Einleitung
Warum können wir nicht ewig leben? Warum schaffen wir es nicht, alle Krankheiten endgültig zu besiegen? Das sind die Fragen, die junge Leute in populären Wissenschafts-Blogs, in Studentenforen oder in Zeitungskolumnen wie »Fragen Sie einen Wissenschaftler« häufig stellen. Aber das macht die Fragen nicht weniger interessant. Die Lebenserwartung steigt heute in allen Ländern weltweit und liegt in einigen schon bei über achtzig Jahren. Der Unterschied zwischen der Lebenserwartung der Jäger und Sammler und derjenigen der modernen westlichen Bevölkerung ist, wie eine aktuelle Studie zeigt, inzwischen größer als der zwischen Jägern und Sammlern und wild lebenden Schimpansen. Und die gewaltige Steigerung der Lebenserwartung gelang uns allein in den letzten vier Generationen – von grob geschätzt 8000 Generationen, seit die Menschheit auf der Erde weilt. Man muss sich nur die unglaublichen Fortschritte anschauen, die Chirurgie, Pharmakologie, Gesundheitswesen, Immunologie und Transplantationschirurgie im vergangenen Jahrhundert gemacht haben, um zu begreifen, dass die Geschichte der modernen Medizin eine Riesenerfolgsstory ist.
Doch solche Statistiken können leicht darüber hinwegtäuschen, dass manche Erkrankungen besorgniserregend zunehmen – und die Situation hier erstaunlicherweise eher schlechter als besser wird. Das menschliche Krankheitsmuster, die »Krankheitslandschaft«, hat sich inzwischen vollkommen verändert. Den scheinbar naiven Fragen der jungen Leute können wir ganz leicht noch ein paar hinzufügen: Warum leiden so viele von uns an Autoimmunerkrankungen wie rheumatoider Arthritis, multipler Sklerose, Typ-1-Diabetes oder chronischer Darmentzündung? Warum sind so viele Menschen von allergischen Erkrankungen wie Ekzemen oder Asthma betroffen? Warum haben Herzleiden heute geradezu epidemische Ausmaße angenommen? Warum leiden Frauen an Unfruchtbarkeit oder schwerer Gestose? Warum leiden wir an Rückenschmerzen, Zwerchfellbrüchen, verrutschten Wirbeln und defekten Hüftgelenken? Warum gibt es so viele geistige und seelische Erkrankungen? Und warum gleiten so viele von uns im Spätherbst ihres Lebens in die geistige Dämmerwelt der Alzheimer-Krankheit ab?
Die Medizin neigt dazu, den menschlichen Körper als eine raffiniert konstruierte Maschine zu betrachten, die höchstens ein wenig störanfällig ist. Die Maschine muss laufend gewartet werden, weil sie manchmal nicht rundläuft oder fehlerhaft wird. Sie muss dann repariert werden wie ein Rennwagenmotor, bei dem ein erfahrenes Mechanikerteam dafür sorgt, dass er stets wie eine Katze schnurrt. Jeder Medizinstudent lernt, dass es sein Job ist, die Maschine wieder hinzukriegen und möglichst lange am Laufen zu halten. Aber der menschliche Körper ist keine Maschine. Er ist ein Bündel lebender Baustoffe, das wie alles irdische Leben als Produkt der Evolution durch natürliche Selektion entstanden ist. Und es gibt beträchtliche Unterschiede zwischen Maschinen, architektonischen oder technischen Gebilden und dem menschlichen Körper.
Wenn wir einen Architekten oder Techniker mit der Planung eines – sagen wir – Bürohochhauses beauftragen, will er als Erstes wissen: »Wie lautet mein genauer Auftrag?« Wir erläutern dann vermutlich, dass wir eine bestimmte Höhe wünschen, die Solaranlage bestimmte energetische Anforderung erfüllen, der Aufzug vor der Fassade liegen, das Gebäude zur Umgebung passen und außerdem 200 Jahre halten soll und so weiter. Das Ergebnis ist ein Bauplan, an den sich alle halten müssen. Bei unvorhergesehenen Problemen wirft der Architekt einen Blick auf den Plan und bringt hier und da einige Korrekturen an.
Der Auftrag an die Evolution sieht hingegen vollkommen anders aus. In der Welt der Architektur und Technologie werden Ihnen die Konstruktionskriterien für den menschlichen Körper niemals begegnen. Die Evolution »interessiert« sich nicht für Gesundheit oder Glück oder ein langes Leben. Um es mit Darwin zu sagen: Sie interessiert sich nur für die maximal angepasste Reproduktionsfähigkeit eines Individuums. Und somit nur für Veränderungen, die es einem Organismus ermöglichen, sich an Umweltveränderungen anzupassen und zu vermehren. Das heißt umgekehrt auch, dass genetische Veränderungen zu einem größeren Fortpflanzungserfolg führen und sich die veränderten Gene in einer Bevölkerung voraussichtlich stärker verbreiten. Gene können also unsterblich sein, aber beim Körper war davon nie die Rede. Die Evolution entscheidet sich bei einem Individuum nur dann für Eigenschaften, die ihm das Leben jenseits des Fortpflanzungsalters ermöglichen, wenn sich dadurch die Überlebenschance von Genen verbessert, die an Töchter und Söhne, enge Verwandte und Enkel weitergegeben werden. Die Evolution ist zudem, anders als jeder renommierte Architekt, blind und ahnungslos. Sie besitzt keinen Plan, sie kann nicht in die Zukunft schauen und vorausschauend planen, und sie verfügt über keinen Verstand, mit dem sie Probleme »erkennen« und darauf optimal reagieren könnte. Die Evolution muss zu jedem Zeitpunkt in der Evolutionsgeschichte eines Organismus mit dem klarkommen, was gerade da ist. Sie kann Bauplan und Konstruktion nicht neu aufdröseln und von vorn anfangen, wenn von irgendwoher ein neuer Selektionsdruck auftaucht, der nach baulichen und funktionalen Veränderungen verlangt, damit bestimmte Individuen einer Art überleben können.
