Willkommen in der Realität
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Alles Wissen, die Gesamtheit aller Fragen und alle Antworten, ist in den Hunden enthalten.
FRANZ KAFKA
IN WESTFALEN SIND ZEN-MEISTER nicht sehr verbreitet. Wir haben Pickert und Wurstebrei, und auf jeden Einwohner kommen mindestens zwei Pferde und vier Kühe – aber Meditationslehrer sucht man zumeist vergeblich.
Umso glücklicher war ich, als mir eines Tages ein waschechter Zen-Meister begegnete. Zugegeben, ich erkannte ihn nicht gleich, aber seine Verkleidung war auch sehr gelungen … Mittelgroß, mittelbraun, mittelprächtig – Bobba war auf den ersten Blick der gewöhnlichste Hund, den man sich nur vorstellen kann. Und doch war er ein leibhaftiger Buddha, wenn auch ohne Robe und ohne Mala. Vierzehn Jahre durfte ich mit ihm verbringen, in denen er mir jeden Tag eine sehr weise und vor allem einfache Lebenskunst vorlebte, vierzehn Jahre, in denen ich jeden Tag etwas zu lachen bekam und in denen mir dieses wundersame Wesen trotz seines nach Fisch riechenden Atems und seiner Haare, die er großflächig auf der Couch verteilte, ans Herz wuchs.
Als wir uns begegneten, hatte er bereits eine typische moderne Hundekarriere hinter sich. Obwohl er erst eineinhalb Jahre alt war, hatte er schon zweimal im Tierheim gesessen und war von vier verschiedenen Besitzern weitergereicht worden. Zu schwierig, zu dickköpfig, zu erziehungsresistent. Letztlich war er bei einem meiner Freunde abgegeben worden, der aber selbst zwei Hunde hatte, die nicht allzu freundlich auf Bobba reagierten. Und so machte er wie üblich das Beste aus seiner Situation, streunte den ganzen Tag auf den Feldern und Wiesen rund um das Haus umher und freundete sich mit einer Herde Schafe an. Dort verbrachte er seine Tage, hielt die Nase in die Sonne und wälzte sich mit großer Wonne in den Fäkalien seiner neuen Wahlfamilie: »Hey, schnuppert mal – ich bin einer von euch!«
Da sich die Situation zwischen den drei Hunden jedoch immer mehr zuspitzte, fragte mich mein Freund eines Tages in der typisch wortgewandten Art, die Zugezogene so an den Westfalen schätzen: »Willste ’nen Hund?«
Und ich hörte mich selbst antworten: »Warum nicht?«
Damit war das umfassend geklärt, und mein Freund brachte ihn noch am selben Tag vorbei. Ungeduldig wartete ich draußen auf der Straße. Der Hund sprang aus dem Auto, rannte in meine Arme, und auf der Stelle waren wir die besten Freunde. Tim und Struppi, Jeff und Lassie, Charlie Brown und Snoopy, Han Solo und Chewbacca** – alles kein Vergleich zu uns zweien!
Er war einfach perfekt, und es schien mir, als wäre er schon immer mein Hund gewesen. Da war nichts, was ich infrage stellen musste. Von diesem Moment an würden wir für immer zusammen sein und gemeinsam lachend über Blumenwiesen rennen. (Zeitlupe und Weichzeichner müssen Sie sich hier einfach dazudenken.)
Allerdings muss ich zugeben, dass mich sein Geruch aus den Latschen haute. Seine Vorliebe für die Ausscheidungen von Wiederkäuern war ihm überdeutlich anzumerken. Wenn es den sprichwörtlichen Höllenhund tatsächlich gibt, bin ich sicher, dass er genau so riecht und den in der Unterwelt ankommenden Seelen schon mal einen kleinen Eindruck dessen vermittelt, was nun für den Rest der Ewigkeit auf sie zukommt.
Bobbas Fell war verdreckt und mit einem grünlich braunen Matsch verklebt, dessen Herkunft mir schnell klar wurde und bei mir einen unstillbaren Drang nach Wasser und Seife – jede Menge Seife! – auslöste. Aber wie er da so saß, ganz ungeniert und vor sich hin stinkend, erteilte er mir gleich meine erste Gratislektion: »Willkommen in der Realität! So ist es hier. Was für dich stinkt, riecht für mich toll. Es ist so, wie es ist. Mach dir nicht in den Frack!«
Zu dieser Zeit studierte ich noch Philosophie, und ein Großteil meines Lebens fand ausschließlich im Kopf statt. Descartes hatte mich voll im Griff: »Ich mache mir den ganzen Tag Gedanken über irrelevanten Blödsinn, also bin ich.«
Vom ersten Augenblick an lehrte mich dieser wunderbare Hund, dass das Leben aber keineswegs im Kopf stattfindet, sondern genau hier und jetzt, direkt vor unseren Augen. »Da bin ich. Mach was draus!«
So unglaublich es klingen mag: Rückblickend kann ich sagen, dass mich ein nach Schafscheiße riechender Hund davor bewahrt hat, mich in den Untiefen einer lebensunfähigen Philosophie zu verlieren, und mich wieder dazu brachte, Kontakt zur richtigen Welt aufzunehmen.
