I. DAS ZIEL DER LEHRE
FRITZ: In den Hunderten von Reden an und für in der Welt Lebende ist das erklärte Endziel uneingeschränkt dasselbe wie für die Mönche: Nirvāna.
HANS: Das Nichts?
FRITZ: Nein, nein, nein. Keineswegs »das Nichts«. Das hieße ja, es würde einem Menschen sofort, so wie er jetzt ist, ohne oder gar gegen seinen Willen alles weggenommen, was ihm zurzeit lieb ist, sodass »nichts« mehr von dem für ihn übrig bliebe, bei dem seine jetzt noch vorhandenen Triebe Wohl suchen. Die Nachfolge nach der Lehre des Buddha entlastet ihn nur von dem, was er selber als Leiden im Geist erkennt und schließlich auch im Gemüt empfindet. Selbst das wird ihm nie ohne oder gegen seinen Willen endgültig »weggenommen«. Weggenommen wird ihm überhaupt nichts: Nur was er selber aus geistiger Einsicht in seine Nichtigkeit und Leerheit loslässt, weil es für ihn über der Erfahrung höheren Wohls seinen Reiz verloren hat, schwindet. Das erklärt der Buddha ausdrücklich in M 14. Auf diesem Weg bildet sich der Geschmack des Herzens zu einem immer feineren Empfinden für ein Wohl, das nicht immer wieder im Daseinsbrand verglühen und durch unvorstellbar lange Leiden überdeckt werden muss. Es gibt freilich Menschen, die sich in innerer Weite und Güte eine Lebensform und eine Einstellung dazu erwirkt und gestaltet haben, dass sie während ihrer Dauer – so weit der Blick reicht – mit Rilke [→ 68] sagen mögen: »Hiersein ist herrlich.« Aber wenn sie der Dimension der Wachheit näher kommen, gewinnt auch und gerade bei ihnen ein Geschmack die Oberhand, der alle übertrifft: der »Geschmack der Erlösung«: Nir-vāna – im Pāli nibbāna – heißt nicht »Nichts«, sondern wörtlich »Nicht mehr Wehen« – aber was da zu wehen aufhört, ist nicht ein sanftes Lüftchen, sondern ein Daseinsbrand, mit dem verglichen die Feuerstürme von Hiroshima und Nagasaki Kerzenflämmchen waren: Einzig und allein Nirvāna ist die Heilung von den Leiden des Daseins und damit die absolute, unzerstörbare Freiheit von Leiden und Abhängigkeit, die Unverletzbarkeit, das höchste Wohl, der höchste Heils-Stand, der unzerstörbare, ewige Friede. Was dann bleibt – ewig bleibt, frei von Leiden –, das kann nicht mehr in die Sprache gefasst werden. Das unsäglich befreite, unversehrbare Lächeln mancher Buddhastatuen mag eine ferne, ferne Ahnung davon vermitteln. Einzig und allein vom Weg dazu spricht der Buddha – der aus dem Daseinstraum Erwachte: »Wegweiser nur ist der Vollendete.« [→ 69] Und er spricht darüber nicht nur zu Asketen, sondern auch zu uns in der Welt Lebenden – nicht ausnahmsweise, sondern immer wieder und dann nicht nur andeutungsweise, sondern klar und umfassend. Die Wirkung ist oft so stark, dass mehr als einmal ernsthafte, aktiv im Familien- und Berufsleben stehende Nachfolger hauslosen Pilgern anderer Schulen, ja sogar Mönchen des Buddha, über tiefe Lehrfragen Orientierung geben konnten. [→ 70]
Aus vielen Aussagen geht hervor, dass die meisten Mönche und Nonnen die Lehre nicht erst im Orden kennengelernt hatten, sondern noch im Hausleben. Der Erwachte sagt, dass er die gesamte Lehre, »die am Anfang, in der Mitte und am Ende hilfreiche, sinn- und wortgetreu«, also bis zu ihrem Gipfel, auch den im Haus Lebenden dargelegt hat. Nur so konnten zehntausende in der Welt lebende Nachfolger des Buddha den ersten der noch zu besprechenden Sicherheitsgrade auf dem Heilsweg, den »Eintritt in die Heilsströmung« erreichen, die sotāpatti, auch »Hörerschaft« genannt: eine zumindest blitzaugenblickliche volle geistige Grundanerkenntnis der Lehre – aus Einsicht oder innerer Nähe –, die den irreversiblen Prozess des allmählichen Erwachens aus dem Wahntraum einleitet. So kann man durchaus sagen: Wenn es nur die Lehrreden und Anleitungen für in der Häuslichkeit Lebende gäbe, aber keine einzige der Reden an Mönche und Nonnen überliefert wäre, so wäre das zwar ein ganz schmerzlicher Verlust. Aber es bliebe dennoch möglich, zu einem der inneren Sicherheitsgrade zu kommen, bei denen die Entwicklung zum höchsten Ziel unumkehrbar wird. Die Lehren über das Ziel sind also für Hauslose und für häuslich Lebende im Grunde gleich.
HANS: Verschieden ist also nur der Weg zur Erlösung?
II. DER WEG ZUR ERLÖSUNG
FRITZ: Nicht einmal das: Auch der Weg ist für Hauslose und in der Welt Lebende im Prinzip gleich, nämlich der bekannte achtfache Heilsweg: 1. rechte Anschauung, 2. rechte Gemütshaltung (»Gesinnung«), 3. rechte Rede, 4. rechtes Handeln, 5. rechte Lebensführung, 6. rechtes Mühen, 7. rechte Wahrheitsgegenwart, 8. rechte Einigung. — Dieser achtfache Heilsweg entspricht in seiner Struktur dem Weg, den jeder einschlagen muss, der irgendein Ziel – und sei es das Vordergründigste – erreichen will:
1. Er muss sich eine richtige Anschauung bilden, was er will und was dazu nötig ist.
2. Durch wiederholtes Überdenken und Betrachten muss er dieser Anschauung auch seine Geistes- und Gemütshaltung so anpassen, dass er gern daran denkt.
