1 Sie sind nicht allein
„Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt, der andre packt sie kräftig an und handelt.“
Dante Alighieri
Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie viele Menschen ebenso wie Sie die Pflege von Angehörigen übernehmen? Im Jahr 2012 gab es in Deutschland ca. 80 Millionen Menschen (Statistisches Bundesamt 2013). Etwa 1,7 Millionen in der eigenen Häuslichkeit lebende Menschen erhielten 2012 Leistungen aus der Sozialen Pflegeversicherung (Bundesministerium für Gesundheit 2013). Der Sozialverband VdK geht von rund 4 Millionen Menschen aus, die von Angehörigen betreut und gepflegt werden (Sozialverband VdK 2014). Anders ausgedrückt: 5 % der Bundesbürger (jede zwanzigste Person) werden zuhause von Angehörigen gepflegt oder betreut. Das bedeutet: mindestens jeder zwanzigste ist ein pflegender Angehöriger!
Wer sind die pflegenden Angehörigen?
Laut einer Studie des Kuratorium Deutsche Altershilfe (Salomon 2009, 9) sind mehr als die Hälfte der Pflegenden zwischen 40 und 64 Jahren alt, ein Drittel 65 Jahre und älter. Einige von ihnen sind selbst körperlich eingeschränkt und nur wenige sind darin geschult, mit den physischen und seelischen Anforderungen der Pflege und Betreuung umzugehen.
Am häufigsten werden Eltern von ihren Kindern gepflegt, am zweithäufigsten Partner von ihren Partnern. Dabei übernehmen bis zu 80 % Frauen die Pflege; Töchter, Schwiegertöchter, Partnerinnen oder Mütter. Aber auch Söhne (5 %) und Partner (12 %) oder sonstige Verwandte finden sich als pflegende Angehörige (Salomon 2009, 9).
Viele pflegende Angehörige sind berufstätig, da sie auf ein Einkommen angewiesen sind. Laut Sozialverband VdK Deutschland e. V. stieg der Anteil der Teilzeitbeschäftigten unter den pflegenden Angehörigen in der Zeit von 1997 bis 2010 von 26,3 % auf 36,1 % an. Auch die Zahl der Vollzeitbeschäftigten stieg, von 14,1 % auf 17,6 %. Der GKV-Spitzenverband (Zentrale Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen) vermutete 2011, dass die häusliche Versorgung Pflegeempfangender in Zukunft schwerpunktmäßig von Menschen mit geringerem Bildungsniveau und eingeschränkten finanziellen Mitteln übernommen werde und somit finanzielle Notlagen in diesen Familien verstärken wird (GKV-Spitzenverband 2011, 25f.).
Sogar minderjährige Kinder und Jugendliche gehören zu dem familiären Netz, durch das die häusliche Pflege von Angehörigen gewährleistet wird. Zwar liegen in Deutschland noch keine konkreten Zahlen vor, doch Schätzungen gehen von rund 225.000 Kindern unter 18 Jahren aus, die durch Pflege, Mithilfe im Haushalt und Versorgung jüngerer Geschwister dazu beitragen, dass die Familie möglichst normal weiter leben kann (Schefels o. J.).
Welche Aufgaben übernehmen pflegende Angehörige?
Doch wo beginnt Pflege und Betreuung? Viele Menschen bezeichnen die für sie selbstverständlichen Handreichungen für ihre Angehörigen nicht als Pflege- oder Betreuungsleistung, selbst wenn sie einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit einnehmen. So schauen Sie nun täglich bei den Eltern oder Schwiegereltern nach dem Rechten oder intensivieren ihre wöchentlichen Besuche. Sie erledigen Einkäufe, die Post oder einen Teil der Hausarbeit für sie, agieren als Chauffeur oder Alleinunterhalter, unterstützen in finanziellen Fragen und zelebrieren gemeinsame Feiertage. Der aktivere und gesündere Partner verteilt häufig unmerklich die täglichen Aufgaben und übernimmt auch bisher ungewohnte Pflichten, wenn die Fähigkeiten des (Ehe-)Partners nachlassen. Pflegende Angehörige hören geduldig zu, auch wenn sich die Themen, über die gesprochen wird, wiederholen. Sie geben Rat und bestärken ihre Lieben emotional.
Die Notwendigkeit einer stützenden Begleitung oder Pflege kann schleichend eintreten oder durch eine akute Erkrankung, einen Unfall oder wenn der bisher pflegende Angehörige verstirbt, plötzlich erforderlich werden. Mit zunehmendem Unterstützungsbedarf wächst die Anzahl der Aufgaben. Der Umgang mit Hilfsmitteln will angeregt, das Essen hergerichtet, die Körperpflege und das Ankleiden müssen angeleitet oder übernommen, die Medikamenteneinnahme kontrolliert, die Inkontinenzversorgung unterstützt werden.
Kann der Betreffende das Haus nicht mehr verlassen häufen sich Erledigungen. Finanzielle und rechtliche Angelegenheiten müssen geklärt und Formulare ausgefüllt werden. Auch stellen Angehörige häufig die einzigen sozialen Kontakte dar. Sie sind eine Verbindung zur Außenwelt wie auch zu besseren Zeiten in der Vergangenheit. Nicht zuletzt benötigen viele Angehörige ein gutes Maß an Einfühlungsvermögen und Überzeugungskraft, um die betreffende Person davon zu überzeugen, Hilfe anzunehmen.
