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Wenn nicht wir, wer dann?

Ein politisches Manifest

AutorPhilipp Ruch
VerlagLudwig
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783641167035
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Humanisiert euch!
Flüchtlinge, die an Europas Grenzen sterben; eine Sicherheitspolitik, die auf massenhafter Datenausspähung beruht; deutsche Waffenlieferungen an autoritäre Regime - es gäbe reichlich Anlass, sich zu empören. Doch die Mehrheit unserer Gesellschaft versinkt in Lethargie und Zynismus. Wie lange schauen wir noch zu? Politik muss zurück in die Hände derer, die etwas ändern möchten. Philipp Ruch holt mit seinen öffentlichen Aktionen das politische Bewusstsein zurück ins tägliche Leben - gegen die Gleichgültigkeit, die unsere Gesellschaft um ihre lebenswerten Prinzipien bringt. Er zeigt, wie wir unser Leben wieder auf eine uneingeschränkte Menschlichkeit verpflichten können. Eine Streitschrift für alle, die jenseits von Parteipolitik oder Egozentrismus etwas bewirken wollen. Ein Aufruf zum Handeln!

Philipp Ruch, geboren 1981, ist der Gründer und künstlerische Leiter des »Zentrums für Politische Schönheit«, mit dem er sich in spektakulären und radikalen Aktionen seit Jahren dem Rechtsextremismus in den Weg stellt. Seine Arbeiten verwischen dabei bewusst die Grenzen von Fiktion und Realität. Philipp Ruch studierte politische Philosophie und Ideengeschichte mit abschließender Promotion und lebt in Berlin. Bei Ludwig erschienen von ihm »Wenn nicht wir, wer dann?« und der SPIEGEL-Bestseller »Schluss mit der Geduld«.

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Leseprobe

Prolog – Die Wirkmacht von Ideen

Wenn wir zurückdenken, werden wir uns alle an einen Augenblick erinnern, in dem eine Idee unser Leben veränderte. Wir kennen den Schub, der uns durchströmt, wenn wir erkennen, dass es sich bei dem, was wir hören, lesen oder uns ausdenken, um einen genialen Einfall handelt. Voller Tatendrang gehen wir in die Welt hinaus, mit der Gewissheit dieser Idee im Kopf. Aber wie lange liegt das zurück? Der Glaube fehlt uns, wir seien Teil einer bedeutsamen Zeit. Wir haben das Empfinden dafür verloren, etwas Beispielloses gehe in unserer Zeit vor sich und werde die Welt verändern. Mit dem Scheitern der Großideologien des 20. Jahrhunderts ist auch die Erwartung ausgebrannt, eine Idee könne das Leben der Menschheit beflügeln.

Seitdem die Großideologen untergegangen sind, liegt die Sicht frei auf den Hintergrund: Millionen orientierungslose Menschen. Die Anspannung, mit der Menschen einmal ihrer Zukunft entgegenfieberten, fließt heute in die Einrichtung von Wohnzimmern. Die Sehnsucht nach der Zukunft kauft heute schwedische Einrichtungshäuser leer. Die westlichen Demokratien schaffen einen unfassbaren materiellen Reichtum. Wir erleben einen nie da gewesenen Aufschwung: Von 1970 bis 2015 hat sich das deutsche Bruttoinlandsprodukt von 500 Milliarden Euro auf 3 000 Milliarden versechsfacht – bei einer schrumpfenden Bevölkerung. Die Methode, Wohlstand am Bruttoinlandsprodukt festzumachen, mag viele Schwächen haben – so wurde die Straße, in die ich gezogen bin, mittlerweile zum vierten Mal saniert (dieser Irrsinn taucht in den Zahlen des BIP nicht auf; diese suggerieren, dass wir letztlich im Besitz von vier Straßen sind). Aber selbst wenn sich unser Wohlstand in den letzten fünfzig Jahren »nur« verdreifacht hat, grenzt diese Leistung schlicht an ein Wunder.

