Ich beginne, dem Leben langsam wieder zu vertrauen. Zuerst nur sachte – dann verabschiedet sich, je länger die Zeit ohne Rückfall dauert, die permanente Angst immer mehr aus meinem Alltag. Mit jedem Tag ohne erneute Schreckensmeldung liegen die Rückfälle um einen Tag weiter zurück. Ich beziffere den komplikationsfreien Abstand zum Ausgangspunkt zuerst in Wochen und dann in Monaten. 24 Monate nach dem dritten Eingriff beginne ich, Judith wieder vermehrt in meine Zukunftsplanung miteinzubeziehen. Auch unser gemeinsamer Radius wird sukzessive größer. Judith bleibt zwar misstrauisch, trotzdem kommen Lachen und Lust auf Neues auch bei ihr zurück.
Wir wandern, und der zweite Wald in unserer unmittelbaren Nähe gehört wieder uns. Wir können erneut wählen zwischen rechts und links der Limmat, zwischen Zürichberg und Üetliberg; zwischen Kummerwald und Fitnesswald. Der eine behält seine Aufgabe als Ort unserer Problembewältigung, der andere wird mit seinem steil ansteigenden Weg zur Teststrecke für Judiths körperliche Verfassung.
Nach dreißig Monaten hat sie auch wieder Kraft und Energie. Zwar nicht mehr so wie früher, als wir zusammen in Kuba, Mexiko und den USA gewesen waren, dennoch sind wir glücklich, dass wenigstens ein Teil davon zurück ist und sie in den Bergen wieder Schritt halten mag. Nach 36 Monaten Stabilität und Ruhe verbringen wir hin und wieder auch ein verlängertes Wochenende außerhalb der Stadt; weg von Lärm, Stress und, je nach Jahreszeit, Nebel oder Hitze. 2004, im Sommer, schaffen wir sogar, was sich Judith seit langem gewünscht hatte und sich ihrer Schwäche wegen nicht mehr zutraute – wandern in Etappen, immer weiter, so wie ich es zu Beginn ihrer Krankheit gemacht hatte, als ich im Engadin allein unterwegs war.
Für unsere mehrtägige Wanderung wählen wir das Gebiet des Alpsteins. Seine Schönheit hatte ich bei meiner Fernseharbeit entdeckt: Vor einem Jahr war ich für die Sommerserie »Bsuech in…« im Rheintal und in diesem Zusammenhang mit der Seilbahn zur Stauberenkanzel hochgefahren. Das Panorama, das sich mir da eröffnet hatte, war überwältigend. Schon damals hatte ich gehofft, diese Bergwelt mit seinen schroff und steil abfallenden Felswänden einmal mit Judith entdecken zu können. Nun wird auch mein Traum wahr.
Ich bin glücklich und nervös wie ein Kind, als wir unsere Rucksäcke tatsächlich packen und uns keine böse Überraschung kurz vor unserem Vorhaben, so wie früher oft, scheitern lässt. In meinen Rucksack stopfe ich alles Schwere – Bücher, Toilettenartikel, Proviant und Wasser. Judith überlasse ich das Leichtere und Voluminösere – Fleece, Leibchen, Regenjacken. Vom Ausgangspunkt in Brülisau wandern wir in einer ersten Etappe zum Berggasthaus Bollenwees. Wir beziehen unser Zimmer mit Blick zum Fälensee. Am Abend essen wir die beste Rösti unseres Lebens. Sie ist so gut, dass ich mich Jahre später, bei meinem zweiten Besuch, noch immer daran erinnern werde.
Die Nacht ist so dunkel und die Sterne so hell, dass Judith nicht darauf beharrt, auch noch die Fensterläden zu schließen. Ich ziehe nur die Vorhänge. Am frühen Morgen erwache ich beim ersten Licht und fotografiere vom Bett aus die Spiegelung der geröteten Bergspitzen auf der noch schwarzen Oberfläche des Bergsees. Nach dem Frühstück ziehen wir weiter. Unser nächstes Ziel ist die Meglisalp.
Unterwegs fotografiere ich viel: die Alplandschaft, überall belebt von Kühen. Aber vor allem muss ich immer wieder Judith im Bild festhalten; wandernd, stehend, sitzend. Und auch, als wir im Berggasthaus Meglisalp das Eckzimmer bezogen haben, wie sie sich im Bett ausruht und liest – eingekuschelt unter der gewölbten Decke mit seinem rot-weiß karierten Überzug. Diese Momente will ich nie mehr vergessen. Judith hat dafür wenig Verständnis. »Erlebtes kannst du nicht abbilden. Nimm es auf in deinem Kopf.« Wie recht sie damit hat. Wenn ich die Fotos nachher auf dem Computer speichere, bin ich regelmäßig enttäuscht vom Abbild der Realität. Ich kann es trotzdem nicht lassen, auch weil es mich inspiriert: Kühe werden mein nächstes Filmthema.
