Was ist denn eigentlich Liebe?
Cornelia Feller, 82 Jahre
Ich war immer gerne für mich alleine. Erst jetzt mit 82 Jahren vermisse ich jemanden. Ich wünsche mir eine Freundin, noch lieber einen Freund, den ich morgens unkompliziert anrufen könnte, um zu fragen: »Was machst du heute – essen wir zusammen?« Nicht einer, der ständig anrufen oder vor der Türe stehen, sondern jemand, den ich regelmäßig treffen würde. Keine Ahnung, wo man solche Männer trifft. Computer und Internet habe ich nicht, aber so würde ich sowieso niemanden kennenlernen wollen. Eher stelle ich mir vor, dass wir uns zufällig begegnen würden. Wahrscheinlich bin ich eine Romantikerin.
Zweimal war ich verheiratet. Heute frage ich mich, ob ich tatsächlich je geliebt habe. Die, in die ich mich verliebt hatte, wollten mich nicht. Und die, die mich unbedingt haben wollten, in die war ich womöglich gar nicht richtig verliebt. Ich habe mir nie Liebesfilme angesehen, die haben mich gelangweilt. Erst in letzter Zeit habe ich mir ein paar angeschaut, und sie haben mich sehr berührt. Haben mich aber auch traurig und wehmütig gemacht. Selbst wenn es in diesen Filmen oft nur darum geht, wie sich zwei Menschen begegnen. Und selten darum, was danach passiert – wenn zum Beispiel einer der beiden besitzergreifend wird. Seither frage ich mich: Was ist denn eigentlich Liebe?
Meinen ersten Mann habe ich beim Jazz kennengelernt. Ich lebte da schon länger nicht mehr zu Hause, sondern wohnte mit einer Freundin zusammen. Wann immer möglich, gingen wir tanzen. Jeans und Pulli zogen wir erst im Klub an, denn Anfang der Fünfzigerjahre trugen Frauen noch keine Hosen, sondern Rock oder Jupe. Einmal auf einem Jazzball, ich tanzte gerade zu Bebop, kam ein Mann herein. Verkleidet als Neandertaler, ein Fell über die Schultern geworfen, blieb er an der Türe zum Saal stehen und starrte mich einfach an. Ich spürte seine Blicke. Sah ihn aber kaum, weil ich nie gerne meine Brille trug. Noch am selben Abend auf der Tanzfläche sagte er mir, dass er mich liebe. Das war verrückt! Er fragte, ob wir uns wiedersehen könnten. Auf einen festen Freund hatte ich nicht so richtig Lust. Ganz im Gegenteil: Ich habe nie explizit nach einem Mann gesucht. Das Leben, das ich hatte, gefiel mir ganz gut. Ich tanzte mit verschiedenen Männern und wohnte mit einer Freundin zusammen. Gerne wäre ich Schauspielerin geworden und nach Paris gegangen, doch das traute ich mich nicht.
Dass mich einer so sehr wollte, das beeindruckte mich. Ich war gerade erst zwanzig Jahre alt, er fünf Jahre älter – er hatte aber ein Leben hinter sich, das ihn zwanzig Jahre älter machte. Er war unehelich aufgewachsen, in einem kleinen Dorf, war mit 16 Jahren von zu Hause weggegangen, landete schließlich in der Psychiatrie und bekam einen Vormund. Während unserer Ehe wurde er ein angesehener linker Schriftsteller, in meiner Generation ist er sehr bekannt. Als wir zusammenkamen, hatte er kaum Geld, nur wenig Kleider und hauste in einem winzigen Zimmer, in dem es sogar fast ein wenig stank. Er faszinierte mich. Also blieb ich. Am Anfang hatten wir lediglich, was ich verdiente. Er schrieb und begann sofort, mit einflussreichen Leuten Kontakt aufzunehmen. Dass sich unser Leben anders entwickelte, als ich mir das ursprünglich vorstellte, realisierte ich erst nach ein paar Jahren. Ich hatte mir mein Leben mit ihm anders, freiheitlicher vorgestellt: Schreiben kann er überall, also würden wir herumreisen, er würde schreiben und ich in einem Büro arbeiten, wenn wir Geld brauchten. Seine Manuskripte tippte ich ja ohnehin ab. Er aber bestimmte, und ich machte mit. Er wollte möglichst schnell Karriere machen, dafür brauchte er eine Familie. Und er wollte nicht, dass ich Schauspielerin wurde.