Lebt der Pflegeempfangende in einer stationären Pflegeeinrichtung, übernehmen viele Angehörige auch weiterhin spezifische Aufgaben. Sie wissen, wie viel angenehmer es ist, wenn eine vertraute Person das Essen reicht oder die Wäsche reinigt. Sie beleben den Alltag durch Erzählungen und Bilder aus der Familie oder der Nachbarschaft, sorgen für anregenden Lesestoff und Musik oder ermöglichen Ausflüge und die Teilnahme an Familienfeierlichkeiten.
Gesellschaftliche Bedeutsamkeit pflegender Angehöriger
Je länger wir leben, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit zu erkranken oder Pflege zu benötigen. In den letzten hundert Jahren stieg die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer von 47 auf 77 Jahre und die der Frauen von 50 auf etwa 82 Jahre (Luy 2014). Trotz der steigenden Anzahl derer, die Pflege benötigen, leben weiterhin ca. 1/3 der Pflegeempfangenden in stationären Einrichtungen, während ca. 2/3 zu Hause verweilen. Dies spiegelt sich auch in einem deutlichen Anstieg der Beschäftigten im ambulanten und stationären Pflegebereich wieder. Das Bundesgesundheitsministerium erwartet einen weiteren Anstieg von Pflegebedürftigen (von 2,54 Millionen im Jahr 2012 auf 3,22 Millionen in 2030, bzw. 4,23 Millionen in 2050).
Die Bedeutsamkeit pflegender Angehöriger für unsere Gesellschaft ist daher enorm. Der Sozialverband VdK Deutschland e. V. schätzte 2013, dass ohne pflegende Angehörige 3,2 Millionen mehr Vollzeitpflegekräfte benötigt würden – umgerechnet wären das zwischen 75 und 145 Milliarden Euro Lohnkosten. Dabei stieg die Beschäftigung in der Pflege von 1999 bis 2011 um mehr als 50 % (Bundesministerium für Gesundheit o. J.a), doch insbesondere die Altenpflege kämpft seit Jahren mit Nachwuchssorgen.
Gleichzeitig war bereits 2011 in der Ärztezeitung ein Rückgang in der Bereitschaft, Angehörige rund um die Uhr zu betreuen, zu lesen. Äußerten sich 2006 noch 35 % der Befragten positiv dazu, waren es 2011 nur noch 18 %. Neben persönlichen Gründen wurden der Wandel traditioneller Familienstrukturen und erhöhte Mobilitätsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt angeführt (Hommel 2011). Sicher fällt bei dieser Frage ebenso ins Gewicht, dass es immer weniger Kinder gibt. So zählte man laut Wikipedia 2002 nur halb so viele Geburten wie 1964. Auch die Zahl der Singlehaushalte steigt.
Gesellschaftliches Ansehen pflegender Angehöriger
Pflegende Angehörige schultern eine der größten Aufgaben unserer Solidar-Gemeinschaft. Kaum jemand denkt darüber nach, dass pflegende Angehörige durchschnittlich weit mehr als 40 Stunden in der Woche mit dieser Aufgabe beschäftigt sind. Häufig, besonders bei demenziell erkrankten Angehörigen, sind sie 24 Stunden täglich – bei Tag und Nacht – zur Stelle, ohne Nachtzulage oder Feiertagszuschlag. Der größte Pflegedienst der Nation arbeitet unentgeltlich sieben Tage die Woche und fordert keinen Urlaub. Doch ihre Leistung bleibt für viele Menschen verborgen, da sie in den eigenen vier Wänden geschieht. So erhalten sie selten Anerkennung oder Aufmerksamkeit.
Wer Angehörige pflegt, nimmt häufig finanzielle Einbußen in Kauf. Muss die Arbeitszeit reduziert werden oder wird eine Familienpflegezeit in Anspruch genommen, sinkt das monatliche Einkommen in dieser Zeit. Das Pflegegeld bietet nur einen sehr geringen Ausgleich. Mit sinkendem Einkommen reduziert sich ebenfalls der Rentenanspruch, so dass die finanziellen Folgen auch langfristig spürbar bleiben. Auch liegt die Anrechnung der Angehörigenpflege für die Rente deutlich unter der Anrechnung für Kindererziehungs- und Betreuungszeiten (Deutsche Rentenversicherung o. J.; 2013).
Kaum jemand, der nicht selbst einmal mit der Thematik konfrontiert wurde, erahnt, was es bedeutet, sein Leben ganz auf eine hilfebedürftige Person einzustellen. Zudem setzen sich viele Menschen nur ungern mit Krankheit, Hinfälligkeit oder dem Tod auseinander und vermeiden Gespräche darüber. Pflegende Angehörige sind da, wo viele die Augen verschließen und so werden sie auch kaum gesehen.
Ohne auf den gebührenden Respekt oder Dankbarkeit der Gesellschaft zu warten, praktizieren pflegende Angehörige Menschlichkeit und Solidarität. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet der erste Artikel des deutschen Grundgesetzes. Um pflegende Angehörige entsprechend zu würdigen, müssten soziale Tätigkeiten u. a. eine angemessene finanzielle Aufwertung erfahren. Kompetente Ansprechpartner sollten, auch in ländlichen Gegenden mit einer geringen Infrastruktur, zeitnah erreichbar und die Unterstützungsmöglichkeiten bezahlbar sein. Aufrichtige Anerkennung des hohen persönlichen Einsatzes könnte sich beispielsweise in der Ermöglichung...