Das erste Kapitel gibt eine Einführung in die Problemstellung und der sich daraus ergebenden Forschungsfrage. Anschließend werden das methodische Vorgehen zur Beantwortung der Forschungsfrage sowie der Aufbau der Arbeit beschrieben.
Laut der Global Pricing Study der Strategieberatung Simon-Kucher & Partners (2014) scheitern 72 Prozent aller Neuprodukte. Das Scheitern dieser Produkte ist u. a. darauf zurückzuführen, dass mit Hilfe von traditionellen Marktforschungsmethoden bisweilen Motive und Präferenzen von Konsumenten nur unzureichend ermittelt werden können. In der Folge legen Unternehmen falsche Preise für Neuprodukte fest, betonen den Kundennutzen der neuen Produkte nur unzureichend oder führen Produkte mit geringer Attraktivität in den Markt ein (vgl. Evanschitzky, Eisend, Calantone & Jiang, 2012, S. 29; Simon-Kucher & Partners, 2014). Um derartige Fehler im Innovationsprozess zu vermeiden und Konsumentenbedürfnisse korrekt zu identifizieren, setzen Unternehmen seit einigen Jahren auf neurowissenschaftliche Methoden: So finanzierte der Konsumgüterhersteller Unilever bspw. eine funktionelle Magnetresonanztomographie- (fMRT) Studie, die untersucht, in welchem Ausmaß die Erwartungen an ein Lebensmittel das tatsächliche Geschmacksempfinden beeinflussen (vgl. Woods et al., 2011, S. 365). Erk, Spitzer, Wunderlich, Galley & Walter (2002, S. 2499) hatten im Auftrag der Daimler AG bereits ein Jahrzehnt zuvor gezeigt, wie unterschiedlich das Gehirn auf die Präsentation von Limousinen, Vans, Sport- und Kleinwagen reagiert. Von dem wachsenden Interesse an neurowissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen profitiert auch die Beratungs- und Marktforschungsbranche. Mittlerweile gibt es weltweit circa 120 Marktforschungsinstitute, die Erkenntnisse aus der Hirnforschung auf Fragestellungen ihrer Kunden anwenden (vgl. Nuwer, 2014; Olteanu, 2014).
Fach- wie Publikumsmedien reagieren ambivalent auf Studien, in denen neurowissenschaftliche Messmethoden zu Marktforschungszwecken eingesetzt werden. Einerseits werden Methoden wie die fMRT als Heilsbringer angepriesen, als „'Fenster' zum menschlichen Gehirn“ (Lindstrom, 2009, S. 53), die es ermöglichen, „[…] inside buyers' brains“ (Kaufman, 2010) zu gelangen und dort „the Brain's 'Buy Button'“ (Howard, 2013) zu finden. An anderer Stelle fallen die Erwartungen an die Hirnscanner mitunter gedämpfter aus. Marktforschungsexperten bemängeln, dass sich Agenturen kaum mit Theorien und Methoden der Neurowissenschaft auseinandersetzen; einige Neuromarketing-Anbieter scheiterten an der Interpretation von fMRT-Daten, da es ihnen an Kenntnissen kognitions- und emotionspsychologischer Ansätze fehle (vgl. Esch, 2013, S. 33; Scharrer, 2013, S. 22). Ein Schulterschluss mit der Wissenschaft sei notwendig, so ein Vertreter der deutschen Marktforschungsbranche, um endlich Standards für die Durchführung neurowissenschaftlicher Studien zu schaffen (vgl. Scharrer, 2013, S. 22). Für Allan Fromen (2014), Vice President des amerikanischen Marktforschungsunternehmens IDC, ist insbesondere Methodenkompetenz ein wichtiger Ansatzpunkt, um die fMRT in der Marketing-Praxis zu etablieren: „We […] need to marry our excitement with methodological and academic rigor, to put our clients at ease and help inform the industry“. Insgesamt zeigen die zitierten Stimmen, dass Marktforschungsunternehmen die strategische Bedeutung neurowissenschaftlicher Methodenkompetenz nicht unterschätzen sollten.
Gleichzeitig wird auch im akademischen Kontext gefordert, dass sich Marketingwissenschaftler und Konsumentenverhaltensforscher intensiv mit der Vielzahl an neurowissenschaftlichen Theorien, Anwendungsbereichen und Methoden auseinandersetzen (vgl. Achrol & Kotler, 2012, S. 51; Plassmann, Ramsøy & Milosavljevic, 2012, S. 31; Poldrack, 2012, S. 1216-1217). So befürworten Achrol und Kotler (2012, S. 51) nachdrücklich die Aneignung von „expertise in […] fMRI besides the latest in research design and statistical method“. Die systematische Auswertung relevanter marketingwissenschaftlicher Fachzeitschriften[1] zeigt jedoch, dass in den einzelnen Journals äußerst selten theoretische und methodische Fragestellungen im Allgemeinen und im Zusammenhang mit der fMRT diskutiert werden. Insgesamt konnten vier theoretisch-konzeptionelle Arbeiten identifiziert werden.
