2 Geschichte
2.1 Von der Familientherapie zur Systemischen Therapie
Die Systemische Therapie hat ihre Wurzeln in der Familien- und Paartherapie. In den 1930er und 1940er Jahren begannen einige – meist angloamerikanische – Psychotherapeuten die Familien ihrer Patienten in die Behandlung miteinzubeziehen: In der Erziehungsberatung stießen Praktiker bei psychisch belasteten und delinquenten Kindern und Jugendlichen an die Grenzen ihrer individualtherapeutischen Möglichkeiten und in der Schizophrenieforschung fiel auf, dass nicht nur Schizophrene selbst, sondern auch ihre Eltern problematisches Kommunikationsverhalten aufweisen. Außerdem entwickelte sich im Rahmen von Eheberatung und psychoanalytischer Arbeit mit Paaren die Paartherapie relativ getrennt von der Familientherapie. Doch heute gilt die Paartherapie als eine Unterform der Familientherapie.
Mit der Integration systemtheoretischer und kommunikationswissenschaftlicher Ansätze entwickelte sich die Paar-/Familientherapie zu einem Verfahren, das von einem anderen Paradigma ausgeht als eine Einzeltherapie:
Die Störung eines Familienmitglieds wird nicht primär als individuelles Problem sondern als Symptom dysfunktionaler familiärer Interaktionen aufgefasst.
Die Pionierphase der Systemischen Therapie/Familientherapie wurde nicht durch eine zentrale Gründerfigur, sondern durch verschiedene „Urväter und Urmütter“ geprägt. In den 1950er Jahren entstand zunächst in den USA im Rahmen der Erforschung und Behandlung psychiatrischer Störungen die Paar- und Familientherapie. Sie wurde damals „Marital and Family Therapy (MFT)“ genannt. Inzwischen werden nicht nur Ehepaare, sondern alle hetero- und homosexuellen Paare berücksichtigt, unter dem Begriff „Couple and Family Therapy (CFT)“ (Sydow, 2007; Sydow et al., 2007a).
Wichtige Anstöße zur Entwicklung dieses neuen Ansatzes kamen von dem US-amerikanischen Psychiater und Psychotherapeuten Murray Bowen (1913–1990), dem britischen Biologen, Anthropologen und Psychologen Gregory Bateson (1904–1980), dem aus Argentinien stammenden amerikanischen Kinder-Psychiater und Psychoanalytiker Salvador Minuchin (*1921), der amerikanischen Sozialarbeiterin Virginia Satir (1916–1988), dem ungarisch-amerikanischen Arzt, Psychotherapeuten und Hochschullehrer Iván Böszörményi-Nagy (1920–2007), der italienischen Internistin und Psychoanalytikerin Mara Selvini Palazzoli (1917–1999) und dem österreichisch-amerikanischen Psychotherapeuten und Sprachwissenschaftler Paul Watzlawick (1921–2007).
In den 1960er Jahren etablierte sich in den USA die Familientherapie als psychotherapeutisches Verfahren mit eigenständigen Ausbildungsinstituten, Kongressen und Fachzeitschriften (z. B. „Family Process“). 1968 wurde „Family Medicine“ als 20. medizinisches Fachgebiet anerkannt.
Familientherapie war zunächst durch das Setting definiert: Mehrere (verheiratete/verwandte) Personen wurden gemeinsam behandelt statt der sonst üblichen Einzeltherapie. Nach und nach wurden dann neue theoretische Konzepte und spezielle Interventionstechniken entwickelt, die über die bis dahin übliche psychodynamische Orientierung hinausgehen und die speziell an der interpersonellen System-Dynamik von Familien und Partnerschaften orientiert sind. So entstand etwa ab den 1970er Jahren die „Systemische Familientherapie“, die sich dann auch theoretisch und klinisch-praktisch zu der neuen Therapierichtung „Systemische Therapie“ weiterentwickelte (Sydow et al., 2007a). Da sich zeigte, dass systemische Techniken auch erfolgreich bei Einzelpersonen (sowie in anderen nichtfamiliären Settings) angewendet werden können, führte das zur Entwicklung der systemischen Einzeltherapie. Es lässt sich also unterscheiden, ob mit einem Mehrpersonen-Setting (z. B. Paar-/Familientherapie) gearbeitet wird, und/oder mit einer systemischen theoretischen Orientierung.
Angestoßen wurde die Entwicklung in Nordamerika, dann folgte Europa. Wegbereiter im deutschsprachigen Raum waren u. a. die Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter (1923–2011), Helm Stierlin (*1926) und Jürg Willi (*1934). Inzwischen wird auch in China und Südamerika systemisch-familientherapeutisch gearbeitet und geforscht (Kap. 5.1, 5.4).
