Der Papst – evangelisch?
Evangelisch? Der Papst ist doch Katholik! Und er wird es auch bleiben, keine Sorge. Auch wenn er da und dort heimlich verdächtigt oder gar offen bezichtigt wird, die römisch-katholische Kirche zu »protestantisieren«. Was man eben einem Jesuiten so nachsagt, wenn einem die Argumente ausgehen. Der renommierte US-amerikanische Theologe Richard Gaillardez (Boston College) fragte – ironisierend: »Is the Pope a Catholic?«1 Das Reformationsgedenkjahr 2017 musste auch dafür herhalten, Jorge Mario Bergoglio SJ als Martin Luther des 21. Jahrhunderts zu karikieren – einer, der wie seinerzeit der Wittenberger Mönch aneckt, provoziert und »Rom« die Leviten liest. Das tut Franziskus gewiss, auf seine Art und Weise, und viele wundern sich nach wie vor über seine manchmal brutal wirkende Direktheit. Aber der Papst ist durch und durch katholisch – und das heißt bekanntlich »allumfassend«.
Orientierung am Evangelium
Manche erinnert dieser Papst an den Konzilspapst Johannes XXIII. (1881–1963), der mittlerweile selig- (2000) und heiliggesprochen (2014) wurde. Andere denken, wenn sie Papst Franziskus erleben, schlicht an das Evangelium und seinen Hauptakteur: Jesus von Nazareth. Als Jesuit von den Exerzitien, den Geistlichen Übungen nach Ignatius von Loyola (1491–1556), geprägt und tief in der Meditation des Lebens Jesu verwurzelt, ist es dem Papst ein Anliegen, dass in der Kirche der Geist des Evangeliums aufleuchtet und in ihrem Handeln die Menschenfreundlichkeit Gottes zu spüren ist, wie sie im Umgang Jesu sichtbar und erlebbar wurde.
»Mit dem Brückenschlag zum Ursprung«, befindet Kurienkardinal Walter Kasper mit Blick auf Papst Franziskus, »ist er Brückenbauer in die Zukunft.«2 Die Zukunft der Kirche hat mit dem Evangelium zu tun oder die Kirche hat keine Zukunft! Weil sie sonst nur um sich selbst kreist, auf die Bewahrung von Traditionen aus ist, aber den Anschluss ans Heute verpasst, an die Nöte und Sorgen der Menschen, an ihre tiefe Sehnsucht nach einem gelingenden Leben.
Es kommt nicht von ungefähr, dass Papst Franziskus sein erstes, ebenso programmatisches wie prophetisches Schreiben – das auch, aber nicht exklusiv auf die noch unter Papst Benedikt XVI. abgehaltene Weltbischofssynode vom Oktober 2012 reagiert und als »Programmschrift zur Kirchenreform« (Bernd Hagenkord SJ) verstanden werden kann – mit dem Titel »Evangelii gaudium« (EG) überschrieben hat. Der allererste Satz darin lautet: »Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen.« Und von Anfang an lässt Franziskus keine Zweifel darüber aufkommen, worum es ihm in seinem Wirken als Bischof von Rom vordringlich geht: »Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder – die Freude. In diesem Schreiben möchte ich mich an die Christgläubigen wenden, um sie zu einer neuen Etappe der Evangelisierung einzuladen, die von dieser Freude geprägt ist, und um Wege für den Lauf der Kirche in den kommenden Jahren aufzuzeigen.« (EG 1)
Kann es da wirklich überraschen, dass ein von der ignatianischen Spiritualität geprägter Jesuit, auch wenn ihn sein Lebensweg ins Bischofs- und, erstmals in der Kirchengeschichte, ins Papstamt führte, vor allem zu einem anstiften will: Jesus zu entdecken – um ihm dann zu begegnen, ihn kennenzulernen und als Erlöser und Heiland zu bekennen? Jesuitisch ausgedrückt, nun mit den Worten eines Papstes: »Ich lade jeden Christen ein, gleich an welchem Ort und in welcher Lage er sich befindet, noch heute seine persönliche Begegnung mit Jesus Christus zu erneuern oder zumindest den Entschluss zu fassen, sich von ihm finden zu lassen, ihn jeden Tag ohne Unterlass zu suchen.« (EG 3)
Für Christen anderer Konfessionen fruchtbar
Ein evangelischer Papst! Dieses Prädikat ist natürlich doppeldeutig: Wen kann da verwundern, dass der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der bereits mehrere Papst-Audienzen hinter sich hat, von Franziskus beeindruckt ist, ja sogar von ihm schwärmt – was manchen seiner Glaubensgenossen gar nicht recht ist? Vor seiner ersten Begegnung meinte er in einem Interview: »Diesem Papst Franziskus fühle ich mich verbunden. Als er gewählt wurde und ich seinen Namen als Papst hörte, habe ich einen innerlichen Luftsprung gemacht.«3 Und im Umfeld einer Audienz für eine Abordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland am 6. Februar 2017, bei der auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, dabei war, meinte Bedford-Strohm: »Dass ein Mensch wie Papst Franziskus weltweit große Aufmerksamkeit genießt, kann auch für Christen anderer Konfessionen fruchtbar sein.«