Unsere Ökonomien sind derart leistungsfähig, dass weniger als fünf Prozent der Gesamtleistung auf das entfallen, was wir überhaupt zum Überleben brauchen. Das ist beispiellos in der Geschichte der Menschheit. Nie zuvor hatten wir derart viel Zeit, Reichtum und Luxus. Unsere Demokratien erstrahlen im Glanz von Größe. Wir müssen nicht länger auf die Stärksten und Besten setzen, um unsere Gesellschaft voranzubringen. Wir ermöglichen schwachen und behinderten Menschen einen Alltag in Würde und Teilhabe. Die Größe der Demokratie ist unermesslich. Doch die meisten Menschen leben ihr Leben im Zeichen einer geistigen Kapitulation. Sie scheinen zu warten, aber worauf? Statt die Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen gegen einen russischen Diktator zu fürchten, sollten wir uns ab und zu fragen, wofür wir bereit sind, die restlichen 95 Prozent der wirtschaftlichen Gesamtleistung zu opfern.

Churchill entwirft in seiner legendären Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede eine so gänzlich andere Vision von Demokratien, dass man nicht umhinkommt, ihr Respekt zu zollen und sich zu fragen, was unsere Beschwichtigungspolitik gegenüber Diktaturen zur Folge hat. In der Rede stellt er am 13. Mai 1940, drei Tage nach seiner Ernennung zum Premierminister, vor dem Britischen Unterhaus sein Regierungsprogramm vor:

»Es wurde ein aus fünf Ministern bestehendes Kriegskabinett gebildet (…) man muss bedenken, dass wir uns im Anfangsstadium einer der größten Schlachten der Weltgeschichte befinden, dass wir an vielen Punkten Norwegens und Hollands kämpfen, dass wir im Mittelmeer kampfbereit sein müssen, dass der Luftkrieg ohne Unterlass weitergeht (…). Sie werden fragen: Was ist unsere Politik? Ich erwidere: Unsere Politik ist, Krieg zu führen, zu Wasser, zu Lande und zur Luft, mit all unserer Macht und mit aller Kraft (…); Krieg zu führen gegen eine ungeheuerliche Tyrannei, die in dem finsteren trübseligen Katalog des menschlichen Verbrechens unübertroffen bleibt. Das ist unsere Politik. Sie fragen: Was ist unser Ziel? Ich kann es in einem Wort nennen: Sieg – Sieg um jeden Preis, Sieg trotz allem Schrecken, Sieg, wie lang und beschwerlich der Weg dahin auch sein mag; denn ohne Sieg gibt es kein Weiterleben (…) kein Weiterleben für den jahrhundertealten Drang und Impuls des Menschengeschlechts, seinem Ziel zuzustreben.«

Aus Churchill spricht eine große Unbarmherzigkeit, Kompromisslosigkeit und Entschlossenheit, die ich aggressiven Humanismus nenne. Er ist sich mit bewundernswerter Weitsicht der diplomatischen Grenzen in der weltgeschichtlichen Kollision mit einem Diktator – ein Jahr bevor der Holocaust überhaupt begonnen hat! – bewusst. Wann sieht man heute einen Politiker in die Arena mit Ökonomen steigen und darum ringen, dass die 95 Prozent der wirtschaftlichen Gesamtleistung ein Luxus und ein Privileg sind, die wir für unsere Überzeugungen, wie »Nieder mit Diktatoren!«, zu opfern haben?

Wenn wir in der Geschichte zurückblicken, sehen wir Menschen, die mit ihrer kühnen Sicht der Dinge begeisterten. Das letzte denkerische Großereignis, die letzte geistige Sensation, die ganze Kontinente entzückte (und zerriss), liegt weit über einhundert Jahre zurück. Marx’ Tod war mehr als der Tod einer Universaltheorie. Es war das Begräbnis der Hoffnung, philosophische Programme könnten die Welt nicht nur deuten, sondern auch verändern. Heute sind wir abgeklärt und meinen, nichts könne uns mehr so mitreißen wie die Menschheit damals, als sie »noch« ihren Denkern folgte – sei es in der Epoche der Aufklärung, der Romantik oder des Kommunismus. Unsere Wirklichkeit besteht nicht aus Großideologien, Universalanschauungen und Propaganda. Sie zeichnet sich gerade durch deren Abwesenheit aus. Sehen wir gen Osten, wo sich in Russland nach langen Jahren geistiger Leere eine »Vision« zu formieren scheint, so geben wir uns recht, dass Visionen und Propaganda in die Irre führen. Aber auch wenn wir durch den Genozid in Tschetschenien längst ausführlich über Putins Qualitäten als Massenmörder unterrichtet sein müssten, fürchten wir den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts mehr als die Bedrohung durch einen Völkermörder. Wir glauben, frei zu sein von der Macht der Ideen, und rühmen uns, rational Entscheidungen zu fällen. Soweit unser Selbstverständnis.

