2. Betrachtungen
Es gibt einen Zenspruch, der besagt: «Im Spurlosen kommt der Weg zu einem Ende!» Zum Spurlosen hin gibt es viele Pfade. Wie unterschiedlich diese auch zu sein scheinen, so finden die eigentlichen Wanderer doch viel gemeinsamen Boden und bekannte Stadien auf diesen gut ausgetretenen Pfaden vor. Diesseits der großen Kluft ist das Gebiet gut erforscht und kann beschrieben werden. Keine echte Überlieferung über den Weg kann «das andere Ufer» beschreiben; sie wird nur in einfachen Analogien darauf hindeuten und es dabei belassen. Sicherheitshalber wird auch davor gewarnt, nicht den auf den Mond weisenden Finger für den Mond selbst zu halten. Aber gerade die Existenz dieser Überlieferungen ist ein Versuch, mit anderen Interessierten gesammelte Berichte über eine Essenz, einen Geist oder ein Prinzip zu teilen, das alles durchdringt.
Uns ist eine Sehnsucht, ein Verlangen angeboren, das nicht abzuleugnen ist. Wohin oder auf was es gerichtet ist, können wir nicht wissen. Aber es drängt uns, ein Bild oder eine Vorstellung davon zu machen, und zwingt uns geradezu, darauf hinzustreben. Dieses vorgestellte «Ziel» kann zwischen einem himmlischen Königreich und einem neuen Auto variieren, ist aber eigentlich ein falsch verstandenes Bild dieses Verlangens, wie es sich in uns reflektiert. Der Energiegehalt des Verlangens scheint dann in dem Bild stecken zu bleiben, das uns jetzt auf schicksalhafte Weise anzieht. «Wenn wir das nur bekommen könnten, dann wären wir glücklich – d. h. erfüllt – für immer!» Dieses Bild drapiert sich wie ein schimmernder Schleier über einen Träger – ein Auto, eine Person, eine Idee. Es mag kurz- oder langlebig sein, aber Erfüllung kann man durch den Besitz nicht finden. Wenn es einmal in unseren Händen ist, wird der Schleier dünner und die Anziehungskraft lässt bald nach. Wonach sich das Herz wirklich sehnt, können wir wegen des Bildschleiers nicht erkennen. Wie die Farben des Regenbogens brechen auch die Bilder das eine Licht und lassen uns nach einer Farbe aus dem Ganzen streben. Diese Jagd nach den Regenbogenfarben wird im Buddhismus als grundlegender Fehler angesehen. Die Auswahl einer Farbe und das Streben danach bedeutet Abtrennung, entfernt und nicht Teil zu sein von dem, was ist. Diejenigen, die diese Kette von Fehlern in Bewegung setzen, sind wir, mit unserem Auslesen und Wählen. Dies führt immer weiter fort in die Entfremdung. Wonach sich das Herz sehnt, ist seine eigene Vollständigkeit, Betrachtung ohne Auswahl, klares Sehen von dem, was ist, das Vielfältige, das eins ist, aber nicht dasselbe!
Wenn wir uns also fälschlicherweise für abgetrennt und allein halten, müssen wir dem Regenbogen hinterherjagen. Das Dilemma liegt darin, dass wir selbst keine Ganzheit kennen können, jedoch ist das angeborene Streben auf die Ganzheit hin ausgerichtet und erfüllt sich selbst darin. Die Korrektur, die auch das Ende unserer Entfremdung ist, ist das Ende vom Ich, so wie wir uns selbst kennen.
Unsere nach außen gerichtete Kultur scheint zunehmend unter dieser einseitigen Richtung zu leiden, und was auch immer vage als Korrekturbewegung aufgefasst wird, ist lediglich ein Umschwung in das entgegengesetzte Extrem und ebenso einseitig. Die Ganzheit ist jedoch allumfassend. Es ist auch eine enorme Kraft, die anzieht – ebendieses Verlangen und Sehnen, das uns keinen Frieden lässt. Wir kommen nicht umhin uns anzustrengen. Wenn wir aufhören können, von ihm Götzenbilder zu erstellen oder es außerhalb in Bildern zu suchen, werden wir uns seiner Wirkung in uns selbst bewusst. Im Diamantsutra warnt der Buddha: «Wer mich in Bildern sucht, nach mir im Klang forscht, dessen Schritte geraten auf Abwege, und er kann den Tathagata nicht sehen.»
Jedoch leiden wir, wenn wir keine Bilder herstellen, unter dem Mangel an Erfüllung, unter einer allgemeinen Unzufriedenheit; wir werden uns der Unruhe in uns und unserer Zeit bewusst, oder wir wachen in den frühen Morgenstunden durch ein leises Stimmchen auf, das uns zuflüstert, dass etwas fehlt, und uns zur Entfaltung drängt, auf innerliches Wachstum zu.
Wir sind westliche Menschen und unser Zeitalter ist areligiös. Wir verstehen die religiöse Sprache nicht mehr, nicht einmal unsere eigene – noch weniger, wenn sie durch Symbole und Begriffe ausgedrückt wird, die unserer Mentalität fremd sind. Deshalb ist eine behutsame und sensible Annäherung ratsam. Hierfür kann die Analytische Psychologie C. G. Jungs äußerst hilfreich sein, was in einem späteren Kapitel ausführlicher behandelt wird. Sie dient wie ein reflektierender Spiegel unserer eigenen Mentalität mit deren grundlegenden Annahmen, befasst sich mit unseren eigenen alltäglichen Problemen und Schwierigkeiten und weist einen Weg von dort heraus. Sie bietet dabei ein Mittel an, eine fremde Sprache zu dekodieren in das, was bekannt und in der menschlichen Erfahrung konstant vorkommt, daher auch in unserer eigenen, und übersetzt es aus der Verwunderung des Exotischen und Seltsamen in gebräuchliche heimische Vertrautheit.
