1. Über Erfahrung
Die erste Trainerstelle: Reggiana (Sommer 1995 – Sommer 1996)
Würde der Präsident des AC Reggiana heute mit dem Gedanken spielen, einen ehemaligen Spieler mit lokalen Wurzeln als neuen Trainer zu verpflichten, und er fragte mich um Rat, dann würde ich antworten: »Wieso denn den? Er hat keine Lizenz, und er hat noch nie irgendwo gecoacht. Er mag ein guter Spieler gewesen sein, aber wen interessiert das?« Zu meinem Glück funktioniert die verrückte Welt des Fußballs nicht so.
Denn es lief wirklich so: Reggiana stellte mich im Sommer 1995 ein, weil ich ein berühmter Spieler und ein Junge aus der Gegend war. Manchmal sind es die kleinen Dinge, die den Ausschlag geben. Wenn man es liest, ergibt es vielleicht überhaupt keinen Sinn, aber für mich war Reggiana absolut sinnvoll, und umgekehrt traf es ebenso zu. Der Klub war soeben in die Serie B abgestiegen, und sie brauchten einen Namen. Ich hatte diesen Namen, und ich war bereit. Nicht unbedingt für das Projekt, aber auf jeden Fall dafür, Verantwortung zu übernehmen.
Heute weiß ich, dass eine erfolgreiche Spielerkarriere allein nicht ausreicht, um ein guter Trainer zu werden. Sie ist eine hilfreiche Grundlage, um einen Draht zu den Spielern herzustellen und sie zu verstehen. Aber was alle anderen Aspekte betrifft, ist eine fundierte praktische und theoretische Ausbildung unerlässlich. Am Anfang hatte ich noch nicht mal eine Trainerlizenz. Ich hatte zwei Drittel der Trainerausbildung fertig; den abschließenden Teil absolvierte ich dann parallel zur bereits begonnenen Trainertätigkeit bei Reggiana. Ich bin grundsätzlich der Meinung, dass man seine Qualifikationen erwerben sollte, bevor man eine Berufslaufbahn einschlägt, aber manchmal ist das nicht möglich. Die formale Qualifikation sollte generell kein Selbstzweck sein in Unternehmen – manchmal gibt es Naturtalente, bei denen es Verschwendung wäre, sie auf die Schulbank zu zwingen. Aber wenn immer möglich, sollte man sich qualifizieren, und die Arbeitgeber sollten diese Ausbildung wertschätzen.
Da ich keine Lizenz hatte, musste ich jemanden einstellen, der pro forma der Trainer war und faktisch als mein Assistent fungierte. Außerdem brauchte ich einen Torwarttrainer. Ich suchte im alphabetischen Verzeichnis des italienischen Trainerverbands nach einem Mann, der zu mir passte und der beide Kriterien erfüllte. Der erste Name, auf den ich stieß, war der von Giorgio Ciaschini. Er lebte in der Nähe von Reggio Emilia, und ich hatte noch nie von ihm gehört, aber ich rief ihn trotzdem an, und er willigte ein, zu kommen und mit mir zusammenzuarbeiten. Und das taten wir dann über zehn Jahre lang. Er ist seit Beginn meiner Trainerkarriere ein loyaler Teil meiner Fußballfamilie, und wie in diesem Buch immer wieder deutlich werden wird, sind mir solche langfristigen Bindungen sehr wichtig. Treue Kollegen sind ein elementarer Faktor für Erfolg und Zufriedenheit im Laufe der Karriere.
Der Präsident hatte zu Saisonbeginn die Meisterschaft der Serie B, also den sofortigen Wiederaufstieg, als Saisonziel ausgegeben. Aber am 7. Spieltag fanden wir uns mit vier Unentschieden und drei Niederlagen am Ende der Tabelle wieder. Wahrscheinlich war der schlechte Start meiner Unerfahrenheit geschuldet, denn am Anfang war es nicht so einfach, der Boss zu sein, nachdem ich gerade noch Spieler gewesen war.
Natürlich war ich nicht vollkommen unerfahren. 1992 hatte sich mir die Gelegenheit geboten, Assistenztrainer von Arrigo Sacchi in der italienischen Nationalmannschaft zu werden. Ich hätte durchaus noch eine Saison als Spieler bei Milan dranhängen können, aber ich zog es vor aufzuhören, weil ich dachte, dass die Erfahrung bei Sacchi gut für mich wäre. Und in der Tat war diese Zeit von entscheidender Bedeutung für meine Entwicklung als Trainer, und vielleicht wäre ich ohne diese Jahre mit den Azzurri bei Reggiana gescheitert.
Als ich Sacchi mitteilte, dass ich den Job bei Reggiana annehmen und künftig auf eigenen Füßen stehen wolle, sagte er, es sei an der Zeit, und wünschte mir Glück. Aber obwohl ich in der Nationalmannschaft die Nummer zwei hinter Sacchi gewesen war, ist es doch etwas völlig anderes, wenn man selbst der Boss ist.
Wenn man Trainer wird, nachdem man gerade erst seine aktive Karriere beendet hat, besteht das Problem vor allem darin, dass man meint, alles zu wissen. In Wirklichkeit weiß man nichts. Zunächst einmal muss man zwei schwierige und wichtige Dinge hinbekommen – ein gutes Verhältnis zu den Spielern und die eigene neue Rolle als Boss. Beides ist nicht unmöglich, und es ist seltsam, dass viele Leute bestreiten, dass ein Trainer gleichzeitig einen guten Draht zu den Spielern haben und seine Autorität wahren könne.
