Hunger
Wir sollen immer verzeihen: Dem Reuigen um seinetwillen,
dem Reuelosen um unseretwillen.
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Im Vergleich zu damals ist die Wohnung meiner Mutter die Wohnung von besseren Leuten. Gemessen am heutigen Standard ist sie immer noch schlicht. Doch meiner Mutter macht das nichts aus. Sie ist zufrieden, dass sie ein Dach überm Kopf, eine Heizung und fließend warmes Wasser hat.
»Früher hatten wir es nicht so gut«, sagt sie und benutzt das Wort »wir«, weil das Wort »ich« anmaßend wäre. Für die Frauen aus der Generation meiner Mutter gibt es kein »ich«. Ein »ich« braucht Raum zur Gestaltung, den sie nie hatten.
An manchen Tagen und Nächten ist das Hasenbergl noch immer, was es früher einmal war und im reichen München nur beschämt zur Kenntnis genommen wird: ein sozialer Brennpunkt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, ein Wort, das es in vielen Vierteln der Stadt und in anderen Regionen Bayerns gar nicht mehr gibt. Doch da das Land wohlhabend ist, gibt es im Viertel ein dichtes Netz an sozialen Einrichtungen, die den Druck der Straße abfangen und kanalisieren. So ist das Hasenbergl nie ein Berlin-Neukölln oder ein Hamburger Schanzenviertel geworden. Die Schlagzeilen, die man hier macht, schaffen es selten aus der Lokalpresse heraus, auch wenn der nahe Straßenstrich immer wieder für Unmut sorgt und die Bewohner anderer Stadtteile die Nase rümpfen: »Aus dem Hasenbergl kommst? Wie kann man dort nur leben?«
Man kann, man kann sogar gut hier leben, niemand weiß das besser als eine Frau, die seit den Zeiten des Barackenlagers im Viertel wohnt. Vielleicht ist auch deshalb für meine Mutter die Welt nie größer geworden. Während ich nach Paris und Rom reiste, nach New York und Los Angeles, nach Bangkok und Hongkong, blieb ihr Radius auf den Münchner Norden beschränkt. Ich durfte, was ihr verwehrt blieb: Erfahrungen außerhalb des Kampfes ums Überleben sammeln, die Welt in ihrer vielfältigen Schönheit erfahren, das lernen, auf was ich Lust hatte.
Lust. Lust ist ein Unwort, das nichts im Wortschatz meiner Eltern verloren hat. Nicht im Begriff Lebenslust und nicht in der Lust, die zwei Menschen eng miteinander verbindet, sodass sie sagen können: Von jetzt an alles nur noch mit dir. Denke ich über das Wort nach, befällt mich eine tiefe Traurigkeit, denn Lust trennt die Spreu vom Weizen: Menschen mit Lust aufs Leben zetteln keine Kriege an. Menschen mit Lust aufs Leben spüren inneren Frieden. Ihre Lebenslust verschafft ihnen neue Möglichkeiten und öffnet Türen, die den Lebensunlustigen verschlossen bleiben.
Ich weiß, wovon ich rede, denn mir ist es genau so ergangen. Ich war ein lebenslustiges Mädchen, so kam ich auf die Welt. Diese Lebenslust wollte mein Vater aus mir herausprügeln, und fast wäre es ihm gelungen. Andere Männer empfanden meine Lebenslust als Einladung, sich an mir zu vergehen. Sie sorgte dafür, dass mich meine Oma auf offener Straße als Nutte beschimpfte und die Nachbarn als die Hure vom Hasenbergl. Zuhause schlugen sich dieselben Leute die Köpfe ein, wurden ihre Töchter mit dreizehn, vierzehn Jahren schwanger, ohne den Vater des Kindes zu kennen. Doch der Schein einer Ordnung musste stets gewahrt werden. Gerade in Lagern wie dem Frauenholz gibt es die totale nachbarschaftliche Überwachung, lauern Neid und Missgunst an jeder Ecke.