Wie Tabelle 1 veranschaulicht, fokussieren sich drei der vier identifizierten Beiträge auf eher allgemeine methodische Herausforderungen, mit denen die Consumer Neuroscience konfrontiert ist. Beispielsweise wird die Problematik inverser Folgerungen[2] („reverse inference“) diskutiert. Darüber hinaus werden Anwendungsbereiche des noch jungen Forschungsfeldes Consumer Neuroscience skizziert. Zudem werden neue Forschungsperspektiven eröffnet (vgl. Huettel & Payne, 2009, S. 14-16; Plassmann et al., 2012, S. 19-33; Plassmann, Venkatraman, Huettel & Yoon, in Druck, S. 3-22). Lediglich die Arbeit von Yoon, Gonzalez und Bettman (2009) befasst sich explizit mit methodischen Aspekten der Planung und Durchführung von fMRT-Studien. Konkret werden Empfehlungen hinsichtlich der Forschungskonzeption, des experimentellen Designs und der Interpretation von fMRT-Daten ausgesprochen (vgl. Yoon et al., 2009, S. 17-19).
Tabelle 1: In A+- und A-Journals publizierte, theoretisch-konzeptionelle Arbeiten zu methodischen Aspekten der Consumer Neuroscience bzw. der fMRT
Die Ausführungen in diesem Abschnitt zeigen, dass neben der Wissenschaft auch die Praxis an solchen Beiträgen interessiert ist, die methodische Probleme im Zusammenhang mit fMRT-Studien beleuchten. Jedoch wurden methodische Fragestellungen in der marketingwissenschaftlichen Forschungsliteratur bislang nur unzureichend diskutiert. Im Speziellen fehlen Beiträge, die hinsichtlich der Ausgestaltung von fMRT-Studien nicht abstrakt bleiben, sondern konkrete Designoptionen für empirische Untersuchungen aufzeigen sowie die Vor- und Nachteile dieser Optionen diskutieren. Die vorliegende Arbeit möchte dazu beitragen, die methodische Diskussion zu vertiefen.
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, unter Berücksichtigung von bestehenden Untersuchungsdesigns[3] konkrete Optionen für die Ausgestaltung von empirischen Untersuchungen mittels der fMRT aufzuzeigen. Hieraus ergibt sich folgende Forschungsfrage:
Welche Gestaltungsoptionen gibt es, um eine empirische Untersuchung mittels der fMRT in der Konsumentenverhaltensforschung zu realisieren?
Zur Beantwortung dieser Forschungsfrage werden zwei Unterfragen gebildet, welche im Verlauf dieser Arbeit behandelt werden. Die Unterfragen fokussieren auf den Aufbau und das Design von empirischen Untersuchungen mittels der fMRT sowie auf deren Ausgestaltung:
Welche Prozessschritte umfasst eine empirische Untersuchung mittels der fMRT?
Welche Untersuchungsdesigns finden in der fMRT zur Erforschung des Konsumentenverhaltens Anwendung?
Um diese Fragen zu klären, werden einerseits theoretisch-konzeptionelle Übersichtsarbeiten zur fMRT, andererseits empirische fMRT-Studien analysiert. Alle gesichteten empirischen Studien erschienen von 2010 bis 2015 in hochrangigen Marketingzeitschriften, renommierten Zeitschriften aus angrenzenden betriebswirtschaftlichen Disziplinen sowie in neurowissenschaftlichen Fachzeitschriften. Die Auswertung der theoretisch-konzeptionellen Beiträge beschränkt sich hingegen nicht auf einen bestimmten Publikationszeitraum. Berücksichtigung finden jedoch ausschließlich Publikationen, die im VHB-JOURQUAL 3 als A+- bzw. A-Journal gekennzeichnet sind bzw. – im Falle der neurowissenschaftlichen Publikationen – über einen hohen Impact Factor verfügen. Weiterhin werden ausschließlich empirische Studien ausgewertet, welche die für die Konsumentenverhaltensforschung relevanten, psychischen Prozesse untersuchen.
Die vorliegende Arbeit ist wie folgt strukturiert: Im Anschluss an die Einleitung wird im zweiten Kapitel die Konsumentenverhaltensforschung unter neurowissenschaftlicher Perspektive beleuchtet. Hierzu werden zunächst die theoretischen Grundlagen des Konsumentenverhaltens geklärt. Schwerpunktmäßig werden diejenigen psychischen Vorgänge erläutert, die als Konstrukte zur Beschreibung und Erklärung des Konsumentenverhaltens dienen. Die Zusammenführung von Konsumentenverhaltensforschung und Neurowissenschaft in die junge Forschungsrichtung der Consumer Neuroscience ist ebenfalls Bestandteil des zweiten Kapitels. Für die Consumer Neuroscience werden relevante theoretische Grundlagen identifiziert und dargestellt. Besondere Aufmerksamkeit wird denjenigen neurowissenschaftlichen Messmethoden gewidmet, welche die klassische Verhaltensbeobachtung und -messung sinnvoll ergänzen können.
Im dritten Kapitel wird die fMRT, zentrale Messmethode für die Consumer Neuroscience, erläutert. Auf die Vorstellung der physikalischen Grundlagen der fMRT folgt die Diskussion der Stärken und...