jedes Jahr auf der Alm verbringe, tragen mich durch Herbst und Winter. Ich bewahre so viele Glücksmomente im Herzen, so viele wundervolle Bilder im Kopf, dass ich auch diese Zeit im Tal nun ganz bewusst genießen kann.
Inzwischen bin ich in beiden Welten zu Hause, in beiden Welten glücklich. Auch das Leben im Tal, in unserem kleinen Dorf, koste ich nun ganz anders aus. Mein Mann Franz und ich haben ein ehemaliges bäuerliches Anwesen renoviert und ausgebaut, inmitten von Wiesen und Weiden, mit Blick in die Chiemgauer Berge und ganz nah am wunderschönen Simssee gelegen. Von Großtante und Großonkel habe ich den Bauernhof vor zwei Jahrzehnten geerbt. Sie hatten keine Nachkommen und übergaben mir ihren Hof dafür, dass ich sie mehrere Jahre lang bis zu ihrem Tod in ihrem Zuhause gepflegt habe. Bis heute bin ich ihnen dafür dankbar.
Franz und ich haben uns ein gemütliches Heim geschaffen, wir bestellen den Gemüsegarten, kümmern uns um die unzähligen Obstbäume, wir achten und bewahren die alte bäuerliche Kultur. Zwar stehen keine Kühe mehr in unserem Stall, aber wir haben immer einen kleinen Tierpark hier. Ganz wie früher, als sich die Bauernhöfe durch eine Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten auszeichneten, weil sie in erster Linie zur Selbstversorgung der Bewohner dienten und weniger zum Gelderwerb. Wir halten neben unseren Katzen immer Hühner, manchmal Enten und Gänse, und ab und zu kommen für einige Zeit Schweine, Ziegen oder Schafe dazu.
Die Tiere dürfen dann im Sommer mit mir das Almleben genießen. Franz ist zwar als Maurermeister mit einem kleinen Bauunternehmen selbstständig und kann sich seine Zeit relativ frei einteilen, aber obendrein noch die Tiere zu versorgen wäre zu viel. Denn auch bei ihm ist der Sommer die Haupterwerbszeit, und er kümmert sich in meiner Abwesenheit ganz allein um Haus, Hof und Garten. Außerdem freuen sich unsere Tiere genauso auf die Almzeit wie ich, da bin ich mir sicher.
Wenn die Natur rund um unser Haus tief verschneit ist, kehrt draußen und drinnen Ruhe ein – Zeit, Kraft zu tanken für das nächste Jahr.
UNSERE PHILOSOPHIE – IN KÜRZE
Die Arbeit und der Wechsel zwischen dem Leben auf der Alm und im Tal waren in den ersten Jahren hart, doch inzwischen habe ich Routine, habe erfahren, wie viel Erfüllung mir diese Monate geben. Inzwischen weiß ich noch genauer, was mir wichtig ist.
Zum Glück sind Franz und ich uns einig darüber, was für uns immer zentraler wird: Wir lieben nicht nur einander, wir lieben auch die Natur, wir freuen uns an jedem Blümchen, an jedem Stück Obst und an jeder Beere, die die Natur uns schenkt. Und wir wollen die Natur erhalten und ihr dankbar sein. Wir schätzen die Nahrung, die sie uns das ganze Jahr über anbietet, und je mehr wir uns mit natürlicher Ernährung beschäftigen, desto weniger wollen wir die industriell verarbeitete Nahrung essen. Lieblos hergestellte, eingeschweißte, ungesunde Lebensmittel, die diese Bezeichnung nicht verdienen – das vermeiden wir, wo es geht. Wir versuchen deshalb, möglichst viel unserer Nahrung selbst herzustellen, mit einem großen Aber: Wir machen daraus kein Dogma. Wir wollen uns nicht stressen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, von heute auf morgen zu kompletten Selbstversorgern zu werden. Dadurch würden wir uns selbst unter Druck setzen, und genau das ist ja nicht unser Ziel.
Im Gegenteil: Wir gehen mit offenen Augen durch die Welt, werden immer aufmerksamer. Wir entdecken Beeren und Wildfrüchte im Wald oder am Wegesrand, wir lernen immer mehr über Kräuter, Bäume, Wildpflanzen und Pilze, die essbar sind, und genießen mit Freuden diese kostenlosen Delikatessen aus der Natur. Gleichzeitig verleihen uns diese Lebens-Mittel eine Grundgesundheit und ein Wohlbefinden, das uns einfach nur guttut und positiv stimmt.
Auf der Alm habe ich zudem oft erfahren, wie hilfreich Kräutermedizin sein kann – einfach weil ich im Akutfall nichts anderes zur Hand hatte. Deshalb habe ich mich gerade in der Wildkräuterkunde fortgebildet und darf mich jetzt »Zertifizierte Fachberaterin für Selbstversorgung mit Wildpflanzen« nennen. Meine Grundausbildung, sie nannte sich »Phyto-Heilkräuterausbildung«, habe ich schon vor einigen Jahren absolviert. So bereite ich auf der Alm meine Kräutertinkturen zu, die mir und den Tieren bei kleineren Blessuren gut helfen. Ich experimentiere auch gern mit Früchten und Kräutern, wobei ganz neue Speisen und Würzmittel entstehen, die ich gerade in der spartanischen Almküche zu schätzen weiß.
Aber auch im Tal, zu Hause, macht es uns großen Spaß, herumzuprobieren und herauszufinden, was man alles selber machen, wie man bestehende Rezepte verändern und neue entwickeln kann.
