Einleitung
Der Erste Weltkrieg ist »die große Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts genannt worden.1 Er war ein Krieg von bis dahin nicht gekanntem Ausmaß und beispielloser Intensität. Die Menschen sprachen sehr bald einfach vom »Great War«, von der »Grande Guerre«, der »Grande Guerra« usw. Damit unterschieden sie ihn von den vielen ›kleinen‹ Kriegen, die im Zeitalter des Imperialismus an der Tagesordnung waren und an die man sich gewöhnt hatte. ›Groß‹ war der Krieg wegen der Zahl der beteiligten Staaten, unter ihnen alle europäischen Großmächte. In den kriegführenden Staaten wurden insgesamt ca. 70 Millionen Männer eingezogen. ›Groß‹ war der Krieg auch wegen der Zahl der Opfer, unter ihnen ca. 9 Millionen tote Soldaten. Die Zahl der physisch oder psychisch kriegsversehrten Soldaten lag mindestens genauso hoch. Hinzu kamen Zivilisten, die an Seuchen, Hungersnöten, ethnischen Verfolgungen zugrunde gingen. Ein gegenseitiges Vernichten in solchen Dimensionen und mit solcher Konsequenz war welthistorisch gesehen neu, auch wenn in früheren Zeiten schon sogenannte »Weltkriege« geführt worden waren, z. B. der Spanische Erbfolgekrieg (1701–1714), der Siebenjährigen Krieg (1756–1763) und die Napoleonischen Kriege (1800–1814/15).
Neben allem menschlichen Leid hatte der Erste Weltkrieg auch grundlegende politische Umwälzungen zur Folge. An seinem Ende standen in einer Reihe von Ländern die Ablösung monarchischer durch republikanische Staatsformen, die Etablierung einer kommunistischen Herrschaft in Russland, die Entstehung neuer Staaten in Mittel- und Osteuropa sowie die rigide Behandlung der unterlegenen Mittelmächte durch die alliierten Sieger. Zusammen mit dem ebenfalls kriegsbedingten Aufstieg der USA zur Weltmacht bargen diese Veränderungen die Keime zu den weiteren großen Konflikten des 20. Jahrhunderts in sich: zum Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, der in den nächsten, den Zweiten Weltkrieg und in den Holocaust mündete; und zu der Teilung der Welt in eine kommunistische und in eine marktwirtschaftlich-demokratische Sphäre, die nach 1945 zu jenem Kalten Krieg führte, der einige Mal in einen Dritten Weltkrieg umzuschlagen drohte.
Das Ausmaß, die Intensität und die Folgen des Krieges, die ihm einen besonderen historischen Stellenwert verleihen, konnten die Menschen im August 1914 natürlich nicht erahnen. Die meisten Politiker, Militärs und Bürger rechneten mit einer raschen, für ihren Staat günstigen Entscheidung, nur wenige sahen jenen katastrophalen Krieg voraus, zu dem es dann kam. Im Gegenteil: Es gab nicht wenige, die den Krieg regelrecht begrüßten, weil sie davon ausgingen, er werde außen- und innenpolitisch wie ein reinigendes Gewitter wirken und ihre Nation außen- und innenpolitisch von störenden Fesseln befreien. Solche Überlegungen erscheinen im Rückblick auf zwei Weltkriege, nach den Erfahrungen von Verdun, Auschwitz und Hiroshima, kaum begreiflich, geradezu verantwortungslos. Doch sah das Kalkül mit den Erfolgsaussichten und Kosten eines Krieges unter Großmächten bis 1914 wesentlich attraktiver und leichter aus. Aber vielleicht sollte man sich hinsichtlich der modernen Einsicht, dass ein ›großer Krieg‹ heutzutage mit kalkulierbaren Risiken kaum zu gewinnen ist, weil jeder militärische Vorteil von der anderen Seite durch den Einsatz noch zerstörerischer Waffen relativiert werden kann, auch nicht täuschen: Möglicherweise bestehen ja auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen Großmächten kriegsträchtige Gegensätze, die aber aus verschiedenen Gründen nicht ausgetragen werden. Jedenfalls ist es nicht besonders beruhigend zu wissen, dass große Kriege heute nicht mehr geführt werden, weil es schwerfällt, sie zu gewinnen.
Eine weitere Vorbemerkung scheint angebracht zu sein. Wenn der Erste Weltkrieg als »Katastrophe« bezeichnet wird, so ist damit nicht gemeint, dass er wie ein schicksalhaftes, unbeeinflussbares Naturereignis über die Menschen hereinbrach, mag dies auch manchen zeitgenössischen Politikern so vorgekommen sein und mögen auch nicht wenige Historiker ähnlich argumentiert haben. Auch heute muss leider immer noch die altbekannte elementare politische Einsicht betont werden, dass Kriege nicht »ausbrechen«, sondern gemacht werden. Der Große Krieg war das Werk von Politikern und Militärs, denen es um die gewaltsame Behauptung und Durchsetzung ihrer jeweiligen staatlichen Interessen gegen konkurrierende Staaten ging. Sie hatten sich seit langer Zeit auf einen – wenn auch natürlich nicht auf diesen – großen Krieg vorbereitet, ihn umfassend geplant, und sie führten ihn schließlich sehr konsequent durch. Dies taten sie im Rahmen von Gesellschaften, in denen verschiedene Gruppen und Kräfte ihrerseits auf vielfältige Art Kriege für notwendig und legitim hielten und entsprechende Haltungen propagierten. Wenn der Krieg dann nicht so schnell und nicht in dem Sinne entschieden werden konnte, wie es von den Regierungen erwartet worden war, so ändert dies nichts daran, dass er von ihnen gewollt war und zu der machtpolitischen Logik gehörte, der sie schon vor dem Krieg folgten. Kein Staatsmann wird jemals sagen, dass er einen Krieg und die damit einhergehenden Leiden und Zerstörungen »gewollt« habe oder will. Dass es aber »leider« Situationen geben kann, in denen sie »schweren Herzens« und im »Bewusstsein der Verantwortung« Waffen gegeneinander einsetzen »müssen«, ist Staatsmännern damals wie heute geläufig. Auf diese defensive Art wollen sie eben Krieg und bereiten ihn vor – auch dann, wenn sie nicht mehr »Kriegs-«, sondern »Verteidigungsminister« heißen.
