Gefangene
der eigenen Lügen
Sarajewo im Donbass
Vor einem Jahr noch konnte die Welt mit Gelassenheit auf das anstehende Jahr 2014 blicken. Eine kriegerische Konfrontation auf europäischem Boden schien nicht mehr vorstellbar. Man redete sich ein, aus den schrecklichen Lektionen des Ersten Weltkrieges gelernt zu haben. Heute sind diese Illusionen zerplatzt, und wir sehen uns mit einer ganzen Serie von weltweiten Konflikten konfrontiert, die den Regierenden ein schändliches Zeugnis ausstellen. Alte Wunden, von denen man annahm, sie seien längst verheilt, brechen wieder auf.
Der absurdeste Territorialkonflikt spielt sich in der Ukraine ab, und das Blutvergießen erreicht seinen Höhepunkt präzis in einer Region, die im Zweiten Weltkrieg zu den blutigsten Schlachtfeldern gehörte. Noch ist es hoffentlich zu früh, von »Sarajewo im Donbass« zu sprechen. Der Wunsch der ost-ukrainischen Provinzen Lugansk und Donezk, sich aus der Bevormundung durch Kiew zu lösen, zumindest einen gewissen Grad an Autonomie zu erreichen, wäre vielleicht auf diplomatischem Wege zu regeln gewesen. Aber da passierte der tragische Absturz der Malaysian-Airways-Maschine MH 17, der den bislang kontrollierbaren Widerstreit vollkommen aus dem Ruder laufen ließ. Es lag bestimmt nicht im Interesse Wladimir Putins, eine solche Tragödie heraufzubeschwören. Das dramatische Ereignis, das Rußland sofort der allgemeinen Verurteilung aussetzte, war für den russischen Staatschef ein schwerer Rückschlag. Wenn eine Regierung ein Interesse daran hatte, eine solche Eskalation zu vermeiden, dann diejenige im Kreml. Aber der Schuldspruch war schon gefällt.
Durch einen grausamen Zufall wurden am gleichen Tag die Furien des Krieges in unmittelbarer Nachbarschaft Europas entfesselt. Der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu gab seiner Armee den Befehl, in den Gaza-Streifen einzurücken und die dort tief eingebunkerten Tunnel der palästinensischen Widerstandsbewegung zu sprengen. Der israelische Mossad hatte den Grad der Aufrüstung seiner Gegner wohl sträflich unterschätzt, und ein staunendes Publikum mußte sich fragen, auf welche Weise die Vielzahl von Raketen in diesem Gebiet konzentriert werden konnten, das in etwa der Größe des Stadtstaates Bremen entspricht. Die Verluste unter der palästinensischen Zivilbevölkerung waren entsetzlich und trugen dazu bei, daß die Weltöffentlichkeit, die bislang Israel zuneigte, in Protest und sogar Abscheu gegen den Judenstaat umschlug.
Andererseits stellt sich die Frage, wie der Staat Israel unter dem ständigen Beschuss eine halbwegs normale Existenz weiterführen kann, auch wenn die meisten Raketen aus einem schier unerschöpflichen Arsenal durch das Abwehrsystem »Iron Dome« schon im Anflug vernichtet werden können. Eine einzige Rakete, die in der Nähe des Flugplatzes Ben Gurion einschlug, drohte die Verbindung Israels mit der Außenwelt zu strangulieren. Für die zwei Millionen Menschen, die im Küsten-Fetzen von Gaza zusammengepfercht leben, schlägt die Stunde der totalen Verzweiflung.
Aber mit Palästina ist es ja nicht getan. In ihrem verbissenen Versuch, das Assad-Regime von Damaskus zu stürzen, hatten sich die seltsamsten Koalitionen gebildet. Hamas, so heißt es, steht den Muslimbrüdern nahe, die wiederum werden von der ägyptischen Militärclique Fattah el-Sisis als ihre Todfeinde betrachtet. Der Gipfel der Absurdität ist erreicht, wenn sich die Offiziere von Kairo eher mit Israel verständigen als mit ihren arabischen Brüdern der Qassem-Brigaden von Hamas. Aber die reformerische Bewegung der Muslimbrüder ist ja nicht nur den Ägyptern ein Dorn im Auge. Sowohl Saudi-Arabien als auch die Golf-Emirate fühlen sich durch den revolutionären Impetus der Ikhwan bedroht und stehen – was vor kurzem noch völlig undenkbar war – der israelischen Abschnürung von Gaza zur Seite. In Syrien hat sich die »Freie Syrische Armee«, mit der die Amerikaner ein westlich orientiertes System installieren wollten, als kampfuntauglich erwiesen. Die gelieferten Waffen kamen den Jihadisten zugute, die über die türkische Grenze eingedrungen waren. Unter diversen Etiketten – Jibhat el-Nusra oder Ahrar es-Sham – gerierten sie sich als unversöhnliche Gotteskrieger, die eine integrale Anwendung der Scharia verlangten.
Ein bodenloser Abgrund öffnete sich, als neben diesen radikalen Islamisten wie aus dem Nichts eine kriegerische Formation auftauchte, die zunächst einen »Islamischen Staat im Irak und in Syrien« proklamierte, um ihn dann unter der Bezeichnung »Islamischer Staat« auf die ganze islamische Umma auszuweiten. Von nun an zitterte der gesamte Orient vor einem Prediger, der sich den Namen Abu Bakr el-Baghdadi zulegte, dessen geistliche wie auch weltliche Autorität von Marokko bis Indonesien reichen sollte. In einem sensationellen Blitzfeldzug erwies sich dieser »Islamische Staat« allen anderen kämpfenden Formationen überlegen. Es handelte sich um eine »Grüne Legion«, deren Freiwillige ihr Kriegshandwerk auf sämtlichen Schauplätzen des Jihad erworben hatten und durch ihr bloßes Auftauchen die Regierungsarmee des Ministerpräsidenten Nuri el-Maliki in panische Flucht versetzten, unter Zurücklassung ihres gewaltigen Waffenarsenals.
