verdächtigt, mit Drogen angefangen zu haben, aber ich konnte das einfach nicht glauben. Er jedenfalls beteuerte seine Unschuld.
Ich schulte ihn anderswo ein, aber auch dort wurde er wieder rausgeschmissen. Ich konnte nicht begreifen, was mit ihm nicht in Ordnung war, und er konnte es anscheinend auch nicht. Er sagte immer: «Papa, es tut mir wirklich leid, dass ich andauernd Dinge tue, die dir wehtun oder peinlich sind. Ich tue es nicht absichtlich, und ich weiß nicht, warum ich es tue.»
Ich möchte Ihnen ein Erlebnis schildern, um Ihnen ein Gefühl dafür zu geben, was für Schwierigkeiten wir miteinander hatten. Ich war eine Woche lang auf einer anstrengenden Geschäftsreise gewesen. Als ich nach Hause kam, fand ich meine neue Eigentumswohnung, in der alles Geld steckte, das ich mir zusammengespart hatte, vollkommen verwüstet vor. Es war klar: mein Sohn hatte in meiner Abwesenheit mit Freunden eine wüste Party gefeiert, aber er hatte weder genügend Achtung vor mir, um das Durcheinander aufzuräumen, noch genügend Mut, um sich mir zu zeigen. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Es schaute aus, als ob jemand den Abfallcontainer einer Kneipe gestohlen und ihn in mein Wohnzimmer gekippt hätte. Außerdem hatte jemand an verschiedenen Stellen Löcher in die Wand geschlagen. Ich brauchte mehrere Tage, um meinen Sohn zu finden und ihn zur Rede zu stellen. Er pflegte damals tagelang zu verschwinden; er sagte dann immer, er habe bei diesem oder jenem Freund übernachtet.
Er war außerstande zu erklären, wie die Dinge dermaßen hatten außer Kontrolle geraten können. Wie er es früher auch immer wieder getan hatte, entschuldigte er sich und schien ehrlich erschüttert über das, was er getan hatte. Mehrmals sagte er zu mir: «Papa, ich weiß auch nicht, warum ich so was tue.» Und mehr als einmal habe ich ihm darauf geantwortet: «Erzähl mir nicht solchen Mist. Ich habe niemals so etwas getan, als ich jung war.»
Bei einer anderen Gelegenheit rief er an und fragte, ob ich ihn nach dem Büro auf eine Pizza treffen könnte, und ich sagte: «Aber ja doch, ich freue mich darauf.» Aber dann kam er einfach nicht. Ähnliche Vorfälle ereigneten sich regelmäßig.
Später verschwand er monatelang. Während dieser Zeit spielten meine Emotionen verrückt. Sie schwankten zwischen einer so entsetzlichen Wut, dass ich ihn hätte umbringen können, und der Angst, dass er vielleicht irgendwo verletzt herumlag und sich nicht getraute, mich anzurufen, oder dass er sogar tot war. Aber dann schließlich kam er doch wieder zurück, nur um bald schon wieder für längere Zeit zu verschwinden.
Einer der Psychologen in unserer Firma, der sich mit den Anzeichen von Alkohol- und Drogenmissbrauch auskannte, erklärte mir, dies sei das klassische Verhalten eines drogenabhängigen Jugendlichen. Ich glaubte ihm nicht. Robs Benehmen wurde immer schlimmer, aber ich dachte, er sei nur ein siebzehnjähriger Heißsporn. Ich konnte nicht glauben, dass er drogensüchtig war. Doch als dieser Psychologe länger mit mir redete, konnte ich schon sehen, dass mein Sohn in der Tat alle Symptome aufwies und dass ich blind gewesen war gegenüber der Möglichkeit, hier könnten Drogen im Spiel sein. Ich war damals in solchen Dingen völlig ahnungslos. Nachdem ich ihn schon in eine psychologische Beratung geschickt und versucht hatte, ihn so gut ich es verstand zu disziplinieren, veranlasste ich endlich eine Gegenüberstellung mit unserem Betriebspsychologen. Ich bot meinem Sohn mehrere Alternativen an – eine Einfachfahrkarte irgendwohin, Eintritt ins Militär, eine Anhörung vor einem Richter zwecks Einweisung in ein Heim für Schwererziehbare oder ein Drogenentziehungsprogramm. Nachdem er sich die Möglichkeiten ein paar Minuten lang überlegt und mir erklärt hatte, warum er keine von ihnen akzeptieren könne, bestand ich darauf, dass er sich entscheide. Er wählte den Drogenentzug.
Es war für mich ganz, ganz schlimm, mich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass mein Sohn drogenabhängig geworden war. Es war mir zumute, als hätte ich sein Leben ruiniert, und ich fühlte mich deswegen schuldig. Ich erkannte schließlich, dass er in jenem Sommer in Denver nach Hilfe geschrien hatte und dass ich ihn zurückgewiesen hatte. Ich dachte, es sei alles mein Fehler. Ich erinnere mich an eine Situation, als ich in meiner Wohnung am Lookout Mountain saß und in einer Zeitschrift einen Artikel über Leukämie las. Ich dachte mir damals: Eigentlich würde ich so etwas verdienen, weil ich das Leben meines Sohnes ruiniert habe. Aber, wie es damals meine Art war, ich...