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Der kleine Frieden im Großen Krieg

Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten

AutorMichael Jürgs
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783641020590
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Von der Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten
Weihnachten an der Westfront 1914: Inmitten eines erbarmungslosen Stellungskrieges schließen deutsche, französische und britische Soldaten spontan Waffenstillstand auf Ehrenwort. Im Niemandsland feiern sie zusammen Weihnachten. Nach zwei Tagen ist es, auf Befehl von oben, wieder vorbei mit dem Frieden. Diese bewegende, wahre Geschichte vom Aufstand der einfachen Soldaten hat Bestsellerautor Michael Jürgs beeindruckend dokumentiert und mitreißend erzählt.



Michael Jürgs war u.a. Chefredakteur von Stern und Tempo und hat sich als Biograph einen Namen gemacht. Seine Lebensbeschreibungen Der Fall Romy Schneider, Der Fall Axel Springer, Gern hab' ich die Frau'n geküsst (über Richard Tauber), Bürger Grass und Eine berührbare Frau (über Eva Hesse) wurden ebenso Bestseller wie Die Treuhänder, Der kleine Frieden im Großen Krieg (2003) und Der Tag danach. Zusammen mit der Journalistin und TV-Moderatorin Angela Elis legte er das Pamphlet Typisch Ossi, typisch Wessi vor. Viel Anerkennung bekam er für seine Bilanz der deutschen Einheit Wie geht's, Deutschland? (2008) und für seine Geschichte des Bundeskriminalamts BKA. Die Jäger des Bösen (2011) und Codename Hélène: Churchills Geheimagentin Nancy Wake und ihr Kampf gegen die Gestapo in Frankreich (2012); seine Streitschrift Seichtgebiete (2009) verkaufte sich über 100.000mal. Er ist Co-Autor vieler Fernsehdokumentationen, die nach seinen Büchern gedreht wurden.

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Leseprobe

2


Was sich dann zwischen den beiden Fronten ereignete, war ein Stück reiner Menschlichkeit.
Aus dem Kriegstagebuch des 16. Bayerischen Infanterieregiments
 