Ich habe mich in meinen Gedanken verloren. Da stehe ich im Wohnzimmer meiner Mutter und habe nicht wahrgenommen, dass sie mir einen Platz anbietet. Setzen soll ich mich, erst einmal ankommen. Sie hat recht. Ich setze mich und beobachte, wie sie Stellung hinterm Bügelbrett bezieht. Offenbar habe ich sie bei der Hausarbeit gestört, was kein Wunder ist, denn meine Mutter ist immer mit Hausarbeiten beschäftigt. Ich frage sie, wie es für sie war, als damals der Playboy mit den Nacktfotos herauskam – Fotos, die man nach heutigem Standard als keusch und verschämt bezeichnen würde. Es war 1977 gewesen, im sogenannten »Deutschen Herbst«, einem Jahr ganz im Zeichen des RAF-Terrors.
»Ganz furchtbar«, antwortet meine Mutter. »Die Nachbarn redeten nur noch darüber, ich konnte gar nicht mehr aus dem Haus gehen.«
Endlich hatten sie was zu reden, die Nachbarn. Da schaffte es eine von ihnen, aus dem Barackenviertel rauszukommen, schon geschah, was geschehen muss: Die Leute zerreißen sich das Maul, wollen den Ausreißer zurückholen. Die innere Bindung ans gemeinsame Los ist zu stark, als dass man eine Fahnenflüchtige dulden könnte. Das war ich in ihren Augen: jemand, der sich gegen sein Schicksal auflehnte, desertierte und deshalb verdammt werden musste. Heute schreibt die Stadt München mit einigem Stolz in ihrem »KulturGeschichtsPfad« zum Stadtteil Feldmoching-Hasenbergl: »Im kinderreichen Hasenbergl sind zahlreiche bekannte Persönlichkeiten aufgewachsen, die sich auch immer wieder in der Öffentlichkeit dazu bekennen, wie der Entertainer Willy Astor oder die Schauspielerinnen Ursula Buchfellner und Dolly Dollar (Christine Zierl) sowie der Schauspieler Günther Kaufmann.« Damals war es anders gewesen: Die Menschen aus dem Hasenbergl wollten sich nicht zu Leuten bekennen, die »bekannte Persönlichkeiten« werden sollten. In der Armut ist Anderssein ein Tabu. Wer es schafft, sich daraus zu befreien, dem haftet der Makel des Verräters an.
Wieder haben sich meine Gedanken selbstständig gemacht. Es muss die Umgebung sein, die Nähe zu meiner Mutter. Hoppla, denke ich, da wird ja noch einiges kommen, wenn jetzt schon, nach ein paar Minuten, meine Erinnerungen Purzelbäume schlagen. Schließlich will ich meiner Mutter keinen Kurzbesuch abstatten. Nein, ich habe viel mehr vor: Ich will jetzt, im Alter von 49 Jahren, für ein paar Monate mit ihr unter demselben Dach wohnen. Ich will morgens aufstehen, wenn sie aufsteht, und zu Bett gehen, wenn sie es tut. In den Stunden dazwischen will ich mit ihr leben, mit ihr sprechen, mit ihr kochen, die Wäsche waschen, bügeln, mit ihr einkaufen. Ich will tun, was uns immer verwehrt geblieben ist: ein liebevolles Mutter-Tochter-Verhältnis pflegen. Das ist meine Absicht, und wenn ich auch weiß, wir planen und Gott lacht, halte ich an ihr fest. Wäre es denn schlimm, wenn es schiefgeht? Vielleicht streiten wir uns. Vielleicht brechen alte Verletzungen auf, damit ist sogar zu rechnen. Vielleicht wird es uns beiden zu eng, vielleicht wird mir die Luft zu stickig, vielleicht stelle ich es mir viel schöner vor, als es in Wirklichkeit sein kann. Doch alle Bedenken sind mir egal, nein, besser