Klarheit gewinnen in der Stille
Marion lebt in ständiger Angst und Sorge. Ihr Mann hat sich durch Expansionsbestrebungen finanziell übernommen. Der Lebensstil des Ehepaares ist anspruchsvoll, ein großes Haus und weite Urlaubsreisen scheinen den beiden unverzichtbar. Marion fühlt sich fremdgesteuert und leidet an Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit.
Natalia ist darauf angewiesen, ihre Einnahmen als Zahnarzthelferin für professionelle Zahnreinigung zu sichern. Obwohl sie von ihren Kunden sehr gemocht wird und trotz guter Entlohnung versteht sie sich täglich als Opfer subtiler Erpressung. In ihrer Praxis vergeht kein Tag ohne bedrückende Schikane. Der Zwang, Überstunden und Akkordarbeit zu leisten, ist gepaart mit der Androhung, „ausgetauscht zu werden“, wenn sie nicht nach den Vorschriften ihres Chefs funktioniert. Funktionieren bedeutet auch die Akzeptanz unbezahlter Überstunden. Die Atmosphäre in der Praxis ist erfüllt von Misstrauen und Mobbing.
Solche Berichte aus meiner Arbeit zeigen, wie tief manche Menschen in schwer lösbaren Konflikten verfangen sind. Niemand ist dafür geschaffen, dauerhaft unbeschadet starkem psychischem Druck ausgesetzt zu sein. Eine Veränderung ist nötig. Im Falle von Natalia etwa durch eine umfassende Neugestaltung der Arbeitssituation oder den Ausweg in ein besseres Arbeitsverhältnis. Vielleicht kann das Verständnis für die seelischen Probleme aller Beteiligten oder das Bemühen um Friedfertigkeit konfliktlösend wirken. Ganz sicher ist auch eine Einschränkung des gewohnten Lebensstils bei Marion und ihrem Mann überlegenswert, denn man soll sich öfter einmal die Frage stellen: „Was ist meines Engagements wert?“ Und: „Ist der Preis, den ich dafür zahle, gerechtfertigt?“
Im Folgenden beschreibt Elisabeth Lukas, wie eine praktikable Psychohygiene aussehen kann.
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Elisabeth Lukas: Das bekannte „Hamsterrad“, in dem manche Menschen rotieren, ist nicht neu. Früher sprach man von der „Managerkrankheit“, weil sich insbesondere Führungspersonen in krankmachende Hektik hineinkatapultierten. Neu ist vielleicht, dass inzwischen auch zahllose „kleine Leute“ unter enormem beruflichem Druck stehen bzw. sich unter einen solchen stellen lassen.
Es ist keine Frage, dass uns das Leben viel abverlangt. Aber nur umso wichtiger ist es, dass wir bei allem „Rennen, Tun und Schuften“ nicht einfach dahinfunktionieren, uns dann darüber beschweren, uns selbst zutiefst bemitleiden, ggf. einen Sündenbock beschuldigen – und weiter dahinfunktionieren. Der Erwerb von Routine soll im Prinzip entlasten, nämlich dahingehend, dass man nicht jeden Handgriff ständig neu überdenken muss; aber auch eine erworbene Routine darf nicht dazu verlocken, das Denken und die Eigenkreativität abzuschalten und dumpf vor sich hinzuwerkeln. Immerhin haben wir ja ein paar Gaben, die uns vom Hamster unterscheiden! Das Bonmot: „Man läuft immer schneller und weiß gar nicht mehr wohin“ ist nicht einmal für Tiere angemessen und schon gar nicht des Menschen würdig.
Was da fehlt, hätten uns schon vor Jahrhunderten die alten Mönche in den Klöstern sagen können, die sich damals das „Ora et labora“ zur Regel gemacht haben. Bete und arbeite! In säkularer Übersetzung: Verinnerliche dich und packe an! Oder: Wechsle Phasen intensiven Schaffens mit Ruhepausen ab! Ja, die Pausen – aber sie allein sind noch nicht der ganze „Stein der Weisen“ für unsere stressgeplagten Zeitgenossen, die sich vor lauter Arbeit nicht mehr zu retten wissen. Wie füllen sie denn ihre (wenigen?) Pausen? Süßigkeiten naschend vor dem Fernseher? Bier trinkend an der Theke? Schlechte Launen auslassend bei ihren Lieben? Auf Gott und die Welt schimpfend bei ihren Kumpels? Sich schlaflos im Bett wälzend?
Das Beten der Mönche hatte als Gegengewicht zum aktiven Handeln den Stellenwert einer heilsamen Kontemplation. Nur in der Stille gewährt sich die Chance, im Alltag innezuhalten, sich zu besinnen, in klärende Zwiesprache mit sich selbst zu treten und darüber zu reflektieren, ob man mit sich wirklich zufrieden ist, ob alles weiterlaufen soll wie bisher, oder ob vielleicht eine Wende zu vollziehen ist, die man nur selbst herbeiführen kann. Jeder Neuorientierung geht ein meditativer Akt voraus, dem eine innere Vision entsteigt, wie das Leben anders und besser gestaltet werden könnte. Aus dieser Vision (eben dem Wissen, wohin man laufen möchte) entspringt der Elan, an ihrer Realisierung zu arbeiten. Es wird jedermann einleuchten, dass Fernseher, Bier, Gekeife und Schlaflosigkeit keine geeigneten Gesellen sind, um derlei meditative Akte einzuleiten.
