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Der Flaneur

Streifzüge durch das andere Paris

AutorEdmund White
VerlagAlbino Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783959851855
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Paris, das ist mehr als Notre-Dame und Moulin Rouge. Edmund White lädt uns ein zu einem besonderen Spaziergang durch die französische Hauptstadt: Fernab der großen Attraktionen führt er uns in verträumte Cafés, versteckte Museen und geheimnisvolle Orte wie das Hôtel de Lauzun, in dem der junge Baudelaire ein- und ausging. Auf den Spuren großer Schriftsteller wie Hemingway, Balzac und Rilke lässt White die Bohème vergangener Zeiten lebendig werden und beschwört zugleich das brodelnde Lebensgefühl einer multikulturellen, modernen Metropole. Eine leichtfüßige Annäherung an Paris und sein Lebensgefühl - und ein Buch über den Genuss des Flanierens.

Edmund White, 1940 in Cincinnati, Ohio, geboren, zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Schriftstellern der Gegenwart. Gemeinsam mit anderen Autoren gründete er Anfang der achtziger Jahre die Gruppe Violet Quill, die die schwule Literatur in den USA entscheidend prägte. Bekannt wurde er vor allem durch seine autobiografisch gefärbte Romantrilogie 'Selbstbildnis eines Jünglings', 'Und das schöne Zimmer ist leer' und 'Abschiedssymphonie'. Außerdem veröffentlichte er Biografien über Jean Genet, Marcel Proust und Arthur Rimbaud. Auf Deutsch erschienen zuletzt die Romane 'Jack Holmes und sein Freund', 'Hotel de Dream' und Whites New-York-Memoiren 'City Boy'. Für sein literarisches Schaffen erhielt White zahlreiche Preise, unter anderem den Award for Literature der American Academy of Arts and Letters, den National Book Critics Circle Award und den Preis des Festivals von Deauville für sein Gesamtwerk. Nach langen Jahren in Paris lebt Edmund White heute wieder in New York.

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Leseprobe

1


Paris ist eine Großstadt in dem Sinn, wie London und New York Großstädte sind, wie Rom ein Dorf ist, Los Angeles eine Ansammlung von Dörfern und Zürich ein Notstandsgebiet.

Ein unbekümmerter Freund von mir definiert eine Großstadt als Ort, an dem es sowohl Schwarze als auch Hochhäuser gibt und wo sich die Nacht zum Tag machen lässt. Geht man von dieser Definition aus, mangelt es Paris an Hochhäusern. Zwar verfolgte Präsident Pompidou in den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren das Projekt, Paris mit Wolkenkratzern zu spicken, eine Verschandelung der historischen Stadtgestalt gelang ihm jedoch nur an drei Stellen: mit den fehlkonstruierten Türmen der Zweiguniversität Paris VII an der Rue Jussieu (sie wurde kürzlich geschlossen, weil man zur Isolierung große Mengen Asbest benutzt hatte), mit dem entsetzlichen Tour Montparnasse – und mit der zugigen Ödnis des Büroviertels La Défense.

In La Défense wohnen fast nur Afrikaner und Entwurzelte, während die junge weiße Mittelschicht, für die der neue Stadtteil gedacht war, im restaurierten Viertel Marais lebt – zwischen freigelegten Holzbalken und historischen Kaminen. La Défense erlebte einen nahtlosen Übergang vom Futuristischsein zum Passésein und wurde wohl nie als normaler Bestandteil der Gegenwart wahrgenommen.

