Einleitung
EIN PAAR EHRLICHE FRAGEN
Zwitschert der Vogel anders als das Buch,
glaube immer dem Vogel.
JAMES AUDUBON
ES GIBT DIE ERLEUCHTUNG. Ein Erwachen ist möglich. Grenzenlose Freude und Freiheit, Einheit mit dem Göttlichen, die Bewusstwerdung ewiger Gnade – diese Erfahrungen treten häufiger auf, als man denkt, und sie liegen ganz nah. Allerdings halten sie nicht ewig an, und das ist ebenso wahr. Erkenntnisse und Erleuchtungen mögen uns die Wirklichkeit der Welt offenbaren und verändern, aber sie vergehen.
Wer hat nicht schon traditionelle Berichte über vollkommen erleuchtete Weise in Asien oder über makellose Heilige und Mystiker im Westen gelesen. Aber diese Heiligengeschichten können in die Irre führen. Tatsächlich ist das Erwachen des Herzens niemals abgeschlossen. Einen Erleuchteten-Ruhestand gibt es nicht. Wir erleben etwas anderes.
Nach den Flitterwochen setzt der Ehealltag ein, nach der Wahl das harte Regierungsgeschäft, wer wüsste das nicht. Und im spirituellen Leben ist es genauso: Nach der Ekstase, der Erleuchtung, kommt das Wäschewaschen, wartet der Haushalt.
Die meisten spirituellen Erfahrungsberichte enden mit der Erleuchtung oder Illumination. Doch was geschieht danach? Wie verhält sich der Zen-Meister zu Hause bei Frau und Kindern? Wie kommt der christliche Mystiker beim Einkaufen zurecht? Wie sieht das Leben nach der Erleuchtung aus? Werden die Einsichten auch im Alltag umgesetzt?
Um das herauszufinden, habe ich mit einer Reihe von Menschen gesprochen, die seit 25, 35, 40 Jahren auf dem spirituellen Pfad unterwegs sind, besonders mit jenen, die heute Meditationsmeister und Äbte, die Lehrer und Lamas im Westen sind. Sie erzählten mir, wie es zu ihrem Erwachen kam und welche Erfahrungen sie in den Jahren danach machten, als sie den alltäglichen Weg echter Anteilnahme weitergingen.
Hier ist ein Bericht über das erste Satori (Erleuchtungserlebnis) eines westlichen Zen-Meisters und was daraus folgte. Solche Berichte werden selten veröffentlicht, denn nur allzu leicht entsteht der falsche Eindruck, dass jemand, der so etwas erlebt, etwas Besonderes sei. Mag die Erfahrung auch außergewöhnlich sein, die Person ist es nicht. Jeder kann Erleuchtung erfahren, sobald er nur gelassen und aufgeschlossen genug ist, um die Welt auf radikal neue Weise zuzulassen.
Dieser Lehrer hatte sein Erleuchtungserlebnis mit 58 Jahren, nach jahrelanger Praxis unter verschiedenen Meditationsmeistern. Er war berufstätig und hatte eine Familie:
Mir brachten die einwöchigen Zen-Sesshins immer viel. Die Meditation löste tiefe Gefühle und starke Erinnerungen in mir aus. Es war wie eine Geburt – schmerzlich und befreiend zugleich. Und diese Katharsis hielt dann noch wochenlang im Alltag an.
Dieses Sesshin begann wie alle anderen. Während der ersten Tage hatte ich es mit heftigen Emotionen und freigesetzten Energien zu tun, die meinen Körper überfluteten. Und jedes Mal, wenn ich beim Meister war, saß er ruhig wie ein Fels da und stabilisierte mich durch seine Gegenwart wie ein Steuermann auf stürmischer See. Mir war, als müsste ich sterben, als würde es mich jeden Augenblick zerreißen. Er riet mir, ich solle mich in meinen Koan vertiefen und möglichst selbst vergessen. Ich wusste nicht mehr ein noch aus.
Dann wurde ich plötzlich auf den süßen Duft aufmerksam, der durchs Fenster hereinkam. Mir fielen draußen drei junge Birken auf, die mir plötzlich wie meine Familie vorkamen. Ich begab mich im Geiste zu ihnen, streichelte ihre glatte Rinde und wurde selbst der berührte Baum. Meine Meditation ging in helle Freude über.
Ich hatte schon vorher in einigen Retreats Glückserlebnisse gehabt – große Wellen der Seligkeit, nachdem sich körperliche Verkrampfungen gelöst hatten –, aber das hier war anders. Der Kampf hatte aufgehört, mein Geist strahlte, war klar und weit wie der Himmel und schmeckte derartig süß nach Freiheit und Wachheit, dass es sich nicht beschreiben lässt. Ich fühlte mich wie der Buddha, der mühelos Stunden über Stunden dasaß, geborgen im Schoß des Universums. Es war eine Welt unendlichen Friedens und unsäglicher Freude.
Die großen Wahrheiten des Lebens lagen vor mir ausgebreitet – dass das Festhalten Leiden hervorbringt; dass die Identifizierung mit unserem kleinen Selbstbild, dem falschen Ich, uns wie spitzfindige Vermieter herumlaufen lässt, die sich über alles aufregen. Ich weinte über all das unnötige Leid. Dann konnte ich stundenlang nicht aufhören zu lachen und zu lächeln. Ich sah, wie perfekt alles ist, wie jeder Augenblick Erleuchtung bringt, wenn man sich nur zu öffnen weiß.
