Das Dunkel der Seele
Zwei Stimmen, ein Tenor: Hoffnung
Ich sitze tief im Loch. In mir ist alles dunkel. Und es ist kalt. Aber irgendwo muss es doch noch einen Funken Licht geben.
Wenn Herzen sich verschließen, dann ist das nicht von Dauer. Es ist eine Frage der Zeit. Diese Zeit ist abhängig vom Groll oder von der Verletzung, die diesem Herzen innewohnen.
Die Depression ist eine der Sprachen der Seele oder eine Form, in der sich die menschliche Seele ausdrücken kann. Bildlich findet sich ein depressiver Mensch daher leicht in Edvard Munchs weltberühmtem Bild »Der Schrei« wieder. Die depressive Seele ruft aus innerster Not, doch kann der Schrei lautlos und für andere unhörbar sein. Der Schrei kann auch in der Kehle eines Menschen festsitzen und sich dort als immerwährendes Kloßgefühl bemerkbar machen.
Eine Depression legt tiefes Dunkel auf die Seele. Insofern ist die Farbe der Depression meistens Schwarz und ihr Geschmack bitter. Fleht, ruft und schreit die Seele eines depressiven Menschen, ist es die Aufforderung, hinzuschauen, hinzufühlen, die Ursachen der depressiven Verstimmung zu verstehen und sie anzuerkennen. Lebenswahrheiten gelten lassen verhilft der Seele und dem Menschen zu ihrem Recht, um letztlich die Depression als Reaktion entbehrlich zu machen, sie zu heilen. Dabei glimmt in jedem sich depressiv quälenden Menschen ein überlebensfähiger Funke nie versiegender Hoffnung, es möge ein Weg aus dem Dunkel zurück ins Licht des Lebens führen.
Der depressive Mensch erleidet ein Verblassen seiner Gefühle, sie können sogar gänzlich eingefroren werden. Nicht, dass der Depressive keine Gefühle hätte. Er kann ursprünglich sogar zu viele, zu intensive, zu tiefe Gefühle verspüren. Er könnte regelrecht in seinen eigenen Gefühlstiefen ertrinken. Da seine Gefühle aber zu selten auf stimmige Resonanz treffen, sind sie letztlich nicht aushaltbar. Der Depressive lernt, seine Gefühle einzugrenzen, in die hintersten Kammern seiner Seele zu verbannen. Letztlich fühlt er sich veranlasst, nicht mehr wirklich zu spüren. Seine ehemals lebendige innere Welt wird farblos und eintönig. Statt »begeistert« ist der Depressive »entgeistert«. Er denkt und spürt nur noch in eine Richtung: in die Negativität hinein. Die Negativität und Entwertung umfassen sein gesamtes Wesen. Vielfach geäußerte Selbstüberzeugungen lauten:
Ich stimme nicht.
Mit mir stimmt was nicht.
An mir ist nichts Gutes.
Ich bin nie, wie ich sein soll.
Niemand mag mich, mich kann man gar nicht mögen.
Ich bin voller Scham und Schuld.
Ich weiß nie, wo ich hin gehöre. Ich fühle mich nirgends zugehörig.
Die anderen finden mich ohnehin alle so komisch.
Am besten gäbe es mich gar nicht. Und wenn ich gehe, sind die anderen wenigstens von mir befreit.
Der depressive Mensch entwertet aber nicht bloß sich selbst, sondern er katastrophisiert das Leben als solches:
Für mich hat alles keinen Sinn mehr.
Das Leben ist aussichtslos für mich, ich hatte eh nie eine wirkliche Chance.
Ich werde nie wieder froh sein können.