Den spektakulärsten Erfolg erzielten diese Takfiri, als sie die zweitgrößte Stadt des Irak, die nördliche Metropole Mossul, im Handstreich eroberten. Der Pseudo-Kalif el-Baghdadi trat nunmehr unter dem schwarzen Turban der Nachfahren des Propheten auf. Von Mossul aus bildeten die IS-Kämpfer ein zusammenhängendes Territorium, in dem die schiitische Bevölkerung von Ausrottung bedroht war. Die gleiche Unerbittlichkeit galt auch für die dort lebenden Christen und die geheimnisvolle Religion der Yeziden, die ihren Ursprung angeblich auf die ferne Lehre Zarathustras zurückführt.
Die Armee des Kalifen näherte sich Bagdad. Und Barack Obama sah sich endlich gezwungen, gegen diese Geißel Gottes mit Waffengewalt vorzugehen. Als die Sanktuarien der schiitischen Bevölkerungsmehrheit des Irak, ihre ehrwürdigsten Heiligtümer von Nedjef und Kerbela durch die Fanatiker des »Islamischen Staates« von Schändung und Vernichtung bedroht waren, gab der schiitische Groß-Ayatollah Ali es-Sistani endlich seine quietistische Zurückhaltung auf und forderte seine Anhängerschaft durch eine gebieterische Fatwa zum Widerstand auf. Bei meinem letzten Aufenthalt 2012 in Nedjef und Kerbela als Gast der dortigen schiitischen Hausa hatten mir die höchsten Wortführer noch versichert, sie verließen sich in diesem konfessionellen Erbstreit zwischen Sunniten und Schiiten allein auf den Schutz Allahs. Das hat sich gründlich geändert. Die diversen Milizen, die bislang von dem schiitischen Ministerpräsidenten Nuri el-Maliki in Schach gehalten wurden, verwandelten sich nunmehr in den einzig wirksamen Abwehrschild gegen den Ansturm der IS-Kämpfer. Dabei konnten sie sich auf die verbündete Eliteformation der iranischen Pasdaran stützen.
Die Amerikaner, die geschworen hatten, sich nicht noch einmal mit Bodentruppen im »Fruchtbaren Halbmond« zu engagieren, zögerten immer noch, zumindest ihre Air Force gegen die schier unbesiegbaren Horden el-Baghdadis einzusetzen. Als diese tollwütigen Sunniten jedoch dazu übergingen, systematisch Massaker unter den Andersgläubigen oder Abtrünnigen zu veranstalten, genehmigte Barack Obama das militärische Eingreifen seiner Luftwaffe mit dem Argument, es müsse ein Genozid der Christen und Yeziden verhindert werden.
In der Zwischenzeit war die Islamische Republik Iran natürlich nicht untätig geblieben. Die elitäre Quds-Brigade hatte die schiitischen Milizen ausgebildet und aufgerüstet, und es ergab sich die paradoxe Situation, daß nach mehr als dreißig Jahren gegenseitiger Verfemung und Todfeindschaft Amerikaner und Iraner plötzlich in eine gemeinsame Zielrichtung gedrängt wurden. Bislang hatten sich die arabischen Petro-Monarchien als die unentbehrlichen Verbündeten, als die solide Plattform der amerikanischen Geostrategie in jenem Gewässer empfunden, das die einen den »Persischen«, die anderen den »Arabischen Golf« nennen. Diese Zuversicht wurde nunmehr erschüttert, und die Vorstellung eines opportunistischen Umschwenkens der USA zugunsten der Islamischen Republik Iran, der einzig stabilen Regionalmacht, die sich in diesem Durcheinander behauptet hatte, weckte in Er Riad und Dubai den Verdacht eines Frontwechsels, ja des Verrats.
Der maßlose Fanatismus des »Islamischen Staates« drohte ja auch bei der aufsässigen arabischen Jugend zwischen Jordanien und Jemen die gellende Forderung nach einer utopischen Rückkehr zu den islamischen Wurzeln auszulösen. Die saudische Dynastie erinnerte sich sehr wohl an den Aufruhr und die vorübergehende Besetzung der Heiligen Kaaba von Mekka durch einen gewissen Juhaiman al-Utaibi im Jahr 1979 – ein Anfall von religiöser Verzückung, der nur mit Unterstützung ausländischer Hilfstruppen, zumal französischer Gendarmen niedergeschlagen werden konnte.
Die arabische Welt, deren Schwankungen und Exzesse kaum zu erklären sind, hat sich in einen Zustand begeben, der sie schon unmittelbar nach dem Tod des Propheten heimgesucht hatte – in die innere Spaltung und Zerrissenheit, die Fitna. Bemerkenswert bleibt der Umstand, daß – während die Amerikaner mit ihren Lufteinsätzen zögerten – die Russische Föderation der irakischen Regierung el-Maliki zu Hilfe kam, während zur gleichen Zeit in der Ost-Ukraine der Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Rußland einem gefährlichen Höhepunkt zutrieb.
Das Tohuwabohu hat solche Ausmaße erreicht, daß im ganzen Orient die Klage des...