Damit löste Bedford-Strohm eine Debatte darüber aus, ob es vorstellbar sei, dass der Papst so etwas wie der »Ehrenvorsitzende« der Protestanten werden könne. Die Schlagzeile einer Tageszeitung lautete: »Wird der Papst evangelisch?« In einer Predigt zur Evangelien-Perikope Lukas 5,1–11 im Rahmen eines Bachkantaten-Zyklus aus Anlass des Reformationsgedenkjahres in der Münchner Jesuitenkirche St. Michael nannte Bedford-Strohm am 16. Juli 2017 einen Grund, warum er diesen am Evangelium orientierten und das Evangelium ständig bemühenden Papst viel abgewinnen kann: »Es ist kein Zufall, dass Papst Franziskus weltweit so viele Herzen gewinnt. Nicht weil er von Demut, Bescheidenheit, Liebe und Barmherzigkeit spricht, sondern weil er sie für alle Welt sichtbar selbst lebt. Duschen für Obdachlose schafft, Gefangenen die Füße wäscht und Flüchtlinge aufnimmt. In alledem ist Papst Franziskus auch für mich ein wahrhafter Nachfolger des Petrus, dem Jesus in der Geschichte vom Fischfang den Auftrag zur Nachfolge in der Liebe gegeben hat.«4 Nicht im Manuskript stand ein Satz, der an diesem Nachmittag auch fiel: »So ein Papst ist auch mein Papst!«
Zweifellos ist das Evangelium der beste Ausgangspunkt, von dem aus ökumenische Anliegen und theologische Problem-, ja »Minenfelder« angegangen werden oder neue Impulse erhalten können, um aus theologischen Grabenkämpfen herauszukommen. Aus orthodoxer Sicht hatte – vier Jahre vor Bedford-Strohm bereits, am Anfang des Pontifikats von Papst Franziskus –, der in Graz lehrende orthodoxe Theologe Grigorios Larzentzakis festgehalten: »Von orthodoxer Seite aus kann es ohne Weiteres innerhalb dieser Gemeinschaft von Schwesterkirchen auch einen Ersten geben, einen primus inter pares, den Bischof und Papst von Rom. Dieser Primus, der Erste der Gesamtkirche, der Bischof und Papst von Rom, hätte also in einer vereinten Kirche nicht nur einen bloßen Ehrenprimat, sondern konkrete Pflichten und Aufgaben, ja auch Rechte im Dienste der Gesamtkirche: das Initiativrecht, das Einberufungsrecht, das Vorsitzrecht, das Koordinationsrecht usw. oder was auch immer in der heutigen Zeit wichtig und notwendig für die Gesamtkirche und für das Heil aller Menschen gemeinsam vereinbart wird.«5
Das Leben ist größer als Erklärungen und Deutungen
Dabei kommt es auch auf Zeichen an, die die vielbemühte Rede von der »versöhnten Verschiedenheit« glaubhaft machen: Bei seinem Besuch am 15. November 2015 in der evangelisch-lutherischen Gemeinde im römischen Stadtteil Ludovisi, der Papst Johannes Paul II. als erster Papst nach der Reformation im Jahr 1983 einen Besuch abgestattet hatte, schenkte Franziskus Pastor Jens-Martin Kruse einen Messkelch. Die deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl, Annette Schavan, wies später einmal in einem Interview darauf hin: »Seit der Papst den deutschen Protestanten in Rom einen Abendmahlskelch schenkte, haben wir einen Kairos, den man ergreifen muss.«6
Eine mit einem (natürlich katholischen) Römer verheiratete (evangelische) Deutsche, Anke de Bernardinis, bekundete dabei dem Papst gegenüber ihren Schmerz darüber, dass sie nicht gemeinsam mit ihrem Mann zum Abendmahl gehen könne. Franziskus reagierte zunächst – mit einem verstohlenen Seitenblick auf die anwesenden Kurienkardinäle Kurt Koch und Walter Kasper, den amtierenden und den ehemaligen Präsidenten des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen, zurückhaltend – oder war es ein Schuss Selbstironie? –: »Auf die Frage über das gemeinsame Abendmahl des Herrn zu antworten, ist nicht einfach für mich, vor allem vor einem Theologen wie Kardinal Kasper. Da ›fürchte‹ ich mich!«
Dann aber kam Franziskus, wie so oft, ins Erzählen, und mit einer Geschichte, mit persönlichen Lebenserfahrungen, erläuterte er einen Sachverhalt, aus dem später Kommentatoren herauslesen wollten, er habe zur (für Katholiken verbotenen) Interkommunion angeregt: »Es stimmt, dass in einem gewissen Sinn teilen heißt, dass keine Unterschiede zwischen uns bestehen, dass wir die gleiche Lehre haben – ich unterstreiche das Wort, ein schwer zu verstehendes Wort –, doch frage ich mich: Aber haben wir nicht die gleiche Taufe? Und wenn wir die gleiche Taufe haben, müssen wir gemeinsam gehen. Sie sind ein Zeugnis eines auch tiefgründigen Weges, da es ein ehelicher Weg ist, ein Weg eben von Familie, menschlicher Liebe und geteiltem Glauben. Wir haben die gleiche Taufe. Wenn Sie sich als Sünderin fühlen – auch ich fühle mich sehr als Sünder –, wenn Ihr Gatte sich als...