Ich verweilte tagelang in dieser zeitlosen Seligkeit, mein Körper war leicht, mein Geist leer. Ich wachte auf, und Wellen der Liebe und Lebenslust strömten durch mein Bewusstsein. Dann kam eine Einsicht und Offenbarung nach der anderen. Ich sah, wie sich der Lebensstrom in karmisch bedingten Mustern entfaltet, die wir gestalten. Ich durchschaute die Idee des Sichkasteiens als einen Aberwitz, mit dem man sich das normale Leben und dessen Freuden vergällt. In Wirklichkeit ist das Nirwana so offen und voller Freude, so viel mehr als jedes der kleinen Vergnügen, nach denen man greift. Man entsagt nicht der Welt, man gewinnt sie.
Normalerweise steht ein großes Erwachen wie dieses am Schluss einer spirituellen Biographie. Die erleuchtete Person gehört nun zur Gemeinschaft der weisen Wesen, ist aller Probleme ledig und lebt glücklich bis an ihr Ende. So jedenfalls hat man den Eindruck. Doch wie ging es in Wirklichkeit danach weiter?
Einige Monate nach dieser Ekstase bekam ich eine Depression. Gleichzeitig musste ich beruflich ziemliche Enttäuschungen verkraften. Ich hatte auch Probleme mit meinen Kindern und der Familie. Mein Unterricht war in Ordnung, das ja. Ich war durchaus inspiriert. Wenn du aber meine Frau fragst, wird sie dir sagen, dass ich mit der Zeit wieder genauso mürrisch und ungeduldig wurde wie eh und je. Obwohl mir die Wahrheit meiner großen spirituellen Intuition bewusst war und mich innerlich trug, musste ich erfahren, dass sich äußerlich vieles überhaupt nicht geändert hatte. Um ehrlich zu sein, mein Geisteszustand und mein Charakter waren fast unverändert und meine Neurosen auch. Es ist sogar härter, weil ich sie nun klarer sehe. Da waren diese kosmischen Offenbarungen, und trotzdem brauchte ich eine Therapie, damit ich meine alltäglichen Fehler erkannte und ein menschliches Leben führen lernte.
Was kann man aus dieser Geschichte lernen? Sie zeigt, dass Erleuchtung eine Fortsetzung hat, ein Spiegel der Selbsterkenntnis ist. Religiöse Lehren wurden schon immer großenteils durch Geschichtenerzählen überliefert. Die Geschichte Noahs, Bai Shem Tovs, der heiligen Theresa, Mohammeds, Milarepas, Krishnas und Arjunas, die Suche des Buddha, die Berichte über Jesus werden nach wie vor erzählt und wieder erzählt. Heute lernen wir auch aus dem Leben Thomas Mertons, Suzuki Roshis, Anne Franks und Martin Luther Kings. Das spirituelle Leben anderer kann auf die eigenen Möglichkeiten aufmerksam machen und zu einer klugen Lebensführung anregen.
Auf Menschenkenntnis wird auch in meiner Gemeinschaft, meiner Übertragungslinie Wert gelegt. Mein Lehrer Ajahn Chah wusste, dass unser Charakter sowohl die Ursache des Leidens als auch der Schlüssel zur Befreiung ist. Er pflegte sein Gegenüber stets genau anzusehen, so wie ein Uhrmacher das Gehäuse öffnet, damit er das Räderwerk arbeiten sieht.
Als spiritueller Lehrer war ich in der glücklichen Lage, mit vielen Zeitgenossen des modernen spirituellen Lebens engen Kontakt zu haben. Ich habe zusammen mit Nonnen und Mönchen christlicher Klöster praktiziert und gelehrt, mit jüdischen Mystikern, mit hinduistischen, sufistischen und buddhistischen Meistern und mit führenden Persönlichkeiten Jungianischer und Transpersonaler Gesellschaften. Dabei konnte ich viel über die Art lernen, wie sich das spirituelle Leben heute entfaltet und welche Schwierigkeiten es mit sich bringt, auch für die engagiertesten Menschen. Folgendes Beispiel erläutert das.
Seit Beginn der 1990er-Jahre bin ich an der Organisation regelmäßiger Treffen buddhistischer Lehrer aus allen Schulen beteiligt. Eine Reihe davon fand auf Einladung des Dalai Lama in seinem Palast in Dharamsala statt. Hier diskutierten asiatische und westliche Lehrer miteinander über die Möglichkeiten, die buddhistische Praxis für das moderne Leben fruchtbar zu machen, aber auch über die Probleme, denen sie dabei begegneten. Im Raum hatten sich aufrichtige, aufgeschlossene Zen-Meister, Lamas, Mönche und Meditationsmeister versammelt, deren Weisheit, Arbeit und Gemeinschaften Tausenden nützlich waren. Wir sprachen über die vielen Erfolge und freuten uns gemeinsam darüber. Als dann aber die Probleme offen zur Sprache kamen, wurde klar, dass das spirituelle Leben nicht nur Schokoladenseiten hat; es spiegelten sich darin auch gesellschaftliche Schwierigkeiten und individuelle Neurosen wider. Selbst in dieser illustren und engagierten Runde gab es Vorurteile und ausgeklammerte Bereiche.
Sylvia Wetzel, eine buddhistische Lehrerin aus Deutschland, sprach davon, wie hart es Frauen und weibliche Weisheit innerhalb der buddhistischen Gemeinschaft haben, wenn es um öffentliches Ansehen geht. Sie verwies auf die vielen goldenen Buddhas und exquisiten tibetischen Rollbilder im Raum mit der Bemerkung, dass sie alle nur...