JACK REAGAN TRÄGT EINEN HOCKER NACH DRAUSSEN UND BIETET der Laufkundschaft seine Dienste an. Es wäre auch im normalen Leben für einen Friseur ungewöhnlich gewesen, auf einem Trottoir in London oder Manchester zu stehen und da seinen Beruf auszuüben, den Kunden unter freiem Himmel statt im Salon die Haare zu schneiden oder den Bart zu stutzen. Aber auf einem gefrorenen Acker vor dem englischen Schützengraben bei Wez Macquart, zwischen Stacheldrahtzaun und Granattrichter, ist es einfach verrückt.
Hauptmann Josef Sewald vom 17. Bayerischen Reserveregiment sieht es ebenso. Man möge sich das mal vorstellen, schrieb er nach Hause, wir sind schließlich im Krieg!, am ersten Weihnachtstag habe es einen Friseur gegeben, der tatsächlich für ein paar Zigaretten pro Soldat, völlig wurscht, woher der kam, von seiner oder der anderen Seite, die Haare gekürzt hat. Mehr noch. Viele Feinde schnitten sich gegenseitig die Haare, was ein noch merkwürdigeres Bild ergab, denn einen Hocker wie Reagan hatten sie ja nicht.
Also knieten die einen vor den anderen, bunt gemischt die Reihe, Dutzende von jungen Männern, die beim Einschäumen und Rasieren und beim lustvollen Zertreten von Läusen in den fallenden Haarbüscheln laut lachten. »Es war keine Spur von Feindschaft zwischen denen«, und würde er es nicht selbst gesehen haben, niemals hätte Sewald so etwas für möglich gehalten.
Den ganzen 25. Dezember über hat es ähnlich wahnsinnige Szenen und absurd anmutende Begegnungen an der Westfront in Flandern gegeben, bei Houplines und St.Yvon, bei Messines und Ploegsteert, in Wijtschate und Warneton, bei Frelinghien und Armentières, in Fleurbaix und in Le Touquet. Wahnsinn war genau genommen das, was sie hier und anderswo seit Monaten betrieben: der Krieg. Wahnsinn war das tägliche Töten, Wahnsinn die Zerstörung von Städten und Dörfern und Existenzen. Dass ausgerechnet in Flandern, auf dessen Feldern die Soldaten buchstäblich um jeden Meter Boden kämpften, wo in knapp fünf Monaten schon Hunderttausende gefallen waren, plötzlich und über Nacht und auf Zuruf übers Feld der Frieden ausbricht, ist zwar der eigentliche Wahnsinn.
Aber dennoch erklärbar. Wo sich die Feinde Aug’ in Aug’ gegenüberlagen, oft ja buchstäblich, erkannte der eine bei allem Hass im anderen auch jene Angst, welche ihn selbst quälte. Die Angst vor dem Tod. Dieses urmenschliche Gefühl war denen in ihren sicheren Hauptquartieren fremd. Welcher Stabsoffizier verirrte sich schon mal an die Front? Deshalb sind die da oben so überrascht, als die ersten Meldungen vom plötzlichen Frieden der da unten eintreffen.
Zum wunderbaren Wahnsinn tragen die normalen Wahnsinnigen nichts bei. Die bleiben sich treu und setzen ihren Krieg am ersten Weihnachtstag fort. Sie seien eben doch Bastarde, miese Feiglinge, die Deutschen, schimpfte Sergeant Blackwood Jones in einem Brief an seine Frau, ein Scharfschütze von denen habe einen Kameraden mit einem gezielten Schuss in den Rücken getötet. Dabei hatte der nur in friedlicher Absicht Tabak und Marmelade gegen Brot und Zigaretten getauscht und befand sich schon wieder auf dem Rückweg in die britischen Stellungen. Nach seiner Schilderung könnte es sich um Sergeant Frank Collins gehandelt haben, im Zivilberuf Briefträger, dreifacher Familienvater, der erschossen worden war, als er mit Zigaretten der Marke Woodbines zwischen den Gräben handelte.
Erschossen von einem preußischen Scharfschützen und nicht etwa von einem sächsischen. Die Sachsen vergessen nie, ihre englischen Verhandlungspartner vor den Preußen zu warnen. Eigentlich sollten wir mit euch auf einer Seite stehen, nicht mit denen. Eine solche Aussage scheint sogar glaubhaft. Denn Colonel Harold Barrington-Brown hat sie bei seinen Gesprächen im Niemandsland bei Armentières wörtlich so gehört und anschließend notiert.
Normaler Wahnsinn auch auf der anderen Seite. Ein deutscher Soldat läuft nachmittags in der Nähe von Givenchy oben auf der Brüstung der Gräben. Vorsichtig balanciert er, um das Gleichgewicht zu halten. Wegen der frostigen Temperaturen ist es ein wenig rutschig auf den Sandsäcken. Er hat einen Korb dabei, den er vor der Brust trägt. Nie werden die Briten gegenüber erfahren, ob in dem Geschenke lagen für die am Vormittag neu gewonnenen Freunde, also für sie. Denn einer von ihnen, der im Graben zurückgeblieben war, unbemerkt von den eigenen Leuten, die sich unterhalten im Niemandsland, tötet den Mann auf der Brüstung. Mag sein, trug ein Augenzeuge in sein Tagebuch ein, dass es auf Befehl geschah, aber »ich fühlte mich beschissen dabei, dass es einer von uns gewesen ist, der das Vertrauen zerstört und den Waffenstillstand gebrochen hatte«.