Ehrlich gesagt hätte ich statt »normaler Bestandteil der Gegenwart« beinahe etwas anderes formuliert: »dem Inventar der Gegenwart eingeschrieben« – dermaßen tief bin ich schon eingetaucht in den zeitgenössischen französischen Sprachgebrauch in Sachtexten. Ich muss häufig innehalten und mich fragen, wie ein Wesen aus Fleisch und Blut denselben Gedanken formulieren würde. Als ich jung war, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, begaben sich amerikanische Studenten mit intellektuellen Ambitionen auf Pilgerfahrt nach Saint-Germain, an die Sorbonne und in Rive-Gauche-Nachtclubs wie La Rose Rouge (junge Schwule zogen eine andere Farbe vor: La Reine Blanche). Der schnelle Pariser Geist und besonders sein gebieterischer Ton verängstigte damals junge Ausländer jeder Nationalität – zu denen auch ich zählte. Amerikaner erfuhren den zusätzlichen Kitzel, dass man sie verachtete, denn fast vierzig Prozent der französischen Bevölkerung (und nahezu alle Intellektuellen) wählten damals noch kommunistisch. Dieser Abscheu fand jedoch keine Erwiderung. Amerikaner hatten Paris immer schon toll gefunden. Eine französische Studie – Paris dans la littérature américaine von Jean Meral – nennt zweihundert amerikanische Romane über Paris, die zwischen 1824 und 1978 entstanden.

In den Fünfzigerjahren bewunderten und lasen amerikanische und britische Studenten Sartre und Camus und – falls sie religiös waren – Merleau-Ponty, denn ihre eigenen Philosophen hatten alle metaphysischen und die meisten moralischen Fragestellungen abgetan – entweder als Unsinn oder als irrelevant für die wahren Belange der Philosophie. Doch romantische junge Menschen wenden sich der Philosophie natürlich nur zu, weil sie einen metaphysischen Schauder oder ein moralisches Entflammtsein spüren wollen. Die in der englischsprachigen Welt vorherrschende Schule der Sprachphilosophie bot nur wenig, mit dem sich die Seele junger Romantiker aufwühlen oder ihre Fantasie befeuern ließ. Im Gegensatz dazu hatte die französische Philosophie etwas Berührendes, denn sie argumentierte streng ethisch: Das Individuum war für jede seiner Handlungen verantwortlich und lief ständig Gefahr, durch das geringste Zugeständnis an Bequemlichkeit oder Selbstgefälligkeit eine Lüge zu leben und in die gefürchtete Fallgrube des mauvaise foi, der Unredlichkeit, zu tappen. Und noch dazu waren alle Dichter und Denker überall auf der Welt dazu aufgerufen, eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen, engagé zu sein.

Die Rolle von Paris als Generator für Ideen genauso wie für Sitten und Gebräuche oder Moden und Mode trägt ebenfalls zu seinem Status als Großstadt bei. Kleinere Städte setzen keine Standards für eine internationale Ethik – ganz anders, als Paris es seit dem 18. Jahrhundert getan hat. Damals definierten les philosophes den Gesellschaftsvertrag neu, und Voltaire verteidigte einen verurteilten Kriminellen namens Jean Calas, der seiner Überzeugung nach unschuldig war. Voltaire hatte recht, und es gelang ihm, sowohl Calas’ Namen reinzuwaschen als auch Paris weltweit Reputation zu verschaffen als Ort, an dem die Gerechtigkeit siegt – wenigstens dann, wenn man einen berühmten Schriftsteller dafür gewinnen konnte, sich des Falls anzunehmen. Ein Jahrhundert später bestätigte der Romancier Émile Zola die Gültigkeit dieser Regel, indem er das in den Schmutz getretene Banner von Alfred Dreyfus aufnahm, einem jüdischen Offizier der französischen Armee, den ein antisemitisches Militärgericht wegen des Verkaufs von Militärgeheimnissen an die Deutschen verurteilt hatte. 1894 wurde Dreyfus auf die Teufelsinsel vor Französisch-Guayana deportiert. Erst Jahre später kam er frei und wurde schließlich auch rehabilitiert – nachdem Zola den Fall in der Presse wieder aufgenommen hatte. (Eine Reproduktion seines berühmten Leitartikels »J’Accuse!«, eines offenen Briefs an den Präsidenten der Republik, wurde am Abend des 13. Januar 1998 auf die Fassade der Nationalversammlung projiziert, um so an das hundertjährige Jubiläum dieses historischen Ereignisses zu erinnern.)