2.2 Grundlegende Ansätze der Systemischen Therapie
Es lassen sich sieben grundlegende Perspektiven oder Ansätze der Systemischen Therapie unterscheiden, aus denen unterschiedliche systemische Methoden und Interventionen hervorgingen (Sydow et al., 2007a; Sydow, Retzlaff, Beher, Haun & Schweitzer, 2013):
1. Die strukturell-strategische Perspektive versteht klinische Probleme als Ausdruck dysfunktionaler, nicht (mehr) entwicklungsgerechter familiärer Strukturen. Familien werden als regelgesteuerte Systeme betrachtet, deren Struktur von außen hinreichend objektiv erkennbar und durch therapeutische Interventionen gezielt beeinflussbar ist. Wichtige Vertreter dieses Ansatzes sind Salvador Minuchin (Minuchin & Fishman, 1981/1985; Minuchin, Rosmann & Baker, 1978/1991), Jay Haley (1977/1984) und Cloe Madanes (1981). Dieser Ansatz wurde von der Mailänder Arbeitsgruppe um Mara Selvini Palazzoli weiterentwickelt mit einem Fokus auf zirkulären Modellen (Selvini Palazzoli, Boscolo, Ceccin & Prata, 1978/1981, 1980/1981). Sie nutzen die Idee der zirkulären Kausalität (Bateson, 1972/1983) für die Psychotherapie. Fokus sind immer konkrete Interaktionsmuster, die anders als in der klassischen Verhaltenstherapie aber zirkulär verstanden werden (Grawe, Donati & Bernauer, 1994). Die Familie wird als ein sich selbst organisierendes kybernetisches System verstanden, in dem alle Elemente vernetzt sind und die psychische Störung Systemfunktionen erfüllt. Therapeutisch hat der strukturell-strategische Ansatz u. a. die Methoden Joining (Beziehungsaufnahme und -gestaltung), Enactments (Inszenierungen alltäglicher Interaktionsprobleme im Therapieraum), Aufgaben und Verschreibungen, die dosierte Konfrontation und den Umgang mit Koalitionen und Familiengeheimnissen hervorgebracht. Die Mailänder Schule hat die Techniken um die zirkuläre Befragung bzw. die triadischen Fragen, das Hypothesenbilden und die paradoxen Interventionen ergänzt.
2. Die Mehrgenerationsperspektive verknüpft systemische und psychodynamische Konzepte. Sie betrachtet klinische Probleme im Kontext ungelöster familiärer Vermächtnisse und Loyalitäten, unzureichender Differenzierung (Bowen, 1975), überfordernder familiärer Delegationen (Stierlin, 1978) und unausgeglichener „Schuld- und Verdienstkonten“ zwischen den beteiligten Individuen und Generationen (Boszormenyi-Nagy & Spark, 1973/2006). Wichtige Vertreter waren Murray Bowen und Ivan Boszormenyi-Nagy. Hier bestehen auch Bezüge zur Bindungstheorie. Diese Perspektive hat das therapeutische Vorgehen bereichert durch die Genogramm-Arbeit (Hildenbrand, 2005; McGoldrick, Gerson & Petry, 2008) und die damit verknüpfte Mehrgenerationsperspektive. Der Fokus liegt auf der transgenerationalen Weitergabe familiärer Muster. Diese werden erkundet durch Mehrgenerations-Familiengespräche (Reich, Massing & Cierpka 2007), die Arbeit mit Familiengeschichten, die „Familienrekonstruktion“ als Selbsterfahrungsansatz in der Psychotherapieausbildung sowie paar- und individualtherapeutische Interventionen mit einem Fokus auf „Differenzierung“ (z. B. Schnarch, 1997/2006).
3. Die experientelle (erlebnisaktivierende) Familientherapie betrachtet klinische Probleme unter dem Gesichtspunkt des blockierten Emotionsaustauschs, der Selbstwert-Regulation und der Nähe- und Distanz-Wünsche von einander nahestehenden Menschen. Bekannte Vertreter waren Virginia Satir (1964, 1972/2013) und Carl Whitacker (Whitacker & Keith, 1981). Therapeutisch haben sie Verfahren wie die Familienskulptur hervorgebracht.
4. Der lösungsorientierte Ansatz geht auf die Arbeit von Steve de Shazer (1988/2012) zurück. Statt wie sonst im therapeutischen Kontext üblich auf Defizite, Symptome und Probleme zu fokussieren, orientiert sich dieser Ansatz an Ressourcen und Lösungen. Damit einher geht eine „sparsame“ Haltung bzgl. des beraterischen/therapeutischen Aufwands: Therapeuten orientieren sich konsequent an der Motivationslage der Klienten und vermeiden es, mehr zu tun als von den Klienten gewünscht. Wesentliche lösungsorientierte Interventionen sind „solution talk“, lösungsorientierte Fragen wie z. B. die „Wunder- oder Feenfrage“ und ein diagnostisches Raster zur Einschätzung der Therapiemotivation von Klienten.
5. Die Selbstorganisations-Perspektive orientiert sich an den Konzepten Selbststeuerung, Selbstorganisation, strukturelle Autonomie und verzichtet größtenteils auf normative Vorstellungen über Familien und Gesundheit. Das therapeutische Vorgehen orientiert sich stärker an der Eigenlogik des...