III. Der Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland
Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 begann auch für die Sozialpolitik ein neues Zeitalter. Der Gesetzgeber baute sie nun weiter aus als je zuvor. Was als Sozialpolitik einer «Notgemeinschaft» zwecks Verhinderung von Verelendung angefangen hatte, wandelte sich zu einer auf Sozialstaat und Massenkonsum basierenden «Wohlstandsgemeinschaft»[1] nahezu der gesamten Wohnbevölkerung. Von der Struktur des deutschen Sozialstaats heutzutage, den wichtigsten Stationen seiner Entwicklung seit 1949 und seinen wesentlichen Antriebskräften handelt dieses Kapitel.
Sozialstaatsstrukturen
Schon an seinen Sozialausgaben erkennt man die imposante Größe des Sozialstaats der Bundesrepublik Deutschland: 761 Milliarden Euro wurden 2010 für Soziales ausgegeben – mehr als je zuvor und mehr als für alle anderen Staatsaufgaben.[2] Dieser Betrag entspricht 30,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, des Wertes aller in Deutschland im Jahr 2010 gefertigten Güter und Dienstleistungen. Entsprechend aufwendig ist die Finanzierung des Sozialstaats. Allein der Anteil der Arbeitnehmer- und Arbeitgebersozialbeiträge am Bruttoarbeitsentgelt kletterte von 20 Prozent im Jahre 1950 auf derzeit rund 40 Prozent. Die Sozialbeiträge finanzieren gegenwärtig 62 Prozent aller öffentlichen Sozialausgaben, während 36 Prozent aus den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden und 2 Prozent aus sonstigen Quellen stammen.
Von der Bedeutung des deutschen Sozialstaats kündet zudem der große Kreis der Bürger, die einen Rechtsanspruch auf Sozialleistungen haben – und sei es nur Anspruch auf Leistungen eines der bedürftigkeitsgeprüften Mindestsicherungssysteme[3] wie «Hartz IV», Sozialhilfe oder Sozialgeld. Dieser Kreis umfasst faktisch die gesamte Wohnbevölkerung – deutsche Staatsbürger und im Lande wohnende Ausländer. Die überragende politische Bedeutung des Sozialstaats bezeugt schließlich die Zahl der Wähler, die ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Sozialleistungen finanzieren, die Sozialstaatsklientel. Zu ihr gehörten bei der Bundestagswahl 2009 rund 25 Millionen. Das entspricht rund 40 Prozent der Wahlberechtigten.[4]
Zur Sozialstaatsklientel zählen unterschiedliche Personenkreise. Die größte Gruppe stellen die Rentner der Allgemeinen Rentenversicherung, der knappschaftlichen Rentenversicherung und der Alterssicherung der Landwirte sowie die pensionierten Beamten und Soldaten. Mit großem Abstand folgen – gemessen an jahresdurchschnittlichen Zahlen – die Empfänger von Leistungen aus den Mindestsicherungssystemen, von Arbeitslosengeld und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Kurzarbeiter und andere mehr.
Einen genaueren Einblick in die Zusammensetzung der Sozialstaatsklientel vermitteln die personen- und rentenbestandsbezogenen Statistiken der verschiedenen Sozialsysteme.
– Der Bestand an laufenden Renten[5] der allgemeinen Rentenversicherung – bis Ende 2004 hieß sie Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten – belief sich am 1. Juli 2011 auf 23,9 Millionen. Davon entfielen 17,0 Millionen auf Altersrenten, 1,5 Millionen auf Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und 5,3 Millionen auf Witwen-, Witwer-, Waisen- und Erziehungsrenten. Hinzu kommen 1,1 Millionen Renten der knappschaftlichen Rentenversicherung sowie mehr als eine Million Renten aus den Zusatzversicherungen (unter ihnen die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder und die der Deutschen Bundespost), ferner 0,6 Millionen Renten der Alterssicherung der Landwirte, 1,5 Millionen Versorgungsempfänger nach Beamten- und Soldatenrecht und 0,9 Millionen Renten der Unfallversicherung.
– In der gesetzlichen Krankenversicherung wurden 2011 51,6 Millionen Mitglieder mit einem jahresdurchschnittlichen Krankenstand von rund 3,4 Prozent (2009) und rund 20 Millionen mitversicherte Familienmitglieder gezählt. 8,95 Millionen Bürger sind Mitglieder der privaten Krankenversicherungen.
– Die Arbeitslosenversicherung zahlte 2010 im Jahresdurchschnitt das Arbeitslosengeld I an eine Million Arbeitnehmer. Weiteren 4,9 Millionen Personen kam im Jahresdurchschnitt das Arbeitslosengeld II («Hartz IV») zugute. Außerdem wurden 2010 im Jahresdurchschnitt eine halbe Million Kurzarbeiter finanziert.
– In der Pflegeversicherung betrug die Zahl der Versicherten 2010 knapp 70 Millionen, davon waren am Ende des Jahres 2009 2,3 Millionen pflegebedürftig.