Wir heirateten, und bald darauf kam unser Sohn zur Welt. Damals sind Kinder häufig einfach passiert, ich wusste ja nicht einmal richtig, wie man verhütet. Obwohl ich da bereits eine Abtreibung hinter mir hatte: Als ich mit 18 von meinem damaligen Freund das erste Mal schwanger wurde, war ich furchtbar verzweifelt. Sie sollten mich nicht suchen, schrieb ich meinen Eltern in einem Abschiedsbrief. Denn ich dachte, in meiner Situation gebe es keine andere Lösung, als von einer Brücke zu springen. Meine Mutter fand mich, und zusammen gingen wir zu einem Spezialisten. Berührt hatte mich das nicht so sehr, auch Gewissensbisse hatte ich keine. Eher habe ich mich geschämt. Und gesprochen wurde darüber nicht. Auch meinem Mann erzählte ich später nie davon.
Über die Geburt unseres Sohnes freute er sich sehr. Ich selbst wusste zuerst gar nichts anzufangen mit dem Kind. Es war eigenartig. Ich kann nicht sagen, ich hätte dieses Kind gewollt. Früher wusste ich: Ich will nie ein Kind, nie! Schlicht, weil ich selbst die Welt sehr negativ erlebt hatte. Und weil ich nicht wollte, dass ein Kind ähnliche Erfahrungen wie ich machen musste. Doch als ich meinen Sohn zum ersten Mal in den Armen hielt, fühlte sich das großartig an. Hilflos auch, weil ich ja keine Ahnung hatte, wie man mit Kindern umgeht. Ich spürte, dass ich ab da eine ganz besondere Verantwortung trug. So sehr, dass ich seit jenem Moment auch keine Selbstmordgedanken mehr hatte.
Zwei, drei Jahre bestimmt waren wir sehr glücklich. Die ersten Jahre blieb ich zu Hause, Kinderhorte gab es noch keine. Mein Mann arbeitete tagsüber beim Radio, um etwas Geld zu verdienen. Abends saß er bis 22 Uhr an seiner Schreibmaschine. Das weiß ich deshalb so genau, weil ab 22 Uhr die Nachtruhe galt und die alten Schreibmaschinen unheimlich laut waren. Er fing ja ganz unten an, mit einer Bürostelle, und machte innerhalb kurzer Zeit Karriere als Schriftsteller. Heute denke ich, dass ich sehr viel dazu beigetragen habe, dass er überhaupt schreiben konnte. Denn ich ließ ihn einfach. Konflikten aber ging er aus dem Weg. Wollte ich mit ihm über unsere Beziehung reden, sagte er nur: »Ich liebe dich, ich sorge für dich. Was willst du denn mehr?« Das reichte mir aber nicht. Denn seine Liebe spürte ich nicht, und er ging ja überhaupt nicht auf mich ein. Er bestimmte, wie ich zu fühlen hatte. Ich weiß nicht, ob er mich tatsächlich so sehr liebte, wie er das immer behauptete. Mittlerweile weiß ich, dass er vor allem nicht alleine sein konnte.
