1. Die »Wurzeln« zwischen dem hügeligen Piemont und der ehemaligen Markgrafschaft Monferrat
Wie Großmutters Plätzchen«: Exakt so lautete der Titel der Homilie, der Bibelauslegung, die Papst Franziskus am 14. Oktober 2016 während der Morgenmesse im Gästehaus des Vatikans, der Casa Santa Marta, vor einer Gruppe von Gläubigen hielt. Ergriffen lauschten die Gottesdienstbesucher der Stimme des argentinischen Kirchenoberhauptes, als er einige Erinnerungen aus seiner Kinderzeit heraufbeschwor. Gelassen, quasi aus dem Stegreif, legte Jorge Mario Bergoglio die Bibelstelle Lukas 12, 1–7 aus. Lukas beschreibt in ihr die Rolle des Sauerteigs bei der Zubereitung von Speisen.
Überträgt man dieses biblische Bild auf die Ebene menschlicher Verhaltensweisen, dann verweist es auf die Notwendigkeit, unsere alltäglichen Handlungen mit Substanz, mit Bedeutung zu füllen und so Heuchelei oder Schlimmeres zu vermeiden. Papst Franziskus berief sich – wie es so seine Art ist – auf eine persönliche Geschichte aus seiner Kindheit, die mit den häuslichen Tätigkeiten seiner Großmutter Rosa verbunden ist. Diese Großmutter hatte einen großen Anteil an seiner menschlichen und spirituellen Entwicklung. Wörtlich sagte er: »Als wir Kinder waren, buk die Großmutter zu Karneval Plätzchen. Dafür rollte sie zunächst einen Teig hauchdünn aus. Als sie ihn ins heiße Öl gab, blähte der Teig sich auf und die Plätzchen gingen auf, immer weiter. Doch wenn wir dann hineinbissen, war nur Luft darin. Im Dialekt des Piemont hießen sie ›busie‹ oder ›bugie‹ – was Unwahrheit, Unaufrichtigkeit oder gar Lüge bedeutet.«
Dieselbe Großmutter – sie stammte aus der »Alta Langa«, einer Region südöstlich des Flusses Belbo – hat sicherlich auch die klassische »bugia« der Provinz Asti gebacken: ein Gebäck, das wegen seiner Lockerheit und Zartheit überaus geschätzt ist. Nonna Rosa erklärte ihrem Enkel, warum es seinen Namen bekam: »Diese Plätzchen«, so fuhr Papst Bergoglio in seiner Predigt fort, »sind wie Lügen: Sie scheinen stattlich, aber sie sind hohl. Kein Fünkchen Wahrheit steckt in ihnen. Sie haben keine Substanz.«
Oft arbeitet in Papst Franziskus selbst der »Sauerteig« derjenigen Dinge, die er in jungen Jahren erlebt hat. Er lässt ihn Denkanstöße, Überlegungen und Gedankengänge in lebendige Bilder und Worte fassen. Diese Erinnerungen führen ihn unvermeidlich zurück in die Zeit, in der er gemeinsam mit seiner Großmutter Rosa Margherita Vassallo in Buenos Aires lebte, umgeben von Großvater Giovanni Bergoglio, Mutter Regina María Sívori und Vater Mario José. Jene Jahre, die er mit den Geschichten seiner Familie aus dem Piemont verbrachte. Einer Familie, die in den 1920er-Jahren, als Italien von dem faschistischen Diktator Benito Mussolini regiert wurde, ihre Heimat verließ und nach Übersee auswanderte, mit leeren Taschen, aber voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Im Foto oben stellt sich ein junger Bergoglio (oberste Reihe, Zweiter von links) mit seiner Familie dem Fotografen. Auch seine Schwester María Elena ist ganz links im Bild zu sehen. Das Foto unten links zeigt ihn als Jungen. Rechts die Langhe, aus der seine Familie ursprünglich stammt.
Die heimischen Anekdoten und Erzählungen nisteten sich im Herzen des kleinen Jorge Mario, des späteren Papstes Franziskus, ein: ein Kaleidoskop aus Farben und Gerüchen und vor allem aus dem Geschmack traditioneller Gerichte und ihrer wohligen Wärme. Diese Speisen sind Ausdruck einer Kochkunst, die sowohl Spiegel als auch Essenz eines bestimmten Ortes mit seinem ihm eigenen Boden ist. Folgt man auf der Suche nach den Ursprüngen der Familie Bergoglio den Großeltern Giovanni und Rosa, der Zeitachse in die Vergangenheit, so ist das wie eine Reise zwischen den Hügeln der Landstriche der Langhe und des Monferrat, eine Reise zwischen den Straßen von Turin und den sanft gewellten Weinbergen der Provinz Asti.
Der Urgroßvater von Jorge Mario, Francesco Bergoglio, kam aus Montechiaro, wo er 1857 geboren wurde.
Die Familie von Papst Franziskus »wurzelt« irgendwo zwischen den Feldern und den Hügeln um die Gemeinde Portacomaro Stazione nicht weit von Asti. Dort lassen sich 1862 die Brüder Giacomo, Giuseppe und Dionigi Bergoglio nach einem Tauschvertrag mit Salvador Debenedetti, einem Mitglied der jüdischen Gemeinde von Asti, nieder. Sie hatten ihre »Pellerina« in Montechiari d’Asti, einen eher kleinen Bauernhof, mit Debenedetti gegen den etwa dreißig Hektar großen »Bricco Marmorito« getauscht.
Oben links eine Schale mit »Bugie«, dem berühmten Gebäck aus dem Piemont, auf das Papst Franziskus während einer seiner Predigten hinwies. Oben rechts ein Rotwein aus dem Piemont. Darunter der Pfad zwischen den Rebstöcken eines Weinbergs.
