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Der Oman Desert Marathon war mein erster Ultra-Marathon. Das Rennen verläuft knapp 165 km durch brennendheißen Wüstensand. Eigentlich wollte ich ja gar nicht daran teilnehmen. Die Idee kam auf, als mich ein Redakteur der Financial Times kontaktierte und fragte, ob ich einen Artikel darüber schreiben würde. Meine erste Antwort damals war ein klares „Nein“.
Wenn es ums Laufen geht, habe ich mich immer irgendwie als Puristen gesehen. Als einen Menschen, der gleich viel Bewunderung für jemanden empfindet, der für die Meile unter vier Minuten benötigt, wie für jemanden, der rund um die Welt läuft. Um rund um die Welt zu laufen, benötigt man Entschlossenheit, Verbissenheit, gute Vorausplanung und jede Menge Freizeit. Aber um schnell zu sein, wirklich schnell, dazu braucht es Können, Engagement und ein spezielles Talent, das über viele Jahre hinweg trainiert werden muss. Athleten wie Mo Farah, David Rudisha oder Eliud Kipchoge in voller Fahrt zu sehen, war reine Poesie – menschliche Anstrengung kombiniert mit unglaublicher Grazie, Balance und Kraft. Es war Laufen in seiner schönsten Form.
Ultra-Running hingegen war so, als drösche man so lange auf das Laufen ein, bis es fast tot war. Rucksäcke, Stöcke, Verpflegung, Stirnlampen – das alles machte es nur noch umständlicher. Es wurde zu etwas anderem. Bewundernswert und mutig, sicherlich. Verrückt und geisteskrank, möglicherweise. Aber mit Laufen hatte das nichts mehr zu tun.
Innerlich ärgerte es mich immer, wenn Leute, die mich aufs Laufen ansprachen, mehr von der Distanz, die ich gelaufen war, beeindruckt waren als von meiner Zeit. Für mich war die Länge der Strecke irrelevant, wenn man nicht wusste, wie schnell man gelaufen war. Meiner Meinung nach konnte so ziemlich jeder Jogger oder sogar Spaziergänger lange Distanzen zurücklegen, wenn er es nur wollte. Das war jetzt kein besonderer Verdienst.
Eines schönen Tages, ich holte mir gerade eine Tasse Kaffee im Londoner Büro, sprach mich ein Kollege, der wusste, dass ich gerne lief, auf das Thema an.
„Du läufst doch Triathlons, oder?“, fragte er.
„Nein“, antwortete ich.
„Oh. Ultra-Marathons?“
„Nein“, sagte ich. Er sah verwirrt drein.
„Also nur Marathon?“, sagte er.
Einen Marathon zu laufen war früher einmal eine ganz große Sache. Die Leute ließen sich leicht damit beeindrucken. Manchmal fragten sie sogar nach der Zeit, die man gelaufen war, und wenn diese unter drei Stunden lag, konnte man sehen, wie sie beeindruckt ihre Augenbrauen hochzogen. Aber diese Kaffeepausenmentalität, bei der man gerne den Kopf über die Verrücktheiten anderer schüttelt, bei der man dieses erstaunte „Verdammt, das ist ja komplett irre, na besser du als ich“ erwartet, sich jedoch nicht in irgendwelchen Details verlieren möchte, hat sich inzwischen an viel extremere Dinge gewöhnt. Marathons sind nur mehr kleine Fische. Es scheint, als wären wir im Zeitalter des „Es ist ja nur ein Marathon“ angekommen. Heute muss Laufen schon mit der protzigen Vorsilbe „Ultra“ daherkommen. Hundertsechzig Kilometer durch die Wüste? Wow. Das beeindruckt wirklich jeden.
Jeden außer mich, anscheinend. Immer wenn ich mir ein Video auf einer dieser Ultra-Laufseiten im Internet ansah und sah, wie die Läufer zum Teil nur mehr gingen, tat mir das Herz weh. Ich erinnere mich an einen Blog namens Das A bis Z des Ultra-Running und unter G war zu lesen: „Gehen: eine Art sich fortzubewegen, die selten Anerkennung findet, jedoch oft bei Ultra-Marathons zum Einsatz kommt. Um unser Gesicht einigermaßen zu wahren, nennen wir es ‚Powerhiking‘.“
In meiner Welt schneller 10.000-Meter-Läufe und dienstäglichen Laufbahnsessions mit meinem Leichtathletik-Club beeindruckten Ultra-Marathons – das heißt Rennen über der Standarddistanz von 42,195 km – nur Leute, die absolut keine Ahnung vom Laufsport hatten. Aber ich hatte eine Ahnung vom Laufen. Also sagte ich auch nein zu dem Oman-Job.
Es war dann allerdings Marietta, meine Frau, die mich dazu brachte, doch noch einmal darüber nachzudenken.