3. Dem Ziel entsprechend muss er richtig reden und
4. richtig handeln.
5. Er muss, vor allem wenn es ein längerfristiges Ziel oder gar ein Ziel fürs ganze Leben – oder gar für die Ewigkeit – ist, seine Lebensführung und Lebensplanung danach einrichten.
6. Das geht oft seinen bisherigen Gewohnheiten und Neigungen zuwider, deshalb muss er sich mühen und kämpfen, kämpfen vor allem auch darum,
7. Dass er Ziel und Weg gewärtig behält.
8. Und er darf sich nicht verzetteln, sondern muss sich auf das Ziel sammeln.
HANS: Das leuchtet ein, und du sagst, im Prinzip gilt das auch für das letzte Ziel. Jetzt ist mir die Struktur des Weges schon etwas klarer.
FRITZ: Sie wird noch klarer, wenn wir die drei Abschnitte der Heilsentwicklung betrachten:
III. DIE DREI ABSCHNITTE DER HEILSENTWICKLUNG
Schon jedes gewöhnliche Wachstum hat seine gesetzmäßig festliegenden Stadien. Das Ziel der Lehre des Erwachten aber ist das Höchste und Kühnste, was es in der Existenz geben kann: die Überwindung des Leidens, absolute Freiheit und vollkommener Friede auf ewig. Er kann daher nur in gesetzmäßigen, weder austauschbaren noch übergehbaren Entwicklungsstadien gegangen werden.
HANS: Muss man also die Stufen des achtfachen Heilsweges wie eine Treppe hinaufgehen: erst die erste, dann die zweite usw.?
FRITZ: Nein. Nur die drei Abschnitte der Heilsentwicklung – Tugend, Herzenseinigung, Klarwissen – entwickeln sich nacheinander als Stufen, aber nicht der achtfache Heilsweg. Der ist pädagogisch-didaktisch zusammengestellt. Zu deiner Vorstellung, man müsse den achtfältigen Heilsweg wie eine Treppe eine Stufe um die andere hinaufgehen, verleitet das Wort »Stufen«. Der Erwachte spricht aber nicht vom »achtstufigen«, sondern vom von »achtgliedrigen« Weg (aṭṭh’angika magga). Denn es handelt sich um ein organisch zusammenarbeitendes System ineinandergreifender Glieder einer »ganzheitlichen« Therapie für die wahnkranken, leidenden Wesen, nicht um nacheinander abzuarbeitende Stufen. Das ist wie beim Körper: Dessen Funktionen laufen über gesetzmäßig zusammenarbeitende Glieder und Organe. »Stufenweise« ginge das gar nicht: erst die Lunge ganz voll Luft saugen; danach erst die Herzpumpe anwerfen und so viel Blut in die Lunge pumpen, dass sie prall voll Sauerstoff wäre. Inzwischen bliebe die Atmung abgestellt. Dann erst würde der Sauerstoff mit dem Blut je einzeln zu den Organen transportiert. Die müssten danach »Schlange stehen«: Solange nicht das letzte Organ seine Blutration hätte, bekäme das erste keinen Nachschub. Erst wenn keinerlei Sauerstoff mehr im Körper wäre, würde die Atmung wieder angestellt! Das könnte kein Körper überstehen. So wäre es, wenn man die acht Glieder des Heilsweges stufenweise nacheinander abarbeiten wollte.
RUTH: Das ergibt sich ja schon aus dem ersten Glied, der rechten Anschauung. Du hast vorhin gesagt, die Lehre sei zwar nicht ohne Denken, aber nicht mit bloßem Denken allein zu verstehen, sondern Verstehen erfordere innere Wandlungen. Dann kann man ja eine vollendete rechte Anschauung gar nicht gewinnen, wenn man nicht ständig auch an dieser inneren Wandlung arbeitet – und darauf scheinen mir die andern Glieder des Weges hinauszulaufen. Aber das muss man erst wissen, sonst tut man es nicht. Ich sehe zwar noch nicht so recht, wie die acht Glieder des Vorgehens im Einzelnen zusammenhängen, aber ich habe das Gefühl, dass es so ähnlich wie bei einem Getreidehalm mit der Ähre an der Spitze ist: Da ist eigentlich der ganze Halm von Anfang an vorhanden, und die Glieder wachsen nach und nach miteinander eins aus dem andern hervor, von einem bestimmten Wachstumsstadium auch von außen sichtbar.
FRITZ: Genau so ist es. Diese Gesetzmäßigkeiten zeigen sich an den drei großen Abschnitten der Heilsentwicklung. Das kann man im eigenen Leben nachprüfen. In M 44 ist ein Gespräch einer der großen, aus dem Fiebertraum des Daseins erwachten Nonnen, Dhammadinnā, mit ihrem im Haus verbliebenen einstigen Ehemann Visākho über die Struktur des Wegs zur Heilung vom Leiden überliefert: Visākho fragt erst, was der achtfache Heilsweg ist. Sie antwortet:
»Das ist der folgende achtfache Heilsweg, Freund Visākho: rechte Anschauung, rechte Gemütshaltung, rechte Rede, rechtes Handeln, rechte Lebensführung, rechtes Mühen, rechte Wahrheitsgegenwart, rechte Einigung.« — Visākho fragt weiter: »Ist der achtfältige Heilsweg zusammengestellt – oder aus einem Guss, Ehrwürdige?« — »… zusammengestellt, Freund Visākho.« — »Sind denn die drei...