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E-Book

Hitlerzeit im Villgratental

Verfolgung und Widerstand in Osttirol

AutorJohannes E. Trojer
VerlagHaymon
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783709937600
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Das Villgratental - Nationalsozialismus im Brennglas. Von Widerstand und Verfolgung, vom Alltag der NS-Zeit Denkt man an die Gräuel des NS-Regimes, sind häufig Großereignisse wie etwa die 'Reichskristallnacht' in München oder 'Institutionen' wie das KZ Auschwitz sehr präsent. Doch auch im ländlichen Raum hatte Hitlers Herrschaft drastische Auswirkungen. Johannes E. Trojer, hat in mehreren Texten zum Nationalsozialismus dessen Auswirkungen und Verbrechen in Osttirol, vor allem im Villgratental, dokumentiert. Auch in der Enge abgeschiedener Täler regte sich Widerstand gegen die Verbrechen des Nationalsozialismus. So gab es zum Beispiel in Innervillgraten in Osttirol bei der Volksabstimmung über den Anschluss 1938 österreichweit den niedrigsten Prozentsatz der Zustimmung. Und vor allem im Kleinen spielten sich beeindruckende Szenerien ab. Trojer berichtet unter anderem vom Innervillgratner Bauern Vinzenz Schaller, der 1940 den militärischen Eid auf Hitler verweigerte und daraufhin im Gestapo-Gefängnis Berlin Moabit und später im Konzentrationslager Dachau inhaftiert wurde. Systematisch erhebt Trojer außerdem Daten und Opferzahlen und leistet damit wichtige Pionierarbeit. Er beschäftigte sich auch mit den Nachwirkungen des Nationalsozialismus, der für ihn keineswegs ein abgeschlossenes Ereignis darstellte. Trojer: Beobachter, Chronist und Heimatforscher Den Publizisten, Volkskundler, Schriftsteller und Gesellschaftskritiker Johannes E. Trojer zeichnet vor allem seine genaue Beobachtungsgabe aus. In diesem Buch erzählt er von Bauern, die ihre Stimme gegen das Regime erhoben, von Dorfbewohnern, die für ihre Überzeugung im Konzentrationslager endeten, und von Männern, die lieber in den Tod gingen, als für Hitler zu kämpfen. Schonungslos und exakt beschreibt er die Auswirkungen des großen Grauens, die durchaus exemplarisch verstanden werden können. Er scheut sich dabei nicht, Tabuthemen offen anzusprechen.

Johannes E. Trojer, geboren 1935 in Außervillgraten, gestorben 1991 in Innervillgraten, lebte, arbeitete und wirkte im abgelegenen Osttiroler Villgratental. Er verfasste volkskundliche, journalistische und literarische Beiträge sowie Rezensionen und bleibt in Erinnerung als großer Publizist, Kenner der Regionalgeschichte und Volkskunde, als Gesellschaftskritiker und als Herausgeber der Kulturzeitschrift Thurntaler. Die Gesamtausgabe seiner Werke erschien 2011 bei Haymon.

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Leseprobe

„Wir haben viele rote und schwarze Juden“


Antisemitismus in Osttirol


Ein Wunsch geht in Erfüllung


Der jüdische Kaufmann Samuel Bohrer, aus Polen gebürtig, hatte sich mit seiner Frau Agnes 1921 [richtig: 1912] in Lienz niedergelassen und dort zwei gutgehende Textilgeschäfte eröffnet. Noch im März 1938 wurde das Ehepaar unter der fadenscheinigen Anschuldigung von Devisenvergehen verhaftet. Da dieser Vorwand für eine längere Haft nicht zureichte, verhängte die Gestapo kurzerhand Schutzhaft. Unter solchen Umständen sahen sich die beiden genötigt, auf ihr gesamtes ansehnliches Vermögen im Inland mit Ausnahme eines Reisegeldes nach Palästina einfach zu verzichten. Der gesamte Besitz wurde zugunsten der NSDAP eingezogen. Die Stadt Lienz erhielt davon ein Grundstück für einen NS-Kindergarten. Die zwei Geschäftsläden hatte das Ehepaar schon vorher an zwei seiner Angestellten verkauft.

In diesem Fall sind die Betroffenen vergleichsweise glimpflich davongekommen, wenngleich nicht bagatellisiert werden darf, daß auch so bereits infames Unrecht geschehen war. Das kinderlose Ehepaar Bohrer ist im August ausgewandert, so blieb ihm die Reichskristallnacht vom 8./9. November 1938 erspart. Nichts spricht dafür, daß sich nicht auch in Lienz Mitglieder der SA und HJ hätten aufhetzen lassen, gegen jüdisches Gut und Leben womöglich blutig vorzugehen. Der ungewöhnlich frühe Zugriff auf „nichtarisches“ Vermögen in Lienz könnte dem Ehrgeiz von Parteigenossen der ersten Stunde zuzuschreiben sein; auch mochte die „arische“ Kaufmannschaft dahin gewirkt haben, diese Konkurrenz zu liquidieren.