Vermutlich lassen sich diese beiden Geschichten eher als Beleg für die Bedeutung von Schriftstellern in der französischen Kultur interpretieren denn als Beweismittel zugunsten der französischen Rechtsprechung. Zweifellos hat nämlich die englischsprachige Welt nie etwas gesehen wie das Gerichtsverfahren, das 1943 aufgrund wiederholter Vorstrafen wegen Diebstahls gegen den Schriftsteller Jean Genet angestrengt wurde. Genet stand als Strafe für seine Rückfälligkeit eine Verurteilung zu »lebenslänglich« bevor, doch Jean Cocteau, der Genet entdeckt und für die Veröffentlichung seines ersten Romans Notre-Dame-des-fleurs gesorgt hatte, unterbreitete eine Erklärung, die vor Gericht verlesen wurde: »Er ist Rimbaud, und einen Rimbaud verurteilt man nicht.« Cocteau hob darauf ab, dass der Richter Gefahr lief, als Banause in die Geschichte einzugehen, sollte er die falsche Entscheidung treffen. Nicht einmal ansatzweise argumentierte Cocteau damit, dass Genet unschuldig, sondern schlicht damit, dass er ein Genie sei. Genet kam dank dieser Fürsprache ungeschoren davon.

Allerdings sollten diese exemplarischen – und auch bestürzenden – Fälle abgewogen werden gegen die herrische und oft sogar arrogante Art, mit der die Justiz Durchschnittsbürgern begegnet. Es gibt in Frankreich keine Habeas-Corpus-Akte, und bis vor Kurzem konnten völlig unschuldige Menschen für Monate, ja selbst Jahre in Sicherungsverwahrung genommen werden, wenn ein Richter der Ansicht war, sie wüssten mehr, als sie preisgaben. Mavis Gallant hat über den Richter in Frankreich geschrieben: »Es steht ihm frei, einen in Haft zu halten, bis man seine Meinung ändert. Wenn man sich als unschuldig erweist, hat man kein Regressrecht gegenüber dem Gesetz. Nicht einmal auf den symbolischen einen Franc Schadenersatz kann man klagen, obwohl die Sicherungsverwahrung einen vielleicht um den Job, das häusliche Gleichgewicht und die Reputation gebracht hat.« In den Sechzigerjahren schmachteten im Gefolge des Algerienkriegs Hunderte von Arabern für lange Zeit im Gefängnis, ohne dass man Anklage gegen sie erhoben oder sie gar erst verurteilt hätte.

Jetzt habe ich aber genügend ernsthafte, intellektuelle (und sogar negative) Gründe für eine Definition von Paris als Großstadt angeführt. Es gibt dann noch etliche weniger bedeutende Gründe – etwa dass Paris ein Ort ist, wo man den ganzen Tag verschlafen kann, wenn man das möchte, wo man an Heroin herankommt oder wo man absurde Theorien aufschnappen kann, die schlüssig dargelegt und mit Verve diskutiert werden (besonders in den »philosophischen Cafés«, in denen regelmäßig Diskussionsveranstaltungen zu Fragen der Ethik stattfinden). In Paris kann man ungekünstelter Toleranz gegenüber anderen Rassen und Religionen begegnen – und gegenüber dem Atheismus. Es ist eine Stadt, in der man dem Partnertausch frönen kann, wenn einem danach ist – in der Geborgenheit eines speziellen Clubs namens Chris &Manu oder nahe der Porte Dauphine im eigenen Auto (wo man den zusätzlichen Kitzel des Exhibitionismus genießen kann, da männliche Voyeure um die geparkten, meist abgeschlossenen Autos herumschleichen und durch die beschlagenen Scheiben spähen). Paris ist eine Stadt, in der die Menschen selbst dem gräulichsten Bericht über Inzest und Mord mit einem verbalen Schulterzucken begegnen: »Mais c’est...

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