Es sei noch auf eine Eigenart der Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg hingewiesen, die die folgende Darstellung zu vermeiden bestrebt ist. Mehr als bei anderen Kriegen wurde und wird beim Ersten Weltkrieg darüber debattiert, wer »Schuld« an ihm hatte. Der Grund hierfür liegt in §231 des Versailler Vertrages, in dem die Alliierten dem besiegten Deutschland und seinen Verbündeten die alleinige Verantwortung zusprachen und damit die Beschränkungen, Reparationen und die territorialen Abtretungen begründeten, die sie den Verlierern auferlegten. Die Verankerung einer solchen Schuldzuweisung in einem Friedensvertrag ist allerdings bemerkenswert. Frühere internationale Friedensschlüsse wie der Wiener Kongress oder der Westfälische Frieden kamen ohne Schuldzuweisungen aus. Die Kriegsparteien verhandelten auf der Basis des erreichten Standes der jeweiligen militärischen Auseinandersetzung darüber, unter welchen Bedingungen sie die Feindseligkeiten aufzugeben bereit waren. Dies geschah unter der Voraussetzung gegenseitiger Anerkennung als prinzipiell gleichberechtigte Souveräne. Wird aber am Ende eines kriegerischen Konfliktes zwischen Staaten die Friedensfrage mit der Schuldfrage verbunden, so nimmt die siegreiche Kriegspartei einen moralisch-rechtlichen Standpunkt gegenüber der unterlegenen Kriegspartei ein und bringt diese ideell vor ein Gericht, bei dem der Sieger Ankläger und Richter zugleich ist. Sie nimmt damit eine Position an, die unter souveränen Staaten bis heute – trotz internationaler Strafgerichtshöfe – keineswegs selbstverständlich ist. Was der Sieger dem Besiegten auferlegt, wird nicht allein mit dem erwiesenen Recht des Stärkeren, sondern zusätzlich als adäquate Strafe für ein politisches Fehlverhalten begründet. Die Geschichte des Ersten Weltkriegs sollte aber nicht mit der Intention erzählt werden, Schuldige oder Verantwortliche für die Katastrophe zu identifizieren. Schon ein erster unbefangener Blick auf die Epoche des Imperialismus macht klar, dass alle maßgeblichen Staaten damals direkt oder indirekt expansiv-aggressiv agierten und dafür hochgerüstet waren. Auch die Kalkulation mit einem ›großen‹, zumindest einem ›größeren‹ Krieg, war permanent präsent. Die Vorstellung, die siegreichen Staaten hätten eine derartige (Auf-)Rüstung eigentlich nur betrieben, um gegen die Aggression der späteren Verlierer gewappnet zu sein, ist ebensowenig einsichtig wie die entschuldigende Gegenauffassung, die Staaten seien alle gemeinsam in den Krieg »hineingeschliddert«.
Nicht nur in älteren, sondern auch in neueren und neuesten Darstellungen des Ersten Weltkriegs wurde und wird gerne die Vorstellung ausgemalt, zum Krieg sei es gekommen, weil die damalige Zeit oder Epoche irgendwie aus dem Ruder gelaufen sei oder weil sich die Welt in einer Art Strudel oder Strom unaufhaltsam in Richtung Krieg bewegt habe. So formuliert der deutsche Schriftsteller und Historiker Philipp Blom, der sein Werk über die Jahre vor dem Krieg »Der taumelnde Kontinent« genannt hat, am Ende unter Anknüpfung an berühmte Zeitgenossen ein sozialpsychologisches Urteil über »die« damaligen Menschen, das sie allesamt als Opfer einer schicksalhaften allgemeinen Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen lässt, der sie angeblich nicht gewachsen waren: »Die Veränderungen passierten zu schnell, die Vernunft hatte die Erfahrung überholt, die Menschen fühlten sich, als wären sie in einem rasenden Fahrzeug eingeschlossen, wie Henry Adams es formuliert hatte, oder befänden sich, mit Max Weber, in einem Zug, dessen Weichen nicht gestellt waren. Die richtungslose Beschleunigung machte sie schwindelig.«2 Fahrer, Zugführer, Stellwerke oder Notbremsen, die die Fahrt hätten stoppen können, sind in solchen fatalistischen Bildern, die die hilflose Ohnmacht gegenüber selbst erzeugten Zwängen illustrieren sollen, nicht vorgesehen.
In ähnlichem Tenor lässt auch der australische Historiker Christopher Clark seine 2012 publizierte, vielbeachtete und von vielen Rezensenten gelobte Studie...