Offensichtlich war damit schon ein Wunschziel der örtlichen Nazis erreicht, nämlich nicht nur Lienz, sondern ganz Osttirol für „judenrein“ erklären zu können. Ähnlich zielgerichtet übrigens waren fanatische Nationalsozialisten hinsichtlich der Klöster. So soll der damalige Direktor der Lienzer Mädchenhauptschule, zugleich Kreispropagandaleiter der NSDAP, Hans Oberdorfer (1985 in Lienz verstorben) ungeniert geäußert haben, er freue sich auf jenen Tag des Triumphes, wenn die letzte Nonne an einem Ast baumeln wird.

„Die gottgewollte Rasse“


Über den bekannten Sachverhalt von Antisemitismus ohne (die Anwesenheit von) Juden brauche ich mich hier nicht zu verbreiten. Osttirol betreffend wird man sagen können, daß der Antisemitismus weder stärker noch geringer war und ist als in anderen vergleichbaren Gebieten. Der rassische Antisemitismus wurde erst von den Nationalsozialisten hereingebracht. Er fand allerdings selbst bei der bäuerlichen Bevölkerung unschwer ein gewisses „Verständnis“, insofern der Bauer als Viehzüchter durch sein Standesblatt wie von der landwirtschaftlichen Fachschule in Rassefragen einigermaßen eingeschult war. Der ehemalige Nationalratsabgeordnete Franz Kranebitter (Bauer in Oberlienz) nannte seinerzeit das Pinzgauer Rind die für Osttirol „gottgewollte Rasse“.

Die plumpe Gegenüberstellung von ausgesuchten und vorteilhaft fotografierten „nordisch-germanischen“ Typen zu ausgesuchten, unvorteilhaft aufgenommenen Polen, Russen, Juden, Zigeunern in NS-Publikationen durchschaute man ebensowenig wie die ständigen und bis in die Lokalpresse lancierten Hetzartikel. Der lesende Bevölkerungsteil freilich war schon früher mit dieser Thematik vertraut geworden, nicht zuletzt durch die allenthalben dilettierenden Rassekundler, die sich wissenschaftlich seriös zu geben versuchten. Reisejournalisten pflegten seit der Zweithälfte des 19. Jahrhunderts Volkstypen somatologisch zu charakterisieren und Merkmale für Höher- und Minderwertigkeit herauszustellen. So galten die Kalser im osttirolischen Großglocknerdorf ganz allgemein als besonders großgewachsener, blonder Volksschlag. Dabei haben die Verfasser fleißig voneinander abgeschrieben; es hat sich sozusagen herumgesprochen, die Kalser seien reinrassige Germanen. Einer ernsthaften Prüfung hält diese Klassifizierung natürlich nicht stand. Wenn man schon nach den ethnischen Wurzeln spekulieren will, muß man im Kalser Tal zumindest auch den nicht unerheblichen Anteil slawischer und romanischer Geländenamen beachten.

„Endlich ein echtes deutsches Mädel“


Wenn der spätere Kreisleiter Erwin Goltschnigg bei der Schulinspektion 1938/39 in Außervillgraten nach Betreten der oberen Klasse unvermutet entzückt „endlich ein deutsches Mädel!“ ausruft, weil er in einer Bank die flachsblonde Anna Kraler entdeckt hatte, muß dies auch bei den Kindern einigen Eindruck gemacht haben. Für breite Bevölkerungskreise war es gewiß verfänglich, sich quasi dank der NS-Ideologie plötzlich zu einem höherwertigen Menschentum gezählt zu wissen, einer „Herrenrasse“ anzugehören. Es war fatal genug, wenn sich eine Nation in den Glauben verstieg, das von der „Vorsehung“ zur Weltherrschaft auserwählte Volk zu sein. Auch darin beruht jene furchtbare Konsequenz, mit der die Nazis die Juden, die als „das auserwählte Volk“ jahrhundertelang verachtet und bespöttelt worden waren, vernichteten.

Den Folterknechten die Augen ausgestochen


Der religiös begründete Antisemitismus war selbstverständlich auch in Osttirol am weitesten verbreitet. Kraft seiner langen Tradition ist er selbst dem ungebildeten, unbelesensten Katholiken in Fleisch und Blut eingegangen. Er war wie eine Art Glaubensrichtung in den Predigten und in Religionsunterricht irgendwie immer präsent.