Betriebsamkeit und schöpferisches Tun, die in unserer westlichen Kultur sowieso überlastig sind, bedürfen der Ausgewogenheit durch Ruhe und innere Sammlung. Wir brauchen zwischendurch eine Ruhe, in der wir nicht berieselt werden mit Geräuschen, auch nicht mit Musik, so schön sie sein kann. Wir brauchen eine Ruhe, in der wir nicht Zeitung lesen, mit dem Handy spielen oder Essen verschlingen. Die moderne Sehnsucht nach „Entschleunigung“ ist nur über den generellen Verzicht auf Reizüberflutung zu haben.
Eine solche stille Zeit des Innehaltens und Sich-Besinnens muss gar nicht lange dauern, es genügt eine tägliche Viertelstunde, doch sollten wir auf diese nicht verzichten. Wir sollten uns dafür ein Plätzchen suchen, an dem uns niemand und nichts stört. Das kann ein kurzer Spaziergang am Waldesrand sein, eine Parkbank, eine Kapelle, eine Liege im Hobbyraum, eine abgeschirmte Ecke im Wohnzimmer und Ähnliches. Wer nicht gewohnt ist zu meditieren, wird überrascht sein, wie schwer es ihm anfangs fallen wird, herandrängende Gedanken über aktuell Anstehendes zurückzuweisen. Doch wenn er in der Ruhe verharrt, wird es auch in ihm selbst ruhiger (und lichter) werden, und aus dem Abstand heraus, den er allmählich zum „Kleinkram“ der Gegenwart gewinnen wird, werden sich neue Sichtweisen öffnen. In der Stille zeigt sich das Wesentliche mit beeindruckender Klarheit. So klar, wie ein aus dem Fluss geschöpftes Wasser im Glas wird, wenn man es eine Weile ruhig stehen lässt, bis sich die darin schwebenden Sandkörnchen zu Boden gesenkt haben.
Was könnte sich zum Beispiel Marion zeigen, von der es vorhin hieß, sie lebe in ständiger Angst und Sorge? Könnte sie erkennen, dass ein einfaches Leben in Bescheidenheit, mit weniger Luxus, dafür aber mit mehr Fröhlichkeit, Leichtigkeit und mit einer stabilen partnerschaftlichen Beziehung ihrem jetzigen Dasein vorzuziehen wäre? Könnte sie in den kostbaren Minuten dieser Einsicht beschließen, ihren Lebensstil zu ändern, Erwartungen herunterzufahren, Dankbarkeit für alles, was sie sowieso schon besitzt, hochzufahren, und vielleicht sogar mit ihrem Mann darüber zu diskutieren, ob das große Haus nicht zu aufwendig für sie beide ist, und ob ihn nicht ein Wechsel in eine gemütliche Wohnung von dem Zwang befreien würde, ständig für genügend finanzielle Ressourcen zu sorgen? Ich glaube schon, dass ihr in der Stille solch gute Ideen eingegeben werden könnten.
Auch bei Natalia wäre ich optimistisch. Ich könnte mir vorstellen, wie sie zum Beispiel abends ein duftendes Wannenbad nimmt, dabei die Augen schließt und zur Ruhe gelangt. Wie allmählich das Wesentliche vor ihren „inneren Augen“ auftaucht. Ist sie gerne Zahnarzthelferin? Wahrscheinlich schon, sonst würden die Patienten sie nicht so sehr mögen. Auch ihr Gehalt ist vorzeigbar, und sie braucht es. Weniger vorzeigbar ist offenbar ihr Chef. Nun ja, was kann sie da machen? Mehr als sie denkt! Ihren Chef wird sie nicht ändern, aber bei sich selbst hat sie freie Hand – und genau das ist es: Sie muss ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Dazu könnte ihr in der wohligen Stille des Duftbades eine ganze Menge einfallen.
Zum Beispiel, wie sie den Mut aufbringt, in Zukunft höflich, aber deutlich mit ihrem Chef zu kommunizieren. Das lässt sich gleich in der Badewanne üben: „Lieber Herr Doktor, Sie sind ein tüchtiger Arzt, weshalb Sie genau wissen, dass man bei einer Zahnreinigung gründlich vorgehen muss und nicht bloß aufs Tempo drücken darf. Also bitte hetzen Sie mich nicht. Ich mache meine Arbeit so gut ich kann, damit unsere Patienten zufrieden sind!“ Natalia probt diese Sätze einige Male und lächelt vor sich hin: „Na, da wird der Chef aber verblüfft sein, wenn ich so offen mit ihm rede …“
Möglicherweise wird sich die Angst trotzdem wieder bei ihr melden, aber wenn sie in der Stille weiter nach dem Wesentlichen sucht, könnten ihr auch dazu wundersame Gedanken in den Sinn kommen: „Ich weiß, bei den Überstunden ist er beinhart. Aber seine Praxis ist wirklich gerammelt voll, und er arbeitet selbst bis in die späten Abendstunden hinein …“ Sie hat keine Wahl. Oder doch? Wenn man einen Sachverhalt nicht ändern kann, kann man immer noch die...