Der Vergleich mit Technik oder Maschinen führt also gründlich in die Irre und hilft uns nicht weiter, wenn wir verstehen wollen, warum wir so anfällig für Krankheit und Verschleiß sind. Vier Pioniere der Evolutionsmedizin, Randolph Nesse, Stephen Stearns, Diddahally Govindaraju und Peter Ellison, haben daher kürzlich versucht, ein für alle Mal mit dem Technikvergleich aufzuräumen. Er ist nämlich nicht nur vollkommen unnütz, um zu begreifen, was im menschlichen Körper schiefläuft, sondern in der medizinischen Fachwelt auch nach wie vor stark verankert. Weil die Evolution, so erläutern die Forscher, die Fortpflanzung und nicht die Gesundheit maximieren will, ist jeder Organismus ein Konglomerat aus Kompromissen und folglich das Ergebnis unvermeidlicher Zugeständnisse und Zwänge. Und weil die biologische Evolution zweitens so viel langsamer verläuft als der kulturelle Wandel, werden viele Krankheiten dadurch verursacht, dass unser Körper nicht zur modernen Umwelt passt. Hinzu kommt, dass sich Krankheitserreger viel schneller weiterentwickeln als wir und unser Leben ohne Infektionen überhaupt nicht vorstellbar ist. Und schließlich, so die Forscher, ist die Vorstellung falsch, viele menschliche Krankheiten würden durch die Vererbung einiger weniger defekter Gene hervorgerufen. Normalerweise interagieren mehrere Genvarianten miteinander und mit der Umwelt und lassen so eine Erkrankung entstehen. Krankheit und Verschleiß werden darum immer Teil unseres Lebens sein und lassen sich kaum vermeiden.
Die Evolutionsmedizin lässt den menschlichen Körper in einem völlig neuen Licht erscheinen und kommt häufig zu Erkenntnissen, die der gängigen Vorstellung von Krankheit zuwiderlaufen. Ein einfaches und alltägliches Beispiel dafür ist das Fieber bei Infektionen. Wenn wir an Grippe erkranken, bekommen wir Fieber, fühlen uns matt und haben wenig Lust, unseren Alltag zu meistern. Häufig greifen wir und unsere Ärzte dann zu fiebersenkenden Mitteln. Doch da Krankheitserreger eine Temperatur bevorzugen, die unterhalb unserer Körpertemperatur liegt, ist Fieber nützlich: Es ist ein raffiniertes, evolutionär bewährtes Mittel, um den menschlichen Körper für eindringende Mikroorganismen in eine möglichst feindliche Umgebung zu verwandeln.
Peter Gluckman von der Universität Auckland führt noch ein komplexeres Beispiel an: Die Evolution, so sagt er, kann auch erklären, warum Brust- und Eierstockkrebs seit Jahrzehnten zunehmen und Brustkrebs bei Frauen in entwickelten Ländern heute eine der fünf häufigsten Todesursachen ist. Vieles deutet darauf hin, so Gluckman, dass man vor Brustkrebs besser geschützt ist, wenn die erste Menstruation spät kommt und das erste Baby früh, wenn relativ viele Schwangerschaften mit langer Stillzeit darauf folgen und die Menopause anschließend früh einsetzt. All das traf auf Frauen der Altsteinzeit typischerweise zu. Doch für die moderne Frau gilt genau das Gegenteil. Ihre Menstruation setzt früher ein, zwischen Menarche und erster Schwangerschaft liegt ein langer Zeitraum – das heißt viele Menstruationszyklen –, sie hat wenige Kinder und stillt nur kurz. Heute haben Frauen während ihrer fruchtbaren Jahre ungefähr 500 Eisprünge, und durch mechanische Verletzungen des Eierstockepithels und die lokal stark schwankenden Sexualhormone erhöht sich, so nimmt man an, das Eierstockkrebsrisiko. Das erklärt möglicherweise auch, so Gluckman, warum die Einnahme oraler empfängnisverhütender Mittel, die die Zahl der Menstruationszyklen einer Frau verringern, das Risiko offenbar senken. Das Brustkrebsrisiko hingegen ist, so Gluckman, erhöht, weil das duktale Brustgewebe bei Frauen, die nicht gebären, unreif bleibt – es reift erst mit der ersten Schwangerschaft. Außerdem werden die Brustepithelzellen ständig regeneriert, weil Östrogen und Gestagen fortlaufend zirkulieren und es kein Ausbleiben der Regelblutung durch mehrfache Schwangerschaften gibt. Und durch das fehlende oder kurze Stillen werden Präkrebszellen nicht mit der Muttermilch ausgespült, so Gluckman.
Die dramatischen Veränderungen im Fortpflanzungsverhalten – durch Verhütungsmittel und Hormonersatztherapie, Kinderlosigkeit oder weniger Kinder, kurze Stillzeiten, frühere Menarche und spätere Menopause – führen also dazu, dass der weibliche...