Es stimmt also, dass an manchen Frontabschnitten, nur knapp tausend Meter Luftlinie von einem wunderbaren Wahnsinn entfernt, der normale Irrsinn weiterging. Dass dort, wie an jedem Tag, geschossen und gestorben wurde, während hier, wie an keinem Tag, gefeiert und gelebt wird.
Am Heiligen Abend, besiegt von friedfertigen Liedern bis tief in die Nacht hinein, hatte der Krieg vorübergehend seine Macht eingebüßt. Die vorherrschende Stimmung, eine Mischung aus Wehmut und Schwermut, war stärker gewesen als der vorher herrschende Hass. »Vor unserem geistigen Auge standen Lichterglanz, strahlende Christbäume, helle blinkende Kinderaugen.« Fern der Heimat, die für Franzosen und Belgier geografisch näher lag als für Briten und Deutsche, aber genauso unerreichbar weit entfernt, waren sie in diesem anderen Land, das niemand besaß, schließlich alle.
Zu normalen Zeiten wären sie am Weihnachtsfest zusammen mit ihren Familien um den kerzengeschmückten Baum gestanden, in geheizten Zimmern, im Frieden auf Erden. Weihnachten 1914 standen sie in der Kälte der flandrischen Nacht im Freien, waren von ihren Angehörigen getrennt und mussten zudem fürchten, die nie wiederzusehen – ihre Eltern, ihre Geschwister, ihre Frauen, ihre Kinder, ihre Liebsten. Fleischermeister Hering aus der Dürerstraße in Plauen hätte von der Geburt seiner Zwillingstöchter am 16. Dezember 1914 sofort erfahren und nicht erst jetzt durch ein Foto im Weihnachtsbrief seiner Frau. Ob er sie in Wirklichkeit je gesehen hat?
Wie schwer »uns Familienvätern« gerade hier das »Fest der Liebe« ankomme, schrieb einer nach Hause, als er sich für die Liebesgaben bedankte, das könne wirklich niemand ahnen. Nur die Kameraden hier, denen es ging wie ihm: »Still wurden die schwatzenden Lippen, heiß wallte das durch die gewaltsam zurückgedrängte Sehnsucht erregte Blut vom Herzen herauf und nach dem Kopf und presste Tränen unter den Wimpern hervor.« Die Heilige Nacht war bestimmt von solchen Empfindungen, die sich heute lesen wie purer Kitsch – aber eben nur heute, im Rückblick.
Die Wirklichkeit damals bestand aus gemischten Gefühlen, sentimentalen, verzweifelten, auch solchen der Hoffnung. Denen gehorchend schien alles möglich, sogar das Unmögliche. Wenn den Soldaten wie den Hirten in der Weihnachtsgeschichte ein Engel auf dem Felde erschienen wäre... und siehe, ich verkündige euch eine große Freude, denn es ist geboren Christus der Herr…, hätten sie zwar ihren Augen nicht getraut, aber womöglich einen wahnsinnigen Moment lang an die Erscheinung geglaubt.
Dennoch hatten sie auf beiden Seiten dem nächtlichen Frieden nicht so ganz die Kraft zugebilligt, sich und sie in den nächsten Tag zu retten. Deshalb standen beim ersten Morgengrauen am Christmas Day die Soldaten hier wie dort eine halbe Stunde lang wachsam Gewehr bei Fuß, stand-to-arms, was sie an jedem gottverdammten Morgen zu tun pflegten, um auf einen eventuellen Angriff vorbereitet zu sein. Es war Teil der täglichen Routine im Stellungskrieg. Deutsche und Briten und Franzosen und Belgier hielten das so vor Tagesanbruch, im Sommer und Herbst früher, jetzt im Winter später, nur die entsprechenden Kommandos lauteten halt anders. Da alle von diesem Ritual wussten, weil sie sich lauernd auf Hörweite gegenüberstanden, gab es in der Morgendämmerung selten einen Angriff. Der bei solchen Attacken nötige Überraschungseffekt entfiel. Deshalb blieben alle lieber da, wo sie waren.
Als endlich die Nacht weicht und der erste Weihnachtstag beginnt, an dem traditionell die Briten Christmas feiern, ist es etwa acht Uhr. Breakfast time, Frühstückszeit. Es war tatsächlich fast an der gesamten Westfront ruhig geblieben, oben bei den Belgiern, weiter unten bei den Franzosen, nicht nur hier zwischen den Briten und den Deutschen. Gerade die Belgier hätten allen Grund gehabt, sich den Annäherungen der verhassten Besatzer zu verweigern, ihnen auch an Weihnachten nicht die Hand zu geben. Doch als an ihrem Frontabschnitt am Yserkanal und an der Yser deutsche Soldaten ohne Vorwarnung aus ihren Schützengräben klettern und unter Gesang und »Kameraden-, Kameraden«-Rufen auf sie zumarschieren, lassen auch belgische Soldaten ihre Waffen sinken, verlassen ihre Stellungen und üben sich in Verbrüderung.
Viele deutsche und britische Kompanien hatten auf dem nächtlichen Feld untereinander den Frieden per Handschlag bekräftigt, ohne zuvor ihre jeweiligen Kommandostäbe in den hinteren Linien zu informieren. Das war in weiser Voraussicht geschehen, denn deren Haltung haben sie sich so etwa vorstellen können, und den Befehl zu schießen wollten sie gar nicht erst hören. Von den Abmachungen über eine Waffenruhe wissen aber auch ganz andere nichts, und die liegen in der vordersten Front. Sie teilen am Weihnachtsmorgen wie an...
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