Da stand ich nun mit meinem neuen vierbeinigen Freund auf der Straße. Ich hatte weder Halsband noch Leine und auch nicht die geringste Ahnung von Hundeerziehung. Noch dazu kam – das wurde mir in diesem Moment siedend heiß klar –, dass ich meiner damaligen Partnerin, mit der ich zusammenwohnte, im Überschwang meiner Vorfreude auf einen Hund keinen Ton davon erzählt hatte, dass wir nun bald zu dritt sein würden. Dementsprechend unterkühlt fiel die Begrüßung aus, als ich mit Bobba die Wohnung betrat und sich sein recht aufdringliches Eau de Toilette in der Wohnung verbreitete. Unsere darauf folgende Diskussion gipfelte in ihrem Satz: »Entweder der Hund geht oder ich!« Tja, das hätte ich an ihrer Stelle nicht gesagt … Schließlich hatte ich mir schon immer einen Hund gewünscht – und einen besseren als diesen gab es doch wohl kaum!
Aber bevor die ganze Situation eskalieren konnte, nahm Bobba das Ruder in die Hand. Er setzte sich vor meine Partnerin und schaute sie an. Minutenlang dieser Hundeblick, der mitten ins Herz trifft. Jeder Hund scheint diesen Blick im Welpenalter von weisen Hunde-Ältesten beigebracht zu bekommen: »Wenn gar nichts mehr geht – probier das!«
Nachdem sich die Situation etwas beruhigt hatte, zündete Bobba die zweite Niedlichkeitsstufe und legte ganz vorsichtig seine Pfote auf das Knie meiner Freundin. Dazu der Blick. Mal eine Augenbraue bewegen, mal die andere.
Eine Stunde später war klar, dass sowohl Hund als auch Freundin bleiben würden. Und nachdem das geklärt war, konzentrierte sich Bobba wieder ganz auf mich. Ich war sein Kumpel, seine Bezugsperson, sein tölpelhafter Lehrling – und bis zum Ende seiner Tage wich er mir nicht mehr von der Seite.
Im Nachhinein kommt es mir vor, als hätte mich dieser Hund durch seine schlichte Präsenz in die Welt hineingezogen, aus der ich mich schon lange verabschiedet hatte. Damals hatte ich begonnen, mich für den Buddhismus zu interessieren – unzufrieden mit der Weltfremdheit der modernen westlichen Philosophie und gelangweilt von Professor Hastig & Co., war ich auf der Suche nach einer Alternative. Doch ich war ein Gewohnheitstier und näherte mich diesen asiatischen Lehren mit der gleichen Kopflastigkeit, mit der ich auch den Rest meiner Studien betrieb. Und stand nicht im Dhammapada, dass wir sind, was wir denken? »Alles, was wir sind, entsteht mit unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken erschaffen wir die Welt.«2
Und sagte der Buddha nicht auch ständig, dass die Welt Illusion sei?
Bobba konnte kein Pali, sodass er mir hätte erklären können, dass die gängige Übersetzung des Dhammapada völlig missverständlich sei, da der ursprüngliche Übersetzer Thomas Byrom eher dem Hinduismus als dem Buddhismus zugetan war und seine Interpretation des Textes von einer hinduistischen Gedankenwelt inspiriert war. Er konnte mir nicht erklären, dass der Originaltext des Dhammapada mit »Alles, was wir sind« und »Die Welt« lediglich mentale Zustände meinte und nur darauf hindeutete, dass unser Geist und unsere Gedanken einen immensen Einfluss auf unsere Befindlichkeit haben.3
Aber große Lehrer erklären auch nichts, sie vermitteln ihre Weisheit vielmehr durch ihr bloßes Sein, dem man – wenn man viel Glück hat – beiwohnen kann. Durch Bobbas ganze Art, sich den Umständen seines Lebens mühelos anzupassen, ohne dass er sich darüber irgendwelche scheinbar tiefgründigen Gedanken machte, wurden mir Dinge klar, die ich erst jetzt – Jahre später – formulieren kann.
Dieser Hund war einfach da. Er war in höchstem Maße präsent und füllte den Platz, den er in der Welt einnahm, mit völliger Selbstverständlichkeit aus. Über die Idee, dass man die eigene Welt kraft seiner Gedanken erschaffe, sie also keine in sich existierende Realität habe, hätte er nur gekichert und sich noch ein getrocknetes Schweineohr gegönnt. Und ebenso hielt es der Buddha – auch wenn er wahrscheinlich auf das Schweineohr verzichtet hätte …
Buddha hat keine ontologischen Aussagen getroffen, sondern lediglich solche psychologischer Art. Wenn er von Illusion spricht, dann meint er nicht, dass die Welt keine Realität besitze, sondern dass unsere Wahrnehmung von ihr verzerrt und in diesem – und nur in diesem – Sinne illusionär sei.
Nun, ich kann Ihnen versichern, dass eine nach Schafscheiße riechende Wohnung etwas sehr Reales hat. Meine Reaktion darauf war allerdings von Illusion geprägt. Mein Urteil, dass es furchtbar stinkt und ich dringend Teppiche und Tapeten erneuern müsse, war eindeutig meiner Abneigung gegen intensive Gerüche zuzuschreiben.
Bobba war da weiser und lebte jenseits der Illusion. Für ihn war der Geruch einfach eine...