VORREDE
zur ersten Auflage
Die Seiten, die man hier lesen wird, hätten das Licht der Welt fast nicht erblickt. Und ich will damit keineswegs andeuten, daß dies ein nennenswertes Unglück gewesen wäre. Aber ich denke, es ist von Interesse, hier die Gründe anzuführen, die nahe daran waren, mich von ihrer Veröffentlichung abzuhalten. Sie sind sehr allgemeiner Art, und ich bin womöglich nicht der einzige, den sie irritiert haben. Ich würde mich nicht sehr wundern, wenn viele Leser in meinem Zögern ihre eigenen Zweifel wiedererkennen, die Bedrängnisse, mit denen sie selbst, zuweilen vielleicht beklommen, gerungen haben.
Nachdem ich bereits am dritten Tag der Mobilmachung einberufen worden war, hatte ich das Unglück, Teil einer Einheit zu sein, die dem deutschen Ansturm in einem Moment und an einem Punkt entgegengestellt wurde, wo dieser besonders unaufhaltsam war. In den letzten Tagen des Augusts 1914 wurde ich gefangengenommen.
Ich habe fast drei Jahre in Deutschland verbracht. Erst im Juni 1917 wurde ich in der Schweiz interniert. Während dieses langen erzwungenen Aufenthaltes beim Feind hatte ich Zeit, ihn zu beobachten und in meinem Geist die Hauptzüge seines Charakters zusammenzutragen. Um die Wahrheit zu sagen, ist mir der Großteil der Gedanken, die man im folgenden dargestellt finden wird, schon nach wenigen Monaten Kontakt mit ihm gekommen. Ich hatte sie sogar wenigstens in ihren Grundzügen schon von Beginn des zweiten Jahres meiner Gefangenschaft an festgehalten. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die feste Absicht, sie an die Öffentlichkeit zu bringen, sobald für mich die Stunde der Befreiung geschlagen haben würde. Nichts schien mir natürlicher. Warum sollte ich das Bild, das ich mir von den Deutschen gemacht hatte, eingeschlossen in einer Schublade für mich behalten? Täglich hatte ich ihre Schikanen zu ertragen: Da erschien es mir im Gegenzug nur rechtens, damit vor den Augen der gesamten Welt herumzuwedeln.
Als ich aber in die Schweiz überführt worden war, begannen die Dinge mir in einem anderen Licht zu erscheinen. Ich war von nun an frei; frei, alles zu tun, was ich wollte. Ich hatte nichts mehr zu befürchten. Ich war dem Krieg entkommen. Der Krieg war für mich beendet – so bekundete es mir jedermann in Form eines Glückwunsches (Ach, hätten sie nur sehen können, welchen Sturzbach an Gewissensbissen dieser schlichte Satz in meinem Herzen entfesselte!). Ja, ich wußte es nur zu gut, ab jetzt war ich in Sicherheit.
Hatte ich von nun an noch das Recht, meinen Ansichten freien Lauf zu lassen? Konnte ich guten Gewissens Gedanken äußern, deren Konsequenzen ich nicht selbst zu tragen hätte? Ich konnte mir keine Illusionen darüber machen, was das, was ich über die Deutschen zu sagen hatte, an Anstachelung, an Ermutigung zum Haß enthielt. War es an mir, der nur noch als Beobachter am Krieg teilzunehmen hatte, dies auszusprechen? War es richtig von mir, ein Feuer zu schüren, an dem ich nicht mehr Gefahr lief, mich zu verbrennen? Konnte ich unter der Voraussetzung, daß ich nicht persönlich dafür einzustehen hätte, Nicht-Wiedergutzumachendes in die Welt setzen?
Allgemeiner: War es mir erlaubt, mit meinen Bemerkungen einen Beitrag zu diesem ungeheuren Kapital zu leisten, das ohnehin schon so schwer zu liquidieren ist?