„Sag, zahlen die meisten Leute nicht einen Haufen Geld dafür, um an solchen Rennen überhaupt teilnehmen zu dürfen?“, meinte sie. „Und dich würden sie sogar dazu einladen, dort zu laufen. Ich dachte, du läufst so gerne?“
Sie hat recht. Eine Teilnahme an solch großen mehrtägigen Etappenrennen ist nicht billig. Dazu kommt auch noch die Ausrüstung. So ein Rennen kostet einiges an Geld und viel Zeit weg von zu Hause und der Arbeit. Warum also machen Leute so etwas? Sicherlich nicht nur, um damit ihre Arbeitskollegen in der Kaffeepause zu beeindrucken.
Es war zwar nicht meine Art von Rennen, doch je mehr ich darüber nachdachte, was alles damit zusammenhing, desto mehr wurde mir bewusst, dass quer durch die Wüste zu laufen ein unglaubliches Abenteuer wäre, schon allein der Erfahrung wegen. Draußen unter den Sternen zu schlafen, hundertfünfundsechzig Kilometer Wildnis aus eigener Kraft zu durchqueren. So gesehen hörte sich das ganze eigentlich sehr verlockend an, ja geradezu genial. Ich schob meinen inneren Lauffreak für einen Moment beiseite. Das wäre die Gelegenheit, eins mit der Natur zu werden, mit dem Planeten, und Zeit draußen in der Wildnis zu verbringen. Wer kann schon sagen, was da auf mich zukäme und welche Erfahrungen da draußen unter der gleißenden Sonne auf mich warteten. Vielleicht käme ich ja als neuer Mensch zurück. Und außerdem verlöre ich ja dabei wohl kaum Fitness für mein „richtiges“ Laufen. Nach meiner Rückkehr wäre ich in der Form meines Lebens. Win-win könnte man sagen. So rief ich also den Redakteur zurück.
„Ich weiß, das hört sich ziemlich krank an“, sagte er. „Das Ganze geht über sechs Tage, aber du kannst ja nach zwei oder drei Tagen aufhören, wenn du willst.“
Oh nein, ganz oder gar nicht war nun die Devise. Auf einmal war ich wie besessen von dieser Idee, immer weiter zog sie mich in ihren Bann. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, sich einer solchen Herausforderung zu stellen und sie irgendwie zu meistern. So schwer könnte das für einen richtigen Läufer wie mich doch nicht sein.
Es war ein Uhr morgens, als der Flug mit mir und etwa zehn weiteren Läufern an Bord – inklusive dem deutschen Paar Gudrun und Hansmartin, die ich bereits im Flugzeug kennengelernt hatte – in Muscat ankam. Eigentlich dachten wir, dass man uns bereits erwartete und direkt in unser Hotel brächte. Umso verärgerter war ich dann, als der Veranstalter, der uns am Flughafen empfing, meinte, dass wir hier auf den Bus warten müssten, dieser aber erst um neun Uhr käme.
„Wartet einfach da in dem Café“, bemerkte er flapsig, ganz so, als ob ein Kind ihm eine lästige Frage gestellt hätte. Sein Englisch war auch nicht gerade das Beste und ich fragte mich, ob ich ihn nicht vielleicht missverstanden hätte.
„Im Café warten? Für acht Stunden?“, fragte ich nach, wobei ich meine Stimme wohl etwas zu viel erhob. Das konnte wohl nicht sein Ernst sein. Vor uns lag ein 165-Kilometer-Marathon durch die Wüste. Wir brauchten unsere Erholung. Doch er zuckte nur mit den Achseln, zog seine Kappe tiefer ins Gesicht und gab vor, mich nicht zu verstehen.
Ich war knapp davor, ihm zu sagen, dass ich von der Financial Times sei und er mit uns nicht so umgehen könne. Um mir etwas moralische Unterstützung zu sichern, drehte ich mich jedoch erst zu meinen Mitstreitern um. Aber da war niemand mehr. Nur noch die leere Ankunftshalle. Wo waren die alle hin?
Als ich schmollend davontrabte, bemerkte ich, dass, während ich die ganze Zeit auf Rumpelstilzchen gemacht und lautstark protestiert hatte, die anderen Läufer – nachdem sie von der Verzögerung gehört hatten – ruhig ihre Schlafmatten und Schlafsäcke hervorgeholt und sich in der Ankunftshalle einen Platz zum Schlafen gesucht hatten. Einen Moment lang stand ich verwirrt da. Wussten die etwas, das ich nicht wusste? Oder war das so ein Ding bei Ultra-Läufern, alles einfach so hinzunehmen?
Schlussendlich kam der Bus dann drei Stunden früher als erwartet und brachte uns alle in eine komfortable Hoteloase in einem engen Tal, umgeben von berghohen Dünen. Die Reaktion der anderen Läufer auf diesen kleinen Vorfall war jedoch etwas, an das ich die nächsten Jahre immer wieder denken sollte, als ich ein verrücktes Ultra-Rennen nach dem anderen bestritt.
Die Dünen rund um die Hoteloase waren so hoch, dass man darauf mit Snowboards hätte fahren können, aber die Einheimischen bevorzugten es, sie mit ihren auf Hochglanz polierten Geländefahrzeugen immer wieder auf und ab zu fahren. Im Gegensatz dazu verwendeten wir Läufer da natürlich unsere Beine, als wir alle nacheinander aus den Zimmern...