Einleitung
Was ist der Buddhismus, und was ist die Lehre des Buddha? Die Antwort wird vielfältig sein und auch nicht erschöpfend, denn in seiner etwa zweieinhalbtausendjährigen Geschichte hat der Buddhismus viele Gesichter gezeigt, so dass die Rede von dem Buddhismus nicht statthaft ist. Manche haben versucht, alles das, was sich als historische Ausprägung mit dem Buddhismus eng verwoben hat, als Beiwerk abzuwerten. Doch ist es wohl eher angemessen, den Buddhismus in seiner geschichtlichen Erscheinung wahrzunehmen, gerade weil die einzelnen durchaus unterschiedlichen Lehrrichtungen doch einen gemeinsamen Kern haben. So kann man dem Bild des großen Buddhismus-Gelehrten Edward Conze (1904–1979), dass die Differenzen nichts anderes seien als Facetten eines Diamanten, nur zustimmen. Zunächst handelt es sich ja um die Lehre des Stifters Gautama Buddha, des historischen Buddha, von der wir nur durch spätere Überlieferung Kenntnis haben. Keinesfalls aber ist der Begriff des Buddhismus ein neuer Begriff wie etwa der des Hinduismus, der tatsächlich erst eine «Erfindung» der britischen Kolonialverwaltung des 19. Jahrhunderts ist, sondern sehr früh schon hat der Buddhismus bei aller internen Vielfalt eine Identität entwickelt, die nicht nur an die Lehren des Buddha anknüpfte, sondern auch mit bildlichen Repräsentationen verbunden war, die in weite Teile Asiens ausstrahlten. So wurde im fünften nachchristlichen Jahrhundert die «Lehre des Buddha» in China im Rahmen von religiösen Auseinandersetzungen der Lehre des Laozi und der Lehre des Konfuzius als die Lehre eines indischen Religionsstifters gegenübergestellt.
Der Buddhismus hat nicht nur dem Einzelnen einen oder mehrere Heilswege angeboten, sondern er hat auf vielfältige Weise ganze Epochen und Kulturen geprägt, ja sogar die Verfassung von Staaten beeinflusst. Zahlreiche Bauwerke, Tempel- und Stadtanlagen sowie Gärten von eigenwilliger Schönheit, aber auch Skulpturen aus verschiedensten Materialien und in reicher Formenvielfalt verdanken ihre Entstehung dem Buddhismus. Die frühe Ausbildung der Drucktechnik in Ostasien, zahlreiche Wissenschaften und nicht zuletzt viele Volksbildungstraditionen gehen auf den Buddhismus zurück. Der Buddhismus hatte sich durch seine Verbreitung nach Ostasien zu der in seiner Zeit wohl größten Buchreligion entwickelt, die sich mit ihren Texten an Laien richtete und bei der die Weitergabe und die Übersetzung von Texten in großem Stil ein zentrales Anliegen wurde. Verschiedene Philologien waren die Folge, und enzyklopädische Projekte sowie die Erstellung von Wörterbüchern wurden vorangetrieben. Vor allem aber prägte der Buddhismus geistige und soziale Strukturen in den Gesellschaften, in denen er stärker Fuß fassen konnte. Die Geschichte Ost- und Südostasiens jedenfalls ist ohne die Berücksichtigung der Rolle, die der Buddhismus dort gespielt hat und zum Teil noch spielt, nicht zu verstehen. Dies alles kann und soll hier nur angedeutet werden. Vor allem soll der Buddhismus in seinen Kerngehalten einerseits und im Hinblick auf seine Rolle in der Geschichte der letzten zweieinhalbtausend Jahre andererseits angesprochen werden. Denn ebenso wie die Geschichte des Christentums inzwischen ein Teil der Weltgeschichte geworden ist und Europa weitgehend nur noch historisch und zunehmend am Rande dabei eine Rolle spielt, so ist auch die Geschichte des Buddhismus ein Teil der Weltgeschichte, auch wenn diese Lehre bisher vorwiegend jene Weltgegenden geprägt hat, die wir Asien zurechnen.
Man kann sich dem Buddhismus auf vielen Wegen nähern, in der Beschäftigung mit seiner Geschichte ebenso wie in der unmittelbaren Begegnung mit einem Lehrer oder einem Text oder einer buddhistisch geprägten Lebenswelt wie einem Tempel, einer Meditationspraxis oder einem Andachtsbild. Immer aber wird man zu jenem Ergebnis kommen, welches Richard Gombrich in den Satz fasste: «Der Buddhismus beschäftigt sich mit dem Menschen, oder besser gesagt, mit allen lebenden, leidenden Wesen.» Konkreter: Der Buddhismus sucht dem Menschen eine Antwort auf sein Bedürfnis nach Seelenfrieden zu geben, denn die Lehre des Buddha will den Weg zur Erlösung zeigen.
