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E-Book

Nichts als die Wahrheit?

Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann

AutorMax Steller
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641114107
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Verhaftet. Vernommen. Unschuldig verurteilt.
Max Steller ist führender Experte, wenn es darum geht herauszufinden, ob Zeugen vor Gericht lügen. Er bringt Täter hinter Gitter und sorgt dafür, dass Unschuldige freigesprochen werden. Mit seiner Hilfe wurde der Holzklotz-Mörder überführt, er fand heraus, dass das vermeintliche Opfer im Fall Andreas Türck log. Würde seine Methode konsequent angewendet, könnten zahlreiche Fehlurteile verhindert werden. Doch steht es Aussage gegen Aussage, läuft bei der Wahrheitsfindung an deutschen Gerichten einiges schief. Vor allem beim Vorwurf Vergewaltigung scheint die Unschuldsvermutung außer Kraft zu treten. Nachdem er jahrelang beobachten musste, wie schändlich an deutschen Gerichten mit der Wahrheit umgegangen wird, klagt Max Steller das System in diesem Buch an. Denn jeder unschuldig Verurteilte und jeder freie Täter ist einer zu viel!

Prof. Dr. Max Steller, geboren 1944, ist emeritierter Professor für Forensische Psychologie an der Charité Berlin. Seit Jahrzehnten ist er an deutschen Gerichten als Sachverständigter für Glaubhaftigkeitsgutachten tätig, unter anderem am Bundesgerichtshof. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Deutschen Psychologie Preis. Max Steller ist verheiratet und lebt in Berlin.

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Leseprobe

Unschuldig im Gefängnis oder schuldig in Freiheit?

Das kurze Glück von Ben

Das Lächeln in seinem Gesicht ging gar nicht mehr weg. Ben konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so gut drauf gewesen war. Mann, er war verliebt! Zuerst hatte er nicht in diesen blöden Club gewollt. Aber dann war er mitgegangen, und da stand sie an der Säule. Ein Blitz hatte ihn getroffen. Er hatte sie auf einen Drink eingeladen und dann auf noch einen. Sie hieß Annkathrin, und Ben war seit gestern Nacht kein Single mehr. Sein Opa hatte ihm mal gesagt, dass er es sofort gewusst habe, dass er seine Oma heiraten würde. »Wenn es so weit ist, Junge«, hatte der Opa gesagt, »das spürst du.« Und genau das hatte Ben in dieser Nacht gespürt. Sie war es. Und wie lieb sie ihn danach zugedeckt hatte. Und diese süße Zahnlücke zwischen den Vorderzähnen. Er würde noch eine Karte für das Konzert am Samstag besorgen. Da musste sie unbedingt mit. Seinen Kumpels würde der Mund offen stehen bleiben. Und wenn er das nächste Mal bei ihr in der Wohnung wäre, würde er die Toilettenspülung reparieren. Da lief ja ständig das Wasser durch.

Sein Handy klingelte. Er kannte ihre Nummer auswendig, obwohl er sie noch nie angerufen hatte. Er war ja erst kurz vor Sonnenaufgang nach Hause gefahren. Da hatte er sie nicht wecken wollen. Vielleicht schlief sie bis abends. Und er wäre auch gern bei ihr geblieben, aber er musste ja leider zur Arbeit. Mit Herzklopfen drückte er auf den grünen Hörer. »Hallo?« Er klang heiser. Mist. Und er war auch viel zu früh rangegangen. Man muss die Bräute zappeln lassen, so predigte es Stefan immer, und der kannte sich aus. Ob das auch für die Richtige galt? Annkathrin wollte ihn treffen. Sofort. Sie sagte ihm, wo. Und dann legte sie auf. Das fand Ben ein bisschen komisch, aber vielleicht war sie auch aufgeregt. Egal, sie konnten ja später reden.

Er war zehn Minuten zu früh am Treffpunkt. Am U-Bahnhof entdeckte er einen Blumenladen. Die Verkäuferin räumte ihre Ware gerade weg, es war schon Ladenschluss. Zuerst wollte sie Ben nichts mehr verkaufen. Dann sah sie sein Lächeln. Alle sahen es. »Verliebt?«, fragte sie. Er nickte und kaufte eine Sonnenblume. Eine. Denn Sträuße verschenkten ja nur ältere Leute. Die Sonnenblume passte zu Annkathrin. Sie war seine Sonne.