Richtiggehend Angst machte mir anfangs, dass ich jetzt regelmäßig vor die Spieler hintreten und zu ihnen sprechen musste. Zu begreifen und zu akzeptieren, dass ich der Boss war, fiel mir sehr schwer. Ich kenne meine eigenen Unzulänglichkeiten, meine eigenen Verletzlichkeiten, und ich konnte nicht glauben, dass andere sie nicht sehen konnten. Deine Leute erwarten vielmehr, dass es perfekt läuft, weil du der Boss bist. Dass es für dich selbst neu ist, interessiert sie nicht. Man hat plötzlich die Karrieren anderer Menschen in der Hand und darf sie nicht merken lassen, wie nervös einen das macht. Vielleicht ist das für die meisten von uns das Schwierigste am Übergang vom Angestellten zum Chef.
Aber ich musste lernen, meine Angst zu besiegen. Die Ansprachen sind das wichtigste Führungsinstrument des Trainers. Idealerweise spricht man zugleich für die Spieler und mit ihnen.
Während meiner Kabinenansprachen vor dem Spiel waren nicht immer alle aufmerksam und hellwach. Der eine gähnte, ein anderer saß mit geschlossenen Augen in der Ecke. Manche starrten ausdruckslos aus dem Fenster – und bisweilen schlief auch mal einer tief und fest ein. Vor allem für einen Anfänger ist es wirklich schwierig, die ganze Zeit jedermanns Aufmerksamkeit zu fesseln – und die unterschiedlichen Arten des Zuhörens und die verschiedenen Grade der Aufmerksamkeit nicht persönlich zu nehmen. Immerhin saßen da ja – Kader und Mitarbeiter – 25 bis 30 Leute.
Am Anfang hörten normalerweise alle zu, aber sobald ich die Aufstellung bekannt gab, wurde es schwierig. Man hat achtzehn, vielleicht zwanzig Spieler, aber sobald man die elf für die Startformation genannt hat, machen die Nicht-Nominierten plötzlich mürrische Gesichter und schalten ab. Ich kannte dieses Phänomen noch bestens aus meiner aktiven Zeit. Eine Zeit lang sparte ich mir die Nennung der Startelf bis ganz zum Schluss der Teambesprechung auf, damit alle zuhörten und mitbekamen, was ich mir überlegt hatte. Aber egal, wann man die Aufstellung bekannt gibt – mit dem Phänomen der unzufriedenen Spieler muss man stets leben.
Eine andere Schwierigkeit, vor der man in seinem ersten Job als Cheftrainer steht, ist die simple Frage, wie man die Mannschaft auf das Spiel vorbereitet. Spielern fehlt das volle Verständnis für die umfangreiche Vorbereitung, die aus Sicht eines guten Trainers nötig ist – ich weiß, dass es mir als Aktivem nicht anders ging. Aus der Perspektive der Spieler sieht alles so einfach aus. Ich habe gelesen, dass Bill Parcells, der legendäre American-Football-Cheftrainer, davon überzeugt war, dass »alle den Willen haben, zu gewinnen, aber nur die Besten den Willen haben, das Gewinnen auch vorzubereiten«. Er hatte ja so recht! Am Anfang wusste ich nicht mal, wie ich eigentlich das Training aufbauen sollte. Ich weiß nicht, wie es anderen Trainerneulingen geht, aber mir fehlte damals schlicht das Fachwissen darüber, wie man das Training richtig organisiert. Immerhin konnte ich auf meine Erfahrungen bei Sacchi zurückgreifen. Am Anfang kopierte ich einfach seine Methoden, aber allmählich begann ich meine eigenen Ideen und Ziele zu entwickeln – und meine eigenen Trainingspläne.
Mein Assistent Giorgio Ciaschini war mir während dieser Zeit eine enorme Hilfe. Ich musste lernen, zur Mannschaft zu sprechen, damit sie an mich glaubte, denn wir mussten langsam mal anfangen zu gewinnen. Ich trommelte die Spieler zusammen und sagte ihnen: »Ich habe meine Ansichten darüber, wie wir spielen und auftreten sollten. Wenn ihr damit einverstanden seid, können wir zusammenbleiben. Wenn ihr nicht einverstanden seid, will ich nicht warten, bis der Besitzer mich rauswirft. Dann gehe ich. Wenn wir uns nicht einig sind, können wir hier und jetzt Schluss machen.« Fast alle Spieler waren auf meiner Seite. Nur zwei wollten mir nicht folgen – einige unzufriedene Akteure hat man, wie gesagt, immer im Kader. Allmählich erzielten wir bessere Ergebnisse, und wir beendeten die Saison schließlich auf einem Aufstiegsplatz. In der folgenden Saison würden wir in der Serie A spielen.
Während der ersten sieben Spiele hatte ich gedacht, dass ich es nicht packen würde als Trainer. War das wirklich der richtige Beruf für mich? Und wollte ich mich diesem permanenten Druck aussetzen? Der war übrigens zum größten Teil selbst erzeugt: Ich stand am Beginn meiner Trainerlaufbahn und wusste, wie entscheidend diese Phase für meine gesamte Karriere war. Heute bin ich Mitglied der League Managers Association, und wenn ich in den Unterlagen der LMA lese, wie wenig Zeit die meisten neuen Trainer in einem Job bekommen, dann wird mir angst und bange. Ich bin froh, dass ich diese Zahlen nicht kannte, als ich bei Reggiana war.
Das Ende meiner Erfolgskurve, die Trennung, erfolgte nicht in Form eines Rauswurfs, sondern weil mir...