– Die Kriegsopferversorgung, die 1950 noch 3,9 Millionen Personen finanzierte, zählt mittlerweile 300.000 Versorgungsberechtigte – Stand Anfang 2011.
– Um ein Vielfaches größer ist der Kreis der Nutznießer der Mindestsicherungssysteme. Dazu gehören – neben dem zuvor schon erwähnten Arbeitslosengeld II – die Sozialhilfe, das Sozialgeld, die Kriegsopferfürsorge, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz: Die Leistungen der Mindestsicherungssysteme finanzierten am Jahresende 2008 für 9,3 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen den grundlegenden Lebensunterhalt.
– Kindergeld erhielten 2010 8,8 Millionen Personen, unter ihnen 1,1 Millionen Ausländer.
– Dass der deutsche Sozialstaat für im Lande ansässige Ausländer offen ist, verdeutlicht auch die Zahl der Empfänger von Regelleistungen gemäß Asylbewerberleistungsgesetz: 121.000 waren es Ende 2009.
Der Auf- und Ausbau der Sozialpolitik hat, so zeigen diese Zahlen, einen vielschichtigen Sozialstaat geschaffen. Hinsichtlich der Sicherungssysteme besteht seine wichtigste und kostspieligste Schicht aus den Sozialversicherungen. Diese gliedern sich in die gesetzliche Rentenversicherung (auf die 2010 31,9 Prozent aller öffentlichen Sozialausgaben entfielen), die gesetzliche und private Krankenversicherung (24,1 Prozent), die Arbeitslosenversicherung (4,6 Prozent), die Pflegeversicherung (2,8 Prozent) und die Unfallversicherung (1,5 Prozent).[6] Die Leistungen der Sozialversicherungen stehen grundsätzlich nur den Versicherten zu. Ihre Höhe bemisst sich im Prinzip nach Höhe und Dauer der Beitragszahlung. Allerdings wurden diese Prinzipien vielfach gelockert. Beispielsweise sind in der gesetzlichen Krankenversicherung auch nichterwerbstätige Familienangehörige mitversichert, und trotz einkommensabhängiger Krankenversicherungsbeiträge hat jeder Versicherte den gleichen Anspruch auf Gesundheitsdienstleistungen. Ferner kennt die Rentenversicherung nicht nur Renten wegen Alter und verminderter Erwerbsfähigkeit, sondern auch Witwen-, Witwer-, Waisen- und Erziehungsrenten.
Die Sozialversicherungen sind das «Rückgrat»[7] der Sicherungssysteme in Deutschland. Manche stufen die deutsche Sozialpolitik deshalb als «Sozialversicherungsstaat» ein. Doch das greift zu kurz, wie allein ein Blick auf die Sozialfinanzen lehrt: Rund 65 Prozent des gesamten Sozialbudgets kommen den Sozialversicherungen zugute, aber rund 35 Prozent – immerhin mehr als 270 Milliarden Euro – fließen in andere Sozialschutzsysteme. Das ist die zweite Schicht des Sozialstaats. Geordnet nach ihrer finanziellen Wichtigkeit, zählen zu ihr laut neuester Sozialbudgetsystematik fünf Systeme: 1) die «Förder- und Fürsorgesysteme», unter ihnen die Grundsicherung für Arbeitssuchende, das sogenannte Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe, Sozialgeld, Kindergeld, Elterngeld, Wohngeld und Leistungen für Asylbewerber, 2) die «Arbeitgebersysteme», vor allem die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst und die betriebliche Altersversorgung, 3) die «Systeme des öffentlichen Dienstes» wie Pensionen, Beihilfen und Familienzuschläge, 4) die «Sondersysteme», die neben den berufsständischen Versorgungswerken für Freiberufler insbesondere die Alterssicherung der Landwirte, die Förderung der privaten Altersvorsorge und seit dem Sozialbudget 2010 die Grundleistungen der privaten Krankenversicherung umfassen, und 5) die «Entschädigungssysteme», unter ihnen der Lastenausgleich und die Wiedergutmachung.[8]
Finanziert werden diese Sozialsysteme größtenteils aus den Haushalten des Bundes, der Länder und der Gemeinden – mit Ausnahme der Arbeitgebersysteme, der privaten Krankenversicherung und der berufsständischen Versorgungswerke. Ihre Leistungen vergeben diese Sozialsysteme nach anderen Prinzipien als die Sozialversicherung: Fürsorge (in der Sozialhilfe und beim Sozialgeld), Fördern und Fürsorge (so die Grundsicherung für Arbeitssuchende), Entschädigung (beispielsweise von Kriegsopfern), soziale Hilfe (in der Jugendhilfe) und Alimentation (so das Prinzip der standesangemessenen sozialen Sicherung von Berufsbeamten).
Die Regulierung der Arbeitswelt spielt im deutschen Sozialstaat ebenfalls eine große Rolle. Das ist seine dritte Schicht. Sie enthält einen anspruchsvollen Arbeitsschutz und Regelungen für das Arbeitsvertrags-, das Koalitions- und das Arbeitskampfrecht, die Einstellung und Kündigung...