Die sakrale Kunst von der Spätgotik bis zu den Nazarenern dokumentiert besonders in den Passionsszenen Christi die den Juden zugeschobene Rolle der Schergen und Folterknechte, ebenso wie der Text von Passionsspielen des Barock. Bekannt sind die sogenannten „Grüftljuden“ von Oberlienz, das sind lebensgroß geschnitzte barocke Figuren, die einige Kreuzwegstationen vorstellen und sich in der Gruftkapelle befinden. Gleichartig drastische Darstellungen sind in Winnebach zu sehen, wenn man die Stationskapellen am Weg zur Kirche hinauf besichtigt. In Kalkstein gab es bis vor kurzem eine alte Bauernstube, wo die Getäfeltafeln mit den 14 Kreuzwegstationen bemalt waren. Die Kinder hatten sich den Spaß gemacht, in den Ölgemälden allen „Juden“ die Augen auszustechen.

Altvertraut, gleichsam volkstümlich war auch das Motiv des feilschenden Schacherjuden. Das Gsieser Nikolausspiel enthält eine Szene, in der ein „Jude“ seine typischen (diskriminierenden) Eigenschaften – verschlagen, betrügerisch, geldgierig – auszuspielen hatte. Zu diesem älteren Topos des Handelsjuden trat dann mit der Gründung politischer Parteien der Kultur- und Zeitungsjude.

Der politische Antisemitismus der Deutschnationalen, der Konservativen und Christlichsozialen diente der Durchsetzung parteipolitischer Interessen und Ziele. Die Verteufelung der Sozialdemokraten, der Liberalen, der Demokratie und des Parlamentarismus erfolgte auch mit dem Etikett „verjudet“. Was in Osttirol an Zeitungen bezogen und gelesen wurde, war größtenteils katholisch-konservativer Herkunft. Die Jahrgänge der christlichsozialen „Brixner Chronik“, der gleichgestimmten „Lienzer Nachrichten“ (seit 1911), des konservativen „Tiroler Volksboten“, der „Tiroler Bauernzeitung“ usw. enthielten in fast jeder Ausgabe Artikel mit antisemitischen Ausfällen. Als „verjudet“ galten die zeitgenössische Kunst wie die fortschrittliche Presse. Konservativ-religiöse Kreise sahen schließlich in allem kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt das verderbliche Walten eines ominösen Judentums. Von da war der Schritt, an eine „jüdische Weltverschwörung“ zu glauben, nicht mehr weit.

In den Dörfern gab es früher wenige Zeitungsleser, aber die wenigen waren meinungsbildend. Dazu gehörten neben einigen aufgeschlossenen, wirtschaftspolitisch interessierten Bauern und Gastwirten nicht zuletzt die Geistlichen und Lehrer. Das Volk war rezipient und durchaus orientierungsbedürftig. Wie sehr hiebei antisemitische Töne an der Tagesordnung waren, läßt sich freilich nicht rekonstruieren. Aber der Boden muß weit und breit präpariert gewesen sein, wenn 1938 das Vorgehen der Nazis gegen die jüdischen Mitbürger so viel stille und laute Zustimmung erfahren hat. Wie beifällig geriert sich doch der Ortsberichterstatter von Leisach bei Lienz: „Besonders gefällt uns, daß nun endlich mit dem Israelitenvolk aufgeräumt wird“. Die Diktion läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. In derselben Nummer der „Tiroler Bauernzeitung“ vom 2. April 1938 schreibt der Ortsberichter von Görtschach-Gödnach, einer Ortschaft der Gemeinde Dölsach, launig so, daß mit dem Wort „Jude“ der politische Gegner schlechtweg abqualifiziert war: „Nun ist unser Pufferstaat Österreich zu Ende gegangen. Unsere Machthaber haben uns mehr gepufft als das Ausland, denn wir haben viele rote und schwarze Juden. Gegen die waren wir ohnmächtig, nun ist der Retter gekommen“. Ich zitiere nur noch einen Satz aus demselben Blatte vom 13. April, der das bäuerliche Wirtschaftsinteresse anging: „Das braucht wahrhaftig keinem Bauern erst gesagt zu werden, daß ihm der Umgang mit Juden stets und in jedem Falle Schaden bringt“. Die unzähligen antijüdischen Hetzartikel allein in der Bezirkszeitung „Der Deutsche Osttiroler“ und der nachfolgenden „Lienzer Zeitung“ von 1938–1945, eben auch unter der Redaktion Bruno Ewald Reisers, der jetzt als alter Mann im „Osttiroler Bote“ rührselig verbrämte Artikel veröffentlicht, überschlage ich, ohne auf sie einzugehen.

Spurenlesen versuchen


Wie ist es heute um den Antisemitismus im Bezirk Lienz bestellt? Ich bedenke, was ich diesbezüglich bemerkt oder gehört habe und wie ich es beurteile. Zum Beispiel in betreff des...

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