Wir waren 16 Jahre verheiratet. Treu waren wir beide nicht. Ich wusste von ihm, dass er ein Verhältnis mit einem Abteilungsleiter im Radio hatte, obwohl er keineswegs schwul war. Als ich ihn darauf ansprach, stritt er es ab. Heute würde ich mich wehren! Damals aber war ich schüchtern und verklemmt und nahm das einfach so hin. Heute bin ich ein ganz anderer Mensch. Eifersüchtig war ich nicht, aber es ärgerte mich. Erst viel später erfuhr ich, dass er auch andere Freundinnen hatte, und sogar mit einer Frau ein Kind. Davon hatte ich nichts gemerkt. Oder vielleicht war es mir auch egal. Es gibt viele Nebengeschichten, die ich nicht alle erzählen kann. Eine Liebesbeziehung hatte ich mit seinem Halbbruder. Ihn habe ich tatsächlich geliebt – und er mich. Er bewunderte mich als Frau seines großen Bruders. Er war ganz anders, wahnsinnig herzlich. Wir standen uns sehr nahe, mit ihm konnte ich träumen und Pläne schmieden. Nur zusammen sein konnten wir nicht, schließlich war er ja mein Schwager. Wir fürchteten, mein Mann, sein Bruder, könnte uns alle beide umbringen. Ich habe meinem Mann nie davon erzählt, aber er hatte es gemerkt, das weiß ich. Die Geschichte endete tragisch, als sein Bruder sich das Leben nahm.
Zweimal trennte ich mich von meinem Mann und kehrte beide Male wieder zurück. Hauptsächlich wegen meines Sohnes. Ich vermisste ihn, liebte ihn so sehr, dass ich es einfach nicht ertrug. Später bekamen wir noch eine Tochter. Erst die dritte Trennung war definitiv, weil da der Mann eine Rolle spielte, den ich später heiratete. Begegnet sind wir uns in den Ferien, die ich mit meinem ersten Mann verbrachte. Auch andere Künstler und Freunde waren da. Auch dieser zweite Mann sah mich und wusste sofort: »Du gefällst mir. Du bist die erste Frau, die ich liebe.« Eine Nacht lang wägte ich ab, überlegte hin und her – und entschied mich schließlich für ihn, verließ meinen ersten Mann noch während der Ferien. Wahrscheinlich wusste ich, dass ich es nicht alleine schaffen würde, von meinem ersten Mann wegzukommen. Doch die Trennung war happig. Mein erster Mann plagte mich, schrieb uns fürchterliche Schandbriefe, ich sei die letzte Hure und was weiß ich was alles. Später heiratete er noch zweimal. Die Erste sei mir ähnlich gewesen, sagte man. Sie trug wohl das Haar kurz, war auch groß und schlank – das war aber auch alles. Und doch: Er suchte mich offenbar wieder. Vielleicht war ich doch seine große Liebe?
Auch beim zweiten Mann würde ich heute sagen: Richtig in ihn verliebt war ich nicht, nein. Er war Fotograf, einer, der viel arbeitete. Ich mochte ihn. Er spielte den Clown, der er aber gar nicht war, wenn man ihn besser kannte. Er wolle mir ein Haus bauen, sagte er. Ich wollte aber gar kein Haus. Noch immer wäre ich lieber nach Paris gegangen. Warum ich wieder den Vorstellungen eines Mannes folgte, statt meine eigenen Pläne zu verwirklichen, weiß ich nicht. Heute glaube ich, dass ich vor allem auf der Suche nach jemandem war, der mich gerne mochte, der mich liebte. Denn ich bin ohne viel Liebe aufgewachsen.
Mein zweiter Mann hatte ein gut gehendes Fotoatelier in einer anderen Stadt, also zog ich zu ihm. Wir heirateten, weil ein befreundeter Anwalt mir das nahegelegt hatte. Er kannte meine finanziellen Verhältnisse. Er wusste, dass ich nichts besaß, dass ich bei meinem ersten Mann auf alles verzichtet hatte. Geld war mir zwar nicht so wichtig, aber die Argumente sah ich ein. Auch mein zweiter Mann freute sich über...