Die Ideen, die uns leiten, sind so tief in uns eingesickert, dass wir sie als solche gar nicht mehr erkennen. Eine der Ideologien zeitigt gerade tödliche Konsequenzen auf dem Mittelmeer. Es ist die Ideologie der bürokratischen Rationalität, verkörpert vom deutschen Innenminister. Wir sind geradezu eingesperrt in dialektische Ideologien, durch die wir die Welt sehen. Dialektische »Klassiker« leiten uns eisern durch alle Lebenslagen. Begriffspaare wie Natur – Kultur, innen – außen, Individuum – Gesellschaft, objektiv – subjektiv und die Abgrenzungen zueinander kennt jedes Kind. Diese Ideen ordnen unseren Alltag. Weil neue Ideen ausbleiben, fällt uns nicht auf, in welchem Ausmaß wir durch diese dialektischen Gegensätze geprägt werden. Sie sind die Schienen, welche die Richtung vorgeben, in die wir seit Jahrzehnten rollen.

Der Mensch ist grundsätzlich hilflos. Er ist auf die Vorstellungen von Schriftstellern und Philosophen angewiesen. Erst aus der geistigen Arbeit anderer ist so etwas wie unser Selbstverständnis entstanden. Wie unerklärlich wären wir uns, wenn wir die Idee eines Unterbewusstseins nicht hätten? Wie sähe unsere Welt ohne die großen Ideen Nationalstaat, Würde und Demokratie aus? Ideen sind allgegenwärtig. Wie sehr sie uns bestimmen, hat einst der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel beschrieben. Er hat beobachtet, wie Ideen in so intime Bereiche wie Familie, Haus oder Nationalstaat eindringen. Hegels Idee des Weltgeistes ist uns nicht mehr ganz geläufig. Aber was uns verständlich bleibt, ist der Gedanke an Vorstellungen, die uns anleiten und orientieren.

Hegels wichtigster Schüler, ein Journalist aus Trier, lenkte den Blick auf die materiellen Gegebenheiten, unter denen Ideen entstehen. Seiner Ansicht nach zielen Ideen einzig darauf ab, Macht auszuüben. Hinter den vermeintlich unschuldigen Ideen versteckten sich Besatzungstruppen der Herrschenden, die ihre Macht zementieren wollten, indem sie die Köpfe okkupierten. Die Korruption von Ideen durch Adel, Geld und Macht nannte Karl Marx »Ideologie«. Für Marx kam es darauf an, nicht mehr nur die Ideen, sondern die Welt tatsächlich zu verändern. Es gehört zur Ironie der Philosophiegeschichte, dass der Mann, der Ideen am wenigsten verändernde Kraft zutraute, mit den eigenen Ideen das politische Weltgeschehen ein ganzes Jahrhundert lang beherrschte. Marx dokumentiert wie kein Zweiter die revolutionäre Sprengkraft von Ideen.

Wenn wir unsere geistige Situation betrachten, müssen wir gestehen, dass wir nicht mehr die eine Weltanschauung haben, sondern deren Tausende. Wenn wir uns für den Menschen und die Gesellschaft interessieren, gibt es nicht eine Universalanschauung, sondern eine ganze Sintflut von Theorien. Die Physik weiß, dass nach Newton Einstein kam, und die wenigsten interessieren sich heute noch für das, was Newton dachte. Aber bei den Vorstellungen über den Menschen ist das anders. Die Theoriebildung über den Menschen verläuft nicht progressiv. Während es für die Medizin keinen Sinn ergibt, zu einer Lehre aus dem Jahr 1450 zurückzukehren, lässt sich das für die Deutung des Menschen nicht derart schlüssig feststellen. Überzeugungen werden nicht dadurch antiquiert, dass sie alt sind. Bei antiken Denkern finden sich Gedanken über den Menschen, die das, was wir heute über uns wissen, bei Weitem in den Schatten stellen. Gerade junge Menschen haben ein Bedürfnis nach Orientierung. Aber ist dieses Chaos an Theorien für einen Einzelnen überhaupt...

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