Er ging um die Ecke, da stand sie. Er hob den Arm, um zu winken. Plötzlich von hinten ein Schubs, er begriff nicht, was geschah, dann lag er auf dem Boden, und alles, was er sah, war die Blume im Dreck. Er dachte, dass doch jemand ihre zarten gelben Flügelchen aus der Pfütze nehmen müsste. Dann wurde er hochgerissen. Die Arme wurden ihm schmerzhaft auf den Rücken gebogen, und er bekam Handschellen angelegt. Zwei Männer zerrten ihn zu einem vergitterten Polizeiwagen. Niemand redete mit ihm. Auf der Wache erst wurde ihm eröffnet: »Sie stehen im Verdacht, Frau Annkathrin Weber vergewaltigt zu haben.«

Annkathrin hatte Ben angezeigt, er habe sie vergewaltigt. Zwar habe sie ihn in der Nacht von Sonntag auf Montag zu sich eingeladen, aber was dann folgte, sei gegen ihren Willen geschehen. Was von Ben ganz anders geschildert wurde, als er endlich Gelegenheit bekam, sich zu äußern. Er erklärte, der Austausch von Zärtlichkeiten und auch der Geschlechtsverkehr seien einvernehmlich geschehen.

Und was glauben Sie? Ist Ben ein Vergewaltiger? Lügt er oder lügt Annkathrin?

Seit mehr als vierzig Jahren beschäftige ich mich wissenschaftlich mit Lüge und Wahrheit. Nach einem Psychologiestudium spezialisierte ich mich in dem Gebiet der Aussagepsychologie, also der Lehre vom Wahrheitsgehalt von Zeugenaussagen. Von 1988 bis zu meiner Pensionierung 2009 hatte ich die einzige Universitätsprofessur in Deutschland für gerichtliche Psychologie inne: an der Freien Universität Berlin und nach Umorganisation an der Charité Universitätsmedizin Berlin. Seit Jahrzehnten bin ich darüber hinaus bundesweit tätig als gerichtlich bestellter Sachverständiger für Glaubhaftigkeitsgutachten, unter anderem auch vor dem höchsten Strafgericht, dem Bundesgerichtshof (BGH) … Glauben Sie mir das alles?

Wenn der Herr Professor das sagt, dann wird es wohl stimmen.

Und es stimmt. Denn die Aussagen lassen sich durch Dokumente belegen. Ein Glaubhaftigkeitsgutachten wäre nicht nötig, weil es objektive Belege gibt. Und genau das ist der Unterschied zu vielen Kriminalfällen. Besonders bei Sexualdelikten, aber auch bei Gewaltdelikten gibt es häufig keine objektiven Belege. Nur sich widersprechende Behauptungen, vage Gefühle, Eindrücke, falsche Erinnerungen und vieles mehr, was ein Leben ruinieren kann. Oder mehrere Leben.

Ich hatte Annkathrin im Auftrag eines Gerichts hinsichtlich der Glaubhaftigkeit ihrer Vergewaltigungsschilderung zu begutachten. Diese Begutachtung fand ein halbes Jahr nach der vermeintlichen Tatnacht statt. Es ist leider oft so, dass zwischen einer Anzeige und der Begutachtung viel Zeit verstreicht. Das liegt daran, dass die Polizei zunächst in alle Richtungen ermittelt, unter anderem Zeuginnen und Zeugen befragt, in diesem Fall über die Vorgeschichte, das Kennenlernen der beiden in einem Club.

Der Zeitraum, bis es in Deutschland nach einer Anzeige zur Anklage kommt, beträgt in der Regel mindestens ein halbes Jahr. Zeugen wohnen oft an unterschiedlichen Orten, Akten werden hin und her geschickt, Beamte haben Urlaub. Und so lange dauert es auch, bis ein Gutachter bestellt wird. Sind Kinder beteiligt, versucht man allerdings, das Verfahren zu beschleunigen.

