Kapitel 1
»Zuhause in der Bergarbeiter-Kolonie!«
Aufgewachsen bei den Großeltern
Mein Leben begann schon früh turbulent und ungewöhnlich. Das empfand ich aber als Kind nie so, weil meine Mutter und meine Großeltern immer für mich da waren, wenn ich sie brauchte. Wenn ich das Wort »Heimat« höre, denke ich an Pölfing-Brunn, den kleinen Ort in der Steiermark, in dem ich bei meinen Großeltern aufgewachsen bin und in dem meine Mutter lebt.
Am 13. Februar 1972 brachte sie mich in Innsbruck in einer Klinik zur Welt. Als ich ihr in die Arme gelegt wurde, war sie glücklich und stolz – auch wenn sie alleine war. Mein Vater hatte sich bereits aus dem Staub gemacht, als meine Mutter noch gar nicht wusste, dass sie schwanger war, und ihre Eltern lebten nahe der Grenze zu Slowenien, viele Kilometer entfernt.
Bei meiner Geburt war meine Mutter 20 Jahre alt. Sie hatte nach der Schule eine Ausbildung zur Kellnerin gemacht. Weil die Arbeitsbedingungen auf dem Land in der Steiermark ebenso schlecht waren wie die Bezahlung, beschloss sie, »auf Saison« zu arbeiten. Sie bewarb sich bei Gasthöfen und in Hotels in Orten, die in den Sommer- oder Wintermonaten beliebte Ferienziele waren und blieb dort die ganze Saison über. Hier konnte sie neben einem ordentlichen Lohn zusätzlich mit guten Trinkgeldern rechnen. Sie arbeitete an unterschiedlichen Orten, den Sommer in Süddeutschland, den Winter in der Schweiz.
So kam sie dann auch nach Innsbruck, das sie von Beginn an liebte. Auch hier fand sie schnell neue Freunde, und eines Tages, als sie an ihrem freien Abend mit Kolleginnen ausgegangen war, lernte sie in einer Gaststätte einen jungen Landsmann, meinen Vater, kennen. Er kam wie sie aus der Steiermark, sprach den gleichen Dialekt, und damit hatten die beiden schnell eine gemeinsame Basis. Mein Vater muss ein fescher Bursche gewesen sein, der viel Erfolg bei den Frauen hatte.
Auch meine Mutter erlag seinem Charme und ließ sich für kurze Zeit auf ein Verhältnis mit ihm ein.
Dann war der junge Mann ohne jede Ankündigung von heute auf morgen plötzlich verschwunden. Meine Mutter hatte ihn fast schon aus dem Gedächtnis verloren, bis sie ihre Schwangerschaft bemerkte. Sie machte sich auf die Suche nach ihm, fragte Kolleginnen und Kollegen, die ihn kannten, und erkundigte sich nach ihm in Lokalen, die er gerne besucht hatte, aber niemand konnte ihr etwas sagen. Niemand hatte ihn gesehen und niemand wusste, wo er sich aufhielt.
Erst zwei Tage nach meiner Geburt begegnete sie ihm noch einmal. Sie war bereits wieder auf den Beinen und stand in der Klinik im zweiten Stock am Fenster. Unten auf der Straße war eine Baustelle, auf der mehrere Arbeiter beschäftigt waren. Sie sah ihnen bei der Arbeit zu, und plötzlich erkannte sie einen der Männer: meinen Vater.
Sie ging kurz hinunter, sprach ihn an, er schien sich zu freuen und versprach, sich um mich zu kümmern. Dann ging er. Er verschwand – aber so richtig. Er meldete sich nicht mehr und kümmerte sich weder um meine Mutter noch um mich.
Einmal noch versuchte meine Mutter dann, ihn ausfindig zu machen und zur Verantwortung zu ziehen. Sie wandte sich an das Jugendamt in Innsbruck. Das ließ erst einmal beim Gericht einen Termin ansetzen, bei dem der Richter dann einen Vaterschaftstest veranlassen sollte. Erscheinen sollten dort meine Mutter, mein Vater und ich.
Das Jugendamt hatte an diesem Tag noch eine zweite junge Frau vorgeladen, die zusammen mit uns und ihrer kleinen Tochter vor dem Gerichtssaal wartete. Und wie man schon ahnen kann: Bei beiden Frauen ging es um denselben Mann.
Mein Vater hatte es jedoch vorgezogen, nicht zu erscheinen. Auch die weiteren Versuche des Jugendamts, ihn ausfindig zu machen, blieben ohne Erfolg, und weder meine Halbschwester Alexandra noch ich bekamen von ihm auch nur einen Schilling oder eine Mark Unterhalt.
Als klar war, dass von meinem leiblichen Vater definitiv keine Hilfe zu erwarten war, nahm meine Mutter unser Leben entschlossen selbst in die Hand. Sie hatte eine Arbeitsstelle, an die sie mich fast immer mitnehmen konnte, wir hatten eine kleine eigene Wohnung, später konnten wir uns auch ein kleines Auto leisten. Reich waren wir nicht, aber meine Mutter hat immer gut für mich gesorgt, und ich hatte nie das Gefühl, etwas zu entbehren.
Als ich etwas älter war, ging ich tagsüber in den Kindergarten, und schließlich begann meine Schulzeit. Einige Zeit vorher hatte meine Mutter einen neuen Mann kennengelernt, der bald darauf bei uns einzog. Der neue Freund meiner Mutter war ein sehr attraktiver freundlicher Mann. Doch wenn er getrunken hatte, suchte er Streit und wurde schnell handgreiflich. Auch gegenüber meiner Mutter, der einige Male kein anderer Ausweg blieb, als die Polizei zu rufen. Zweimal griff er sogar die Polizisten an, die ihn deshalb abführten und auf die Wache brachten, wo er seinen Rausch ausschlafen konnte.