Die traditionelle Form des Zentrainings ist vielleicht eine ideale Ergänzung für unseren kopflastigen, rein intellektuellen Ansatz. Es besteht darauf, dass der Körper einbezogen wird, dass man mit dem Körper im Alltag übt. Seine konkreten Trainingsanalogien führen allmählich zu einem Bewusstsein über die Trockenheit der mentalen Gymnastik und der intellektuellen Akrobatik. Damit kommt es zu einer Einsicht, dass das Abstreifen des anwachsenden Ichs Energie freisetzt– wenn wir beispielsweise unseren Willen nicht durchsetzen können und nachgeben müssen. Dies geschieht, wenn wir Konflikte mit uns herumtragen und in vollem Bewusstsein erdulden, ohne sie abzuweisen oder vor ihnen zurückzuscheuen. Dabei darf die menschliche Eigenschaft der Sanftheit nicht verloren gehen. In extremer Ausprägung zeigt sich dies in der Passion Christi. Kleinere Leidenschaften sind unsere alltägliche Übungsgelegenheit. Wenn diese immer wieder durchlitten werden, entwickelt sich eine echte Veränderung sowohl des Ichs als auch der entstandenen Energie, für die wir dasselbe Wort im Plural verwenden: «die Leidenschaften». Die Transformation der ungezügelten, leidenschaftlichen Energie ist Gegenstand der Arbeit, des Trainings: Transformation ausgehend von ihrem ursprünglichen Aspekt, wie er uns in unseren wilderen Ausbrüchen begegnet, hindurch zu den subtileren Formen wie rechthaberischem Starrsinn bis hin zu ihrer Humanisierung und von dort aus zum religiösen Pol ihrer Spiritualisierung.
Als Religion bewirkt der Buddhismus einerseits, den Einzelnen in sein kulturelles und soziales Milieu einzubinden, zum anderen macht er ihn anscheinend davon frei, wirklich aber befreit er ihn von all seinen eigenen Attributen und Errungenschaften. Mit dem ersten Aspekt sind wir nicht vertraut; er ist nicht Teil unseres kulturellen Hintergrunds; und es ist heutzutage schwierig für uns, zu begreifen, wie unsere christliche Religion, als wir noch daran glaubten, unser tägliches Leben beeinflusst und geprägt hat. Nur im gängigen Sprachgebrauch finden wir noch Spuren davon, wenn wir nur allzu häufig ausrufen: «O Gott», als ob wir immer noch Zuflucht zu ihm nähmen oder als ob die Liebe zu Gott oder die Furcht vor ihm uns daran hindern könnten, gegen seine Grundsätze zu handeln. In erster Linie ist es der befreiende Aspekt des Buddhismus, zu dem wir uns hingezogen fühlen. Obwohl dieser besonders im Zen-Buddhismus betont wird, bleiben unsere Versuche bezüglich des befreienden Aspektes vergeblich, denn ohne Stütze durch das soziokulturelle Milieu und den Aspekt der Disziplin des religiösen Lebens müssen sie fehlschlagen.
Der Weg befasst sich mit dem Einzelnen, mit dem Ich, denn so erlebt sich das Individuum zu Anfang. Seine Annäherung erfolgt durch ein klar bezeichnetes Territorium. Jedoch zeigen die entsprechenden Karten, dass es zugleich ausgetretene als auch verlockende Pfade gibt, die einfach langsam auslaufen, nirgendwohin führen und den Reisenden festsitzen lassen oder noch Schlimmeres.
Im Buddhismus ist «Ich» eine Täuschung, und diese Täuschung klammert sich an und wird auf fatale Weise angezogen – oder abgestoßen – von allem, was verlockt, verspricht oder leuchtet. In der Täuschung wird das Verlockende des imperativen Dranges zur Ganzheit im schimmernden Katzengold, dem Exotischen, Merkwürdigen, Glatten, Leichten und Schnellen gesehen. Die jungsche Psychologie bietet einem westlichen Menschen einige schlichte, nüchterne Wahrheiten an, die den geistigen Höhenflügen entgegenwirken. Wir tun gut daran, sorgsame Überlegungen anzustellen, wenn wir uns zu einem östlichen Weg wie dem Zen-Buddhismus hingezogen fühlen. Beide Wege betonen, dass Energie, Durchhaltevermögen, Mut und Beharrlichkeit für die Entwicklung erforderlich sind. Beide verfügen über Methoden, Rohmaterial zu verarbeiten und ihm dabei zu helfen, sich als ersten Schritt zu formen und das Wachstum vorzubereiten, wie es die eigene Natur verlangt. In der jungschen Terminologie werden diese beiden Schritte Anpassung und Individuation genannt. Wobei wir ganz nebenbei bemerken mögen, dass der echte Zen-Weg wie die jungsche Individuation keine Behandlung für den Neurotiker darstellen, für den die erforderliche Energie blockiert ist und der geheilt, angepasst werden und sich sammeln muss, bevor er eine weitere Entwicklung in Angriff nimmt, sollte seine Natur danach verlangen.
In weiterem Sinn ist die Anpassung die Entfaltung der Vergangenheit in der Gegenwart, von dem, was ist. Wir können nicht im Gestern leben. Und Entwicklung besteht darin, in die Zukunft hineinzuwachsen, die noch nicht ausgebildet ist – ein unbekanntes Abenteuer. Anscheinend reflektieren diese zwei Vektoren zwei Bewegungen, die unserer dualen Welt innewohnen, also auch uns. Der eine könnte nicht...