Der Heilsweg des Buddha ist ein Weg zur Weisheit und zur Erlösung des Einzelnen. Davon soll hier die Rede sein, von den geschichtlichen Erscheinungsformen der Lehre des Buddha, die zum Teil allerdings auch wieder als Verlassen dieses Heilsweges gedeutet werden können. Am Anfang der Lehre stand eine Einsicht: dass die Welt in ihrer Vergänglichkeit ein Ort des Leidens sei. Es folgte eine Lehrtätigkeit aus unendlichem Mitleid, um Wege aus dem Kreislauf des Leidens zu finden, in dem alle Lebewesen durch ihre Begierden, vor allem aber durch Unwissenheit gefangen sind. Diese Einsicht hatte einen radikalen Bewusstseinswandel zur Voraussetzung. Erst die Erkenntnis der falschen Vorstellung von unserem Selbst und die Realisierung der Tatsache, dass es dieses Selbst gar nicht gibt, dass es eine Illusion ist, ermöglicht den ersten Schritt zur Befreiung, der zu einer Läuterung des Geistes führt, zur Zügelung der Begierden und zu Güte und Wohlwollen gegenüber jedem lebenden Wesen. Zugleich aber gilt: Obwohl es eigentlich kein Selbst gibt, findet doch eine Zurechnung der Taten statt, ist jedes Wesen verantwortlich für seine eigenen Taten, seinen eigenen Geist und seine eigene Erlösung.
Zunächst war der von dem historischen Buddha gestiftete Orden und der Weg mönchischer Askese und Entsagung der einzige Weg zur Erlösung. Später traten andere Wege hinzu, so dass seither auch Laienanhänger auf Erlösung hoffen konnten. Die mit dem Einschlagen des Mönchsweges verbundene Einsicht, dass die zur Erlösung führende Lehre des Buddha schwierig ist und anhaltender geistiger Bemühungen bedarf, blieb aber eine Grundlage aller Erlösungswege auch dann noch, als sich der Gedanke einer plötzlichen Erleuchtung und der Erlösungsfähigkeit jedes Menschen im «Großen Fahrzeug» durchgesetzt hatte. Die moralische Botschaft der Lehre Buddhas, die Ethik des Wohlwollens, der Wahrhaftigkeit und der Selbstbeherrschung, fand früh und rasch Anhängerschaft in weiteren Kreisen, und vermutlich über Kaufleute wurde die Lehre auf See- und Landhandelswegen weit über Indien hinaus verbreitet und erwies sich so als eine ortsungebundene Lehre mit universellem Charakter.
Allerdings trat sie in verschiedenen Formen auf. Dabei kam es zu gedanklichen Umkodierungen, die man auch als Reformationen oder gar als Revolutionen bezeichnen könnte. Zu solchen Umkodierungen gehört die erstaunliche Ersetzung des Ideals des asketisch-meditativen Heiligen durch die Gestalt des grenzenlos gütigen Bodhisattva, eine Wendung, die mit dem Aufkommen des Mahāyāna, des «Großen Fahrzeugs», einhergeht. In diesem Bodhisattva-Ideal, bei dem nicht mehr die Vermeidung oder Überwindung des eigenen Leidens im Vordergrund steht, sondern das Suchen nach Weisheit und vor allem das Mitfühlen, in diesem Bodhisattva-Ideal tritt der Einzelne von sich zurück. Die mystische Haltung, in welcher der Einzelne sich von der Welt her sieht, teilt der Bodhisattva mit dem Asketen, nur dass er vorwiegend altruistisch motiviert ist. Beiden geht es nicht um eine Transformation der Welt, sondern um eine Transformation des Selbstverständnisses als der entscheidenden Voraussetzung für eine Neubestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft.
Wenn man überzeugt ist, dass das Bodhisattva-Ideal «die letztlich einzige konsistente Form der mystischen Haltung» ist (Ernst Tugendhat), so beanspruchen doch auch andere Formen der Religion und der Mystik ihre Geltung. Im Rahmen der historischen Rekonstruktion stellen wir einzelne Richtungen gegenüber, insbesondere das Hīnayāna, das sogenannte «Kleine Fahrzeug», und das Mahāyāna, das sogenannte «Große Fahrzeug». Dies bedeutet keine Wertung, sondern berichtet nur den historisch zu erklärenden Unterschied, dass das Kleine Fahrzeug in den meisten seiner Richtungen die Möglichkeit verneint, dass alle Menschen Buddha werden, während das Große Fahrzeug davon ausgeht, dass jedes Lebewesen die Buddhanatur in sich trägt und daher auch – im Prinzip jedenfalls – zum Buddha werden kann. Mit solchen Widersprüchen mussten sich die Exegeten und Kommentatoren des Buddhismus seit den frühesten Anfängen auseinandersetzen, und in der Tat ist die Gegenüberstellung gerade von Mahāyāna und Hīnayāna eine nachträgliche Etikettierung, die wir zum Zwecke der Darstellung auch befolgen. Doch soll dies das Gemeinsame der beiden Richtungen nicht verdecken, und wir müssen uns stets des Umstandes bewusst bleiben, dass diese Bezeichnungen auf polemische Absichten der Mahāyāna-Anhänger zurückgehen. Deswegen sprechen manche auch statt vom «Hīnayāna» vom «Theravāda» oder vom «älteren» Buddhismus.
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