Ich hatte viel Leid gesehen. Und das Leid, dessen Zeuge man geworden ist, erzeugt nicht unweigerlich in allen Gemütern das alleinige Bedürfnis, es zu rächen. Ich gehöre zu denjenigen, denen es vornehmlich den glühenden Wunsch einflößt, ihm nichts hinzuzufügen, in keiner Weise an seiner Ausbreitung zu arbeiten, im Gegenteil wenn möglich seine Entfaltung zu verhindern. Mir ist nur allzu klar, daß der Mensch von Natur aus böse ist, so daß ich mir meinerseits in allererster Linie vornehme, es so wenig wie möglich zu sein. Um sich eine Vorstellung der Skrupel zu machen, die mich ungefähr zum Zeitpunkt meiner Befreiung überkamen, hier ein Auszug aus den Vorsätzen, die ich damals zu Papier brachte: „Alle Konsequenzen dessen, was ich sage, berücksichtigen“, notierte ich. „Mir stets im voraus die Schwere der Mühen und Leiden jedes Satzes vergegenwärtigen, den auszusprechen ich Lust bekomme. Jeden meiner geistigen Impulse gedanklich in die Sprache der Realität übertragen.“
So befremdlich solche Sorgen mitten im Krieg auch erscheinen mögen, ich glaube, nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß die große Mehrheit der Kriegskameraden sie teilt. Sie finden, daß das, wozu sie verpflichtet sind, völlig ausreicht. Sie hegen ganz und gar nicht den Wunsch, sich andere an ihrer Seite ins Getümmel werfen zu sehen, deren Eingreifen zu nichts nützen kann. Sie tragen große Sorge dafür, daß sich der Krieg nicht über die Handlungen hinaus, mit denen er geführt wird, ausweitet, daß man ihn nicht ins Reich der Worte aufsteigen läßt. Vor den anderen, vor all jenen, die ihn nur mit Worten führen können, geizen sie mit Heldentum. Entschieden bitten sie sie darum, sich nicht in die Sache einzumischen. Das liegt daran, daß sie nicht umhinkönnen, zu berechnen, was jedes Wort des Hasses sie an Grauen von der Sorte, deren Bilder sie nicht mehr loslassen, kosten kann. Wie jedem Lärm, der Granaten anziehen könnte, kehren sie aller Prahlerei, die ihnen zu Ohren kommt, unweigerlich den Rücken: „Dieser Idiot da wird uns noch verraten!“ Und deshalb sieht man sie im allgemeinen so zurückhaltend, so wenig zu Beleidigungen aufgelegt und so peinlich berührt von jenen, bei denen man sie zu Komplizen machen will.
„Es reicht, wie es ist!“ dachte ich. „Nein, ich werde ganz sicher nicht sagen, was ich über die Deutschen festgestellt zu haben glaube. Ich werde den natürlichen Haß, den wir gegen sie hegen und der uns dann blind zu machen drohen würde, wenn sich erste Möglichkeiten zur Lösung des Konflikts auftun, nicht von neuem entfachen.“ Wie vor dem Entsetzlichsten, was ein Mensch begehen kann, graut es mir nämlich vor dem Verbrechen, die erste Minute unbemerkt verstreichen zu lassen, in der der Krieg aufhören wird, unvermeidlich zu sein. Indem ich meine Betrachtungen veröffentlichte, indem ich ihnen gestattete, ihr Gift zu entfalten, trug ich unter Umständen dazu bei, diese erste Minute weniger sichtbar, weniger augenfällig zu machen. Allein der Gedanke an ein solches Risiko lähmte mich vollständig.
Aber eine andere Erwägung hielt mich ebenfalls zurück. Ich mochte zwar zutiefst von der Wahrheit meiner Bemerkungen über den deutschen Charakter überzeugt sein; es ist unmöglich, sagte ich mir gleichzeitig, heutzutage richtig zu denken. Ist denn nicht alles auf den Kopf gestellt? Sehe ich nicht die standhaftesten Gemüter, jene, in die ich mein größtes Vertrauen gesetzt hätte, vom Sturm in die eine oder die andere Richtung gebeugt? Ist es nicht ein mehr als wahnwitziger Ehrgeiz, sich an Deck eines Schiffes aufrecht halten zu wollen, auf dem alle Welt ins Wanken gerät?
Drei Jahre lang hatte ich die deutschen Zeitungen gelesen. Ich hatte mich mit Wachtposten unterhalten. Und ich hatte feststellen können, wie sehr auch ihr Standpunkt ein natürlicher war, so entfernt er auch von meinem, so exakt er meinem auch in allen Dingen entgegengesetzt war. Ich will damit sagen, wie sehr sie ihn natürlicherweise unweigerlich einnahmen, mit welcher Unfehlbarkeit sie bei jedem Ereignis, das unerwartet eintreten mochte, bei jeder Erfahrung, die sie machen mochten, auf ihn zurückkamen.
Mit anderen Worten, die deutsche Sicht war mir zwar selbstverständlich nicht ebenso richtig, aber ebenso notwendig wie die meine erschienen; ein ebenso steiler Abhang schien mir zu ihr zu führen.
Und so gelangte ich zu der Überzeugung, daß in Kriegszeiten alles Denken einer Art Gravitation unterliegt. Die Leidenschaften jedes Individuums und grundlegender noch seine Rasse, seine Herkunft bilden ein Zentrum, ein Gestirn, um das sein Denken, von unsichtbarer Kraft gehalten, nichts als kreisen kann.
In Wirklichkeit denkt man gar nicht mehr: Man bestätigt sich, man beglückwünscht und gratuliert sich selbst, man bewundert unablässig, wie sehr man doch recht hat. Im Vorübergehen schnappt man all das auf, was einen im eigenen System bestärken kann, und den Rest, den sieht man nicht, er schlüpft einem unter der Nase weg, ohne daß auch nur der geringste Verdacht über die Unordnung aufkommt, die er in die eigenen Vorstellungen bringen könnte. Man kann noch nicht einmal sagen, daß man blind wird; vielmehr verfeinert und steigert sich die Klarsicht manch eines Geistes, aber sie tritt in einen kreisförmigen und gleichsam verzauberten Lauf, sie findet den Ausgang aus der magischen Ringmauer nicht mehr, in die sie eine unsichtbare Macht eingeschlossen hat.
Selbst Widerstand ist zwecklos. Mir war nicht verborgen geblieben,...