gesagt, sie sind mir gleichgültig, im wahrsten Sinne des Wortes: es ist gleich-gültig, was passiert. Was immer geschieht, darf geschehen, denn ich bin gekommen, um ein Experiment mit offenem Ausgang zu beginnen. Ich möchte mit meiner Mutter Versöhnung feiern, und so etwas geht nicht zwischen Tür und Angel. Da reicht ein Kurzbesuch nicht. Echte Versöhnung ist nicht zwischen zwei Schlucken Kaffee möglich. Ich will mir Zeit für sie nehmen, für ihre Ängste und Sorgen, die aus der Vergangenheit und die aus der Gegenwart. Wenn sie sich auch Zeit für meine Ängste und Sorgen nimmt, umso besser. Ich habe mir vorgenommen zuzuhören, das reine und einzig wahre Zuhören: Es funktioniert ohne Kommentierung, es funktioniert ohne Tadel, und es funktioniert ohne Lob. Einfach nur dasitzen in offener Haltung und zuhören – eine fast vergessene Kunst. Es kann viel geschehen, wenn man sie anwendet. Versteckte Türen öffnen sich, und man bekommt Zugang zu Räumen, die bisher im Verborgenen lagen. Meine Mutter gehört zu den Frauen, denen man ein Leben lang nicht zugehört hat: Ihre Männer taten es nicht, wir Kinder auch nicht, die Gesellschaft schon gar nicht. Warum? Haben wir alle geglaubt, dass sie nichts zu sagen haben? Doch nun bin ich bereit, den Fehler zu korrigieren und mein Bestes zu geben. Dazu musste ich erst lernen, dass auch mir keiner zugehört hat, denn schließlich war ich unsichtbar. Das Unsichtbare kann man nicht beschimpfen und nicht schlagen, man kann ihm aber auch nicht lauschen. Ich musste erst sichtbar werden, um gehört zu werden. Nun reiche ich den Kelch der Erkenntnis an meine Mutter weiter: Ich will ihr zuhören und sie damit sichtbar machen. Ich warte ab, bis meine Mutter fragt, ob ich uns einen Kaffee machen kann.
»Du weißt, wo er ist?«, hakt sie nach. »In der oberen Schublade rechts.«
Ich gehe mit einem Lächeln in die Küche. Ich wusste nicht, wo der Kaffee ist, doch nun weiß ich es: in der oberen Schublade rechts. Auf diese Weise werde ich noch sehr viel mehr erfahren. Jede Reise beginnt mit einem ersten kleinen Schritt. Die, die ich begonnen habe, beginnt mit dem Kochen von Kaffee.
***
Später, sehr viel später berichtete mir meine Mutter, wie sie ihr im Kreißsaal das Neugeborene an die Brust legten, aber es nichts gab, woran es sich hätte festsaugen können. Auch wenn ich mich daran natürlich nicht bewusst erinnere, setzten sich schon in frühster Kindheit zwei Empfindungen in meinem Unterbewusstsein fest: das Gefühl, Hunger zu leiden, und das Gefühl, abhängig zu sein vom guten Willen anderer Menschen, ob ich zu essen bekomme oder nicht. Eine Zeit lang versorgte mich die Milchamme, doch kaum war ich entwöhnt, begann der Mangel aufs Neue. Es gab immer mehr hungrige Mäuler, die sich um unseren Tisch versammelten. Was nicht mehr wurde, war, was darauf lag. Ein Stückchen Brot. Ein Stückchen Käse. Ganz selten ein Stückchen Fleisch. Das war aber nicht für uns bestimmt, sondern für meinen Vater. Mit gierigen Blicken folgten wir jedem seiner Bissen. War ein Knochen daran, nagte er ihn ab, leckte ihn sauber und warf ihn auf den Tisch. Sofort fuhren unsere Hände aus. Der Schnellste schnappte...