Das Schöne im Leben, alle Freude, alle Leichtigkeit, alles Bunte und jede Verbundenheit werden eingegrenzt, eingemauert, erdrückt. Das Negative, Bedrückende, Bedrohliche, Verlustängste und Einsamkeit dagegen gewinnen immer stärker an Boden und verselbstständigen sich in fortdauernden Denkschleifen. Mit wachsender Depression können sogar diese letzten freudlosen, negativen Gefühle noch ersterben und der Depressive fühlt ausschließlich noch einen vermeintlich gefühllosen Zustand. Da er in diesem Zustand für seine Nächsten und seine Umwelt bei aller Liebe kaum noch zu ertragen ist, verselbstständigt sich auch seine soziale Isolation. Zudem stellen sich unter Umständen immer mehr körperliche Begleiterscheinungen der Depression ein, die das Leiden weiter verschlimmern: Schwindelgefühle, motorische Unruhe, Schlaflosigkeit, Magen- und Darmbeschwerden, Ohrgeräusche, Potenzschwierigkeiten und vieles mehr. Und alles zusammengenommen ist immer noch bloß die halbe Welt des depressiven Menschen. Da erscheint es wie ein unerfüllbarer Anspruch, dass ein depressiver Mensch sich die Zuversicht bewahren soll, er könne aus seiner Düsternis der Seele wieder herausfinden. Eine stellvertretende Zuversicht von außen vermag unterstützend zu wirken, wenn der eigene Glaube auf arg wackligen Füßen steht. War es noch so düstere Nacht in ihr, bewahrte sich die Dichterin Mascha Kaléko unentwegt den Glauben: »Die Nacht, in der das Fürchten wohnt, hat auch die Sterne und den Mond.«
Depression zwischen Krankheit und Gesundheit
Die Depression wird wegen ihrer sprunghaften Verbreitung in Presse und Medien immer öfter als die »Volkskrankheit Nummer eins« tituliert. Niemand sei gefeit davor, in seinem Leben einmal von einer Depression heimgesucht zu werden. Hilft es dem Depressiven, wenn ihm eine definierte Krankheit zugeschrieben wird, wenn er sich ob dieser Zuschreibung letztlich selbst als »krank« versteht? Oder ermutigt es ihn eher, seine Depression als gesunde Reaktion auf krank machende Umstände und Lebenserfahrungen zu verstehen?
Ich arbeite mit meinen depressiven Klienten und Patientinnen am liebsten, ohne den Krankheitsbegriff zu bemühen. Ich ermuntere sie vielmehr, nach den gesunden Anteilen ihrer depressiven Reaktion zu suchen, und unterstütze sie in diesem Prozess des Verstehenwollens. Auch Selbsthilfegruppen depressiver Menschen wehren sich gegen die Zu- und vor allem Festschreibung ihres Leidens als Krankheit. Eine erste wichtige Verständigung lautet folglich: Depression ist keine Krankheit. Nennen wir sie lieber neutral eine Seinsweise der Seele. Dieser Sichtweise zuzustimmen bedeutet nicht Verharmlosung. Depressive Zustände machen Menschen leiden. Und leiden ist Leiden. Die Depression mit ihren Folgen ist ein seelisches und bisweilen auch körperliches Leiden mit Krankheitswert. Diese nicht klinisch geprägte Sicht vertritt auch der Schweizer Psychotherapeut Josef Giger-Bütler (2012).
Für Giger-Bütler ist die Depression ein »Geschehen«. Es »geschehen« das Erlernen und Erwerben einer depressiven reaktiven Entwicklung auf Lebensumstände, die keinen anderen erkennbaren Ausweg offen lassen. Der Schlüssel zum Verständnis der depressiven Entwicklung liegt im Verstehen des »Geschehenen« und »Geschehenden«. Die frühen Ursachen einer jeden Depression sieht Giger-Bütler in der frühen Kindheit von Menschen, in der sie ihre depressiven Reaktionsmuster ausbilden. Ich sehe allerdings auch depressive Menschen, bei denen ich weniger eine früh angelegte Reaktionsbereitschaft ausmachen kann als ein aktuelles Geschehen in einem erwachsenen Hier und Jetzt, das aber ihre bis dahin ausgeprägten Lebensbewältigungsmechanismen überfordert.
Das Krankheitsbild der Depression ist vor allem ein innerer Erschöpfungszustand aufgrund fortdauernder Überforderung. Die Überforderung ist das Grundverhalten des Depressiven. Leitsymptome wie Freud- und Perspektivlosigkeit, Mutlosigkeit, Antriebsarmut, Rückzug, Zweifel an sich selbst, den Menschen und dem Leben sind nicht primäre Kennzeichen einer Depression, sondern logische Folge der inneren Erschöpfung und Überforderung durch vergangene oder aktuelle Lebensumstände. Auf den Punkt gebracht ist Depression ein Minus an Lebenskraft.
Depressiv gestimmte Menschen zeigen Verhaltensmuster und Schemata, die sie so und nicht anders auf ihrer inneren Landkarte angelegt haben. Einmal eine depressive Entwicklung angebahnt, haben sie an allen Weggabelungen ihres Lebens die depressive Richtung genommen und darüber die depressiven Muster verhärtet. Ohne erlernte, antrainierte oder als »Intropression« in sie hineinversenkte depressive Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster reagieren Menschen nicht depressiv niedergedrückt. In Anlehnung an Giger-Bütler halten wir fest:
Die depressive Entwicklung ist eine Persönlichkeitsentwicklung und eine Persönlichkeitsentwicklung ist kein pathologischer, krankhafter Zustand und schon gar keine festgeschriebene psychische »Störung«.
Die depressive Entwicklung prägt die depressive Persönlichkeit, und nicht: Ein bestimmter Persönlichkeitstypus...