Als der Freund meiner Mutter eines Tages wieder einmal betrunken nach Hause kam, besonders aggressiv wurde und versuchte, sie zu schlagen, flüchtete sie zusammen mit mir vor ihm ins Auto, das vor dem Haus stand. Ich werde nie vergessen, wie er zunächst an der verschlossenen Wagentür rüttelte, sich dann drohend vor das Fahrzeug stellte und uns daran hinderte, loszufahren.
Auch wenn er nach solchen Eskapaden regelmäßig schwor, so etwas würde nie wieder geschehen: Meine Mutter hatte erkannt, dass es das Beste war, sich von diesem Mann zu trennen. Als er das aber erfuhr, verlor er restlos die Kontrolle. Die folgenden Tage waren für uns ein einziger Alptraum, der nicht enden wollte. Meine Mutter sah nur noch einen Ausweg. Sie kündigte fristlos ihre Arbeitsstelle und unsere Wohnung, wir setzten uns ins Auto und fuhren in die Steiermark, nach Pölfing-Brunn zu den Großeltern, die uns erst einmal bei sich aufnahmen.
Als wir Innsbruck und Tirol damals verließen, war ich genau ein halbes Jahr lang in die erste Klasse der Innsbrucker Volksschule gegangen.
Pölfing-Brunn, das für die nächsten Jahre meine neue Heimat werden sollte, ist eine kleine Bergbau-Gemeinde ganz im Westen der Steiermark nahe der Grenze zu Slowenien, das damals noch ein Teil von Jugoslawien war. Auch mein Großvater hatte im Bergbau gearbeitet, und deshalb hatten meine Großeltern eine günstige Zwei-Zimmer-Wohnung in der »Bergarbeiter-Kolonie« zwischen den Dörfern Pölfing und Brunn bekommen. Als die Bergbau-Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts die »Kolonie« für ihre Arbeiter gebaut hatte, galt sie als vorbildliches Symbol des sozialpolitischen Engagements, weil sie den Arbeitern und ihren Familien aus den umliegenden Dörfern erstmals einen modernen gemeinsamen Wohnraum zu einer bezahlbaren Miete nahe der Arbeitsstätte bot.
Die »Kolonie« bestand aus Einheiten von je vier nebeneinander liegenden Wohnungen. Jede Wohnung bestand aus zwei Räumen. Dahinter lag noch ein kleiner Schrebergarten mit der Toilette, einem Plumpsklo.
In dieser kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung lebten wir jetzt zu viert. Der Großvater arbeitete hart, bis er bei einem Arbeitsunfall so schwer verletzt wurde, dass ein Teil des rechten Fußes amputiert werden musste. Danach musste er in Frühpension gehen.
Ein Zimmer der Wohnung bewohnte also Großvater Ernst, und im anderen Zimmer stand das Bett von Großmutter Maria, in dem sie zusammen mit meiner Mutter schlief. Ich hatte Platz auf dem Sofa, das daneben stand.
Drei Erwachsene und ein Kind den ganzen Tag zusammen auf so engem Raum – das war nicht einfach und konnte auf keinen Fall ein Dauerzustand sein.
Meine Mutter und die Großeltern beschlossen deshalb, dass ich erst einmal allein bei den Großeltern blieb und in Pölfing-Brunn zur Schule ging, damit meine Mutter in der Schweiz oder in Tirol eine Stelle als Saisonarbeiterin annehmen und wieder Geld verdienen konnte.
Für die Großeltern war es keine Frage, dass ich bei ihnen blieb. Sie hatten neben meiner Mutter ja bereits drei weitere Kinder großgezogen, Mutters Schwestern Renate und Helga und ihren Bruder Ernst. Jetzt war ich eben da, und das war gut so.
Meine Mutter machte sich also auf den Weg zu ihrer neuen Arbeitsstelle. Der Abschied fiel uns beiden sehr schwer. Sie versprach mir, dass sie uns von ihrem ersten Lohn eine Wohnung in der Steiermark suchen würde. Und das Versprechen löste sie auch wirklich ein, als es ihr dann später möglich war. Auf meine Mutter konnte ich mich immer verlassen.
Ich wurde also in Pölfing-Brunn eingeschult. In der Schule war ich nicht nur der »Neue«, mit dem niemand spielen mochte und den die anderen Mädels und Jungen gerne ärgerten. Ich sprach auch den schönsten Innsbrucker Dialekt, den die anderen Steirer Kinder nicht kannten und der ihnen fremd in den Ohren klang.
Meine Großmutter erinnerte sich an eine Geschichte aus dem Religionsunterricht, die sie immer wieder gerne erzählte. Sie zeigt, dass ich mich nur langsam eingewöhnen konnte. Den Unterricht hielt der örtliche Pfarrer ab. Der fragte mich einmal: »Pauritsch, Wolfgang, wann ist das Christkind geboren?«
Ich wusste es nicht und antwortete dem Herrn Pfarrer: »Ich glaube, als diese Frage gestellt wurde, das erste Mal, da war ich gerade in Tirol.«
Diese kleine Geschichte zeigt vielleicht, dass die ersten Wochen Ankommen in der neuen Schule nicht einfach für mich waren, aber ich habe mich durchgeboxt. Mir blieb ja gar nichts anderes übrig.
Geholfen hat mir das Fußballspielen, was schon in Innsbruck meine große Leidenschaft war. Ich war ein guter Spieler – einer, den...