Als wir auf der Meglisalp erwachen, ist es regnerisch und verhangen. Wir beschließen, unsere Wanderung einen Tag früher zu beenden. In Regenjacke und wasserundurchlässiger Überziehhose verpackt, machen wir uns auf den mehrstündigen Abstieg. Judith ist ohne Angst, obwohl es rutschig und steil ist. In Wasserauen sind wir komplett durchnässt und wechseln unsere Kleider. Danach sitzen wir im Bahnhofrestaurant und sind stolz auf unsere Leistung. Wir trinken einen Milchkaffee und beißen herzhaft in eine Nussstange. Judith stellt überrascht fest, dass sie selbst nach drei Wandertagen nicht erschöpft ist: »Ich kann es selber nicht glauben, aber ich fühle mich so fit wie zu Beginn unserer Beziehung.« Auf dem Heimweg beschließen wir, unser zwanzigjähriges Zusammensein in den Bergen zu feiern – nur wir zwei.
Anfang September fahren wir deshalb nach Juf im bündnerischen Averstal, auf 2126 Metern. Das Dorf ist innerhalb Europas das höchstgelegene, das ganzjährig bewohnt ist. Nach zwei Übernachtungen im neu eröffneten Hotel steigen Judith und ich am Sonntagmorgen bis auf knapp 2900 Meter. Ich trage unser beider Gepäck am Rücken, um Judith zu schonen. Wir gehen nur langsam bergauf, teilen unsere Kräfte ein, indem wir regelmäßig pausieren, Wasser trinken und Nüsse essen. Auf der Passhöhe rasten wir ausgedehnt. Wir sitzen inmitten der Berge, links und rechts von uns die beiden Täler – das eine, das wir bereits durchschritten haben, das andere, das noch vor uns liegt: Wir wollen auf diesem Weg Savognin erreichen.
Am Abend, nach zehn Stunden und 2200 Höhenmetern, sind wir beide geschafft; ich mehr als Judith. Wir sind dankbar, dass sie wieder fähig ist, eine solche körperliche Leistung zu vollbringen, und wir sind überwältigt von der Tatsache, dass wir uns noch immer lieben. Auch das, so finden wir beide, ist nicht selbstverständlich. Obwohl unsere gegenseitigen Gefühle nicht all die Jahre permanent intensiv waren, ist es uns doch immer wieder gelungen, unsere gegenseitige Nähe zu finden. Vertrauen, Offenheit und Toleranz haben uns dabei geholfen. Und ich stelle fest, dass meine innere Stabilität zurück ist, weil sich Judiths Krankheit nicht wieder gemeldet hat.
Ich sehe wieder eine Zukunft. Doch welche? Judith motiviert mich, endlich meinen Traum zu verwirklichen: Ich möchte, obwohl ich es mir nicht wirklich zutraue, einen Dokumentarfilm fürs Kino realisieren. Es geht um die Liebesgeschichte zweier homosexueller Männer. Sie werden bald 75 und sind seit über 48 Jahren ein Paar. Seit Jahren setzen sie sich für die gesetzliche Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Paaren ein. Im vergangenen Sommer, als es im Kanton Zürich endlich möglich wurde, dass homosexuelle und lesbische Paare ihre Partnerschaft auf dem Standesamt eintragen, waren Röbi und Ernst die Ersten, die sich am 1. Juli 2003 das Ja-Wort gaben. Ihre Geschichte will ich aufarbeiten, weil es sich um Zeitgeschichte handelt, die auch mich betrifft. Sie zeigt auf, wie schwul-lesbische Menschen allein aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert und gesellschaftlich an den Rand gedrängt worden sind. Und das, obwohl laut Schätzungen über zehn Prozent der Bevölkerung diese Präferenz leben. Nun klemme ich mich hinter das Erarbeiten eines Konzeptes, für das ich meine fernsehfreie Zeit einsetze. Ich lerne viele Menschen kennen, die mir aus ihrem Leben erzählen und von einer Gesellschaft, die fast nichts unversucht ließ, Homosexuellen das Leben unwert zu machen und ihre Liebe zum gleichen Geschlecht als Krankheit auszumerzen. Ich höre von Razzien, Hausdurchsuchungen, Scheinehen, Selbsttötungen, Identitätsverlust, Depressionen, Arbeitslosigkeit. Auch wenn mir vieles schon bekannt war, bin ich immer wieder froh, eine Frau zu sein, weil Frauen doch weniger stigmatisiert worden sind als Männer.
Ich finde einen Produzenten, der meine Idee als Film ins Kino bringen will. Doch die wichtigste Geldquelle, um »Röbi und Ernst – schwule Geschichte mit Happy End?« realisieren zu können, bleibt mir verwehrt. Die Filmförderung des Bundes weist mein Projekt zurück, weil mein Arbeitsvolumen beim Fernsehen mit 75 Prozent zu hoch ist. Für mich eine riesige Enttäuschung.
Zum Jahresübergang, als wir vom 2004 ins 2005 rutschen, stoßen wir auf der Klewenalp zusammen mit Freundinnen auf die Gesundheit aller an. Es wird das Jahr von Judiths fünfzigstem Geburtstag. Welch ein Wunder. Ich beschließe, ohne es laut zu formulieren, Wünsche nicht mehr vor mir her zu schieben, sondern, wenn immer möglich, gleich umzusetzen. Am ersten Tag im neuen Jahr überrasche ich Judith. Bei der Bergstation der Gondelbahn habe ich Schneeschuhe für sie und mich gemietet. Dann tauchen wir ein in die fast tonlose verschneite Landschaft abseits der Pisten. Die Erfahrung ist so nachhaltig, dass wir unsere eigenen Schneeschuhe kaufen, sobald wir zurück in Zürich sind, und nun...