Und weil immer mehr Freunde, Nachbarn, Almgäste und auch Leserinnen und Leser meines Almbuches nach Rezepten fragen, habe ich meine beliebtesten »Erfindungen« in dieses Buch aufgenommen. Daneben gibt es natürlich wieder die Geschichten, schöne und traurige, aus dem Almalltag der letzten Jahre – es war aufregend!
»MEINE« ALMEN
Nicht weit von der Krottenthaler Alm entfernt fällt der Blick nach Süden auf den fast 2000 Meter hohen Gipfel der Rotwand.
In diesem Sommer werde ich schon zum dritten Mal auf die Krottenthaler Alm ziehen. Sie liegt im Rotwandgebiet, zwischen Bayerischzell und dem Spitzingsee, auf 1437 Metern Höhe – bis jetzt meine höchstgelegene Alm. Viele Menschen sind erstaunt zu hören, dass wir Almerinnen öfter unsere Almen wechseln. Natürlich gibt es auch die, die jahrzehntelang die gleiche Alm bewirtschaften, aber gerade jüngere Almerinnen haben oft Lust, ganz unterschiedliche Bedingungen zu testen, immer wieder an neuen Orten, mit neuen Tieren zu arbeiten, andere Tätigkeiten auszuprobieren, sich neuen Aufgaben zu stellen.
Oft werde ich gefragt, welche Alm nun die schönste, die beste, meine liebste gewesen sei. Doch die gibt es nicht. Jede Alm hat ihre Vorzüge, und für mich ist jede Alm zu ihrer Zeit die richtige. Auch ich bin ja nicht jedes Jahr dieselbe – ich verändere mich, habe andere Ansprüche, andere Vorlieben und Erwartungen. Ich bin dankbar für jede Alm, die ich kennenlernen darf.
Mindestens zwei Sommer auf derselben Alm zu sein, das war in jedem Fall sehr wichtig für mich. Im ersten Sommer muss man ja das Almgebiet, die Bauern, die Tiere und die Gegebenheiten auf dem Berg und um die Hütte kennenlernen. Im zweiten Sommer weiß ich schon, wie alles abläuft, und kann aktiv meine Schwerpunkte setzen, mein persönliches Almjahr gestalten.
Jedes Almgebiet fordert Vieh und Sennerleute auf andere Art, jeder Almbauer ist anders gestrickt. Die Hütten sind unterschiedlich ausgestattet, die Lage ist total verschieden: mal ausgesetzt und windig, mit weiter Sicht, oder geduckt in einer Mulde, mal einsam, mal mehr oder weniger frequentiert.
Bei jeder neuen Alm sage ich spontan: Wow, das ist meine Traumalm, genau so wollte ich das jetzt haben! Und für den Moment, für die Saison, passt es exakt für mich. Ich lasse mich immer ganz auf eine neue Alm ein. Aber je mehr Erfahrung ich habe, desto mehr kann ich natürlich auch selbst einbringen in das Almleben. Von meinen Kenntnissen profitieren ja neben mir auch die Tiere und die Bauersleute.
Die Krottenthaler Alm ist meine dritte Station, nicht nur hoch gelegen, sondern auch die erste ohne Strom.
Die Krottenthaler Alm. Meine kleine Hütte liegt geschützt in einem weiten Kessel, der nach Norden von der 1759 Meter hohen Aiplspitz begrenzt wird.
AUF DER RAMPOLDALM
Die Rampoldalm in Sichtweite des Wendelsteins war meine erste Erfahrung und eine gute Schule. In traumhafter Lage – mit weitem Blick über den gesamten Chiemgau, wie auf einem »Balkon« der Berge hoch über Wiesen, Wäldern und Seen – genoss ich meine ersten Almsommer, durchlebte aber auch Momente der Verzweiflung und Tage der kompletten Überlastung. Täglich die Milchmengen von zwei glücklichen Milchkühen verarbeiten, in stundenlangen Wanderungen fünfzig Stück Jungvieh auf einer riesigen Almfläche rund um den Berggipfel finden und zählen, viele Wanderer bewirten, die ersten zaghaften Versuche, eigenen Käse zu machen, buttern, Topfen herstellen, Brot backen, schwenden – also Disteln und sonstigen unerwünschten Bewuchs entfernen –, Brennnesseln mähen, Stall und Hütte sauberhalten, vier Monate lang jeden Tag um halb fünf aufstehen und meist nicht vor Mitternacht zum Schlafen kommen – und dabei noch Rückschläge verkraften zu müssen wie eine tödlich abgestürzte Kalbin, eine verrückte Ziegenherde, versiegende Brunnen im Hochsommer und Schnee im Juni –, all das forderte mich ungemein und zeigte mir neben der Härte des Almlebens auch meine eigenen Grenzen auf.
Die Rampoldalm liegt auf gut 1200 Metern Höhe, vom Tal aus ist sie mit dem Mountainbike in einer guten Stunde zu erreichen. Deshalb kommen abends oft noch Wanderer oder Bergradler auf die Alm, nach Feierabend, und wollen bewirtet werden. Da hatte ich wenig freie, stille Zeit für mich. Diese erste Almsaison infizierte mich aber trotz aller Widrigkeiten mit dem Almvirus. Und den werde ich vermutlich mein Leben lang nicht mehr los.
Die drei Almsommer im Wendelsteingebiet waren für mich ein Traum. Ich hatte entdeckt, was mich glücklich macht im Leben, und ich wollte besser werden und dazulernen. Deshalb blieb ich im Jahr darauf im Tal, um meine Heilkräuterausbildung abzuschließen. Nach dem Jahr Pause war die Rampoldalm dann besetzt: Die jüngste Tochter des Almbauern war ab jetzt die Sennerin. So musste ich mir eine neue Stelle suchen. Auf der Alm gilt das ungeschriebene Gesetz,...