Das Wort »bricco« – »bric« im »Piemontèis«, der piemontesischen Sprache – bezeichnet den Gipfel eines Hügels. Da die Grundstücke des neuen Hofes größer sind und sein Wert höher ist (nämlich 6000 damalige Lire), werden die Brüder Bergoglio dazu verpflichtet, die fehlende Summe im Zeitraum von »zwölf Erntejahren« aufzubringen, indem sie der Familie Debenedetti »die Hälfte der Traubenernte aus den Weinbergen« überlassen, selbst dann, wenn Hagel die Ernte vernichten sollte.
Die Brüder Bergoglio krempelten die Ärmel hoch: Auf den fruchtbaren Hügeln rund um Portacomaro begannen sie, Reihen von Rebstöcken zu kultivieren, die Trauben in bester Qualität hervorbrachten.
Das Piemont, aus dem die Vorfahren von Jorge Maria Bergoglio stammen, zeichnet sich durch die Fruchtbarkeit seiner Böden aus und durch das, was sie hervorbringen: von der Haselnuss »Tonda Gentile delle Langhe« bis zu den Reben, die erlesene Weine hervorbringen.
Inzwischen ist das Gebiet berühmt für seinen Grignolino d’Asti, für seine Barbera-Weine (Barbera d’Asti und Barbera del Monferrato) und für den Ruchè di Castagnole Monferrato. Als Huldigung an den ersten Papst der Geschichte produziert man heute auch den Sampé, den San Pietro, einen Weißwein der Qualitätsstufe D.O.C. aus Monferrato. Er ist das süffige Produkt eines Bodens, in dem – auf dem uralten Friedhof von San Pietro – der Ururgroßvater des Papstes, Giuseppe Bergoglio, 1878 beerdigt wurde.
Doch die Ahnen der Bergoglios stammen vermutlich aus einem anderen Teil des ehemaligen Markgrafentums Monferrato. Folgt man Orsola Appendino, die über die Piemonteser Gemeinden in Argentinien forscht und schreibt, kamen die Bergoglios vermutlich aus Cortiglione di Robella, gut dreißig Kilometer nördlich von Asti. Dort tragen noch heute einige Familien denselben Nachnamen wie der Papst. Der Urgroßvater von Jorge Mario kam aus Montechiaro, wo er 1857 geboren wurde, und trug den Namen Francesco: Der vom Pontifex gewählte Name kann also auch als Reminiszenz an seinen Urahn gelesen werden. Giovanni Angelo, der Großvater von Papst Franziskus, erblickte 1884 in Asti das Licht der Welt. 1906 zog er nach Turin, wo er die gleichaltrige Rosa Margherita Vassallo heiratete.
Rosa – die oben erwähnte Nonna Rosa – stammte aus der Alta Langa, einem Gebiet zwischen dem Piemont und Ligurien, ein hügeliger Landzipfel, den die Provinzen Cuneo, Alessandria, Asti und Savona einfassen. Nach der Wahl von Papst Franziskus hat man die örtlichen Archive durchforstet und herausgefunden, dass Rosa bei ihren Eltern in Cortemilia, in der Provinz Cuneo aufwuchs, also knapp fünfzig Kilometer südlich von Asti. Cortemilia ist weltbekannt für seine Haselnüsse, die dort seit Jahrhunderten angebaut werden. Besonders renommiert ist in diesem Zusammenhang die Nusssorte Tonda gentile delle Langhe. Ebenso bekannt ist Cortemilia für eine Rebsorte, aus welcher der Dolcetto dei terrazzamenti gekeltert wird.
Noch heute stellen in Montechiaro die örtlichen Bäcker die klassische Haselnusstorte her. Ein überaus feiner Kuchen, ohne ein Gramm Mehl!
Die Herausforderungen der Landarbeit scheint die Bevölkerung charakterlich abgehärtet zu haben. Doch die Bergoglios waren an die Mühen harter, bäuerlicher Arbeit gewohnt und wurden Schrittmacher landwirtschaftlicher Vermarktungsstrategien. Lange bevor die moderne Formel »from farm to table« in aller Munde war, brachten sie ihre Erzeugnisse direkt an den Kunden: Den Quellen nach betrieb Dionigi Bergoglio, Bruder von Giovanni Angelo, dem Großvater des späteren Papstes, ein »ristorante caffè«, ein Kaffeehaus namens »della Nocciuola« – zur Haselnuss.
Heute sind der Haselnuss vor allem im August und September Volksfeste und Feiertage gewidmet. Sie ziehen Scharen von Touristen ins Alta Langa, die auf der Spur der Besonderheiten der Tonda gentile delle Langhe sind. Diese Nuss ist auch bekannt als Nocciola Piemonte IGP – Piemonteser Haselnuss (geschützte geografische Angabe). Sie zeichnet sich durch eine besonders harte und kräftige Schale aus. Von der Süßwarenindustrie wird sie wegen ihres Geschmacks und ihres Duftes geschätzt. Zudem lässt sie sich einfach verarbeiten und gut konservieren. Sie ist also ein regionaltypisches Produkt: das Markenzeichen eines besonderen Gebiets und seiner arbeitsamen Bevölkerung. Noch heute backen die örtlichen Bäcker die Torta alla Nocciola, eine überaus wohlschmeckende Torte ohne ein Gramm Mehl im Teig.
Haselnusstorte aus der Nusssorte »Tonda gentile delle Langhe«
Zutaten für 1 Torte
150 g Piemonteser Haselnüsse (Nocciola Piemonte IGP)
150 g Zucker
30 g Butter
3 Eier
1 Prise Salz
1 EL Kakao...