Bei der Begutachtung von Annkathrin Weber fiel mir auf, dass sie die Vergewaltigung nur andeutungsweise schilderte und keinen Widerstand von ihrer Seite beschrieb. Des Weiteren war auffällig, dass sie die Frage nach Gewalthandlungen von Ben verneinte. So blieb unklar, was die Vergewaltigung ausgemacht haben sollte. Auf meine gezielte Frage, warum es sich nach Frau Webers Meinung um eine Vergewaltigung gehandelt habe, erwiderte sie: »Ich habe meiner Mutter am Montagnachmittag von meiner neuen Bekanntschaft erzählt und dass wir die Nacht zusammen verbracht haben. Aber das fand meine Mutter nicht gut, weil man so was mit einem Farbigen nicht macht. Und als ich darüber nachgedacht habe, ist mir klar geworden, dass ich den Geschlechtsverkehr eigentlich nicht wollte und Ben ihn gegen meinen Willen durchgeführt hat.«

»Das ist Ihnen im Nachhinein eingefallen?«

Frau Weber schaute mich offen an und nickte. Es lag ursprünglich wohl nicht in ihrer Absicht, Ben zu schaden. Sie hatte ihn angezeigt, weil ihre Mutter das für richtig hielt.

Ben hatte das Glück, nicht allzu lange in U-Haft zu sitzen, denn bei dem jungen Mann, der eine Lehre zum Schreiner machte und mit seiner Mutter und zwei jüngeren Schwestern in einer Wohnung zusammenlebte, bestand keine Fluchtgefahr. Andere falsche Opfer befinden sich sehr lange in U-Haft; ich erinnere an den TV-Meteorologen Jörg Kachelmann. Er ist ein Promi. Doch in deutschen Gefängnissen warten auch vermeintliche Täter auf ihre Gerichtsverfahren, die nicht so bekannt sind. Und wenn sie endlich freigesprochen werden, kann es sein, dass nichts mehr so ist, wie es vorher war. Freundin weg, Familie entsetzt, Job weg, Kinder entfremdet, Wohnung gekündigt, kein Geld. Und jetzt?

Natürlich kann man sich fragen, ob die Polizei anders vorgegangen wäre, wenn Ben keine dunkle Haut gehabt hätte. Das ist nämlich durchaus vorstellbar, zumindest, was die Art und Weise betrifft, wie er verhaftet wurde. Zumal Annkathrin Webers Schilderung der Vergewaltigung auch bei der Polizei nicht überzeugend klang. Warum fiel es den Beamten nicht auf, dass sie auf genaue Fragen keine Antworten geben konnte, dass sie ständig auswich, wie im Vernehmungsprotokoll dokumentiert?

Was also haben Sie geglaubt? Und wem? Ben oder Annkathrin? Stimmen die Umstände – Ausländer, Hartz IV, dunkle Hautfarbe, Prostituierte, schwul, Vorstrafen, Hilfsarbeiter etc. –, ist Justitia womöglich manchmal nicht blind. Der Anspruch der Justiz ist: gleiches Recht für alle. Einige Fälle, die ich in diesem Buch schildere, werfen die Frage auf, ob die Behandlung durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte nicht doch auch abhängig vom Status des Angeklagten sein kann. Es wäre zu hoch gegriffen, von einem Zwei-Klassen-Recht zu sprechen, doch sicher gibt es manchmal Fälle, die anders beurteilt worden wären, hätte eine Zeugin oder ein Angeklagter anders ausgesehen oder käme sie oder er aus einer anderen gesellschaftlichen Schicht. Das zeigt auch der nachfolgende Fall.

Der Neurologe und die Stimmgabel

Seine Privatklinik lag im Großraum München, und er stand im Ruf, einer der besten seines Fachs zu sein. Wer einen Termin bei dem Neurologen Dr. von Lübtow bekam, konnte sich glücklich schätzen. Die meisten seiner Patientinnen waren Akademikerinnen und privat versichert. Managerinnen, Bankerinnen, Architektinnen. Sie waren aber schwer erkrankt, es bestand Verdacht auf Multiple Sklerose und Ähnliches. Vielleicht war eine krankheitsbedingte Verunsicherung der Grund, dass alle Patientinnen den Anweisungen folgten und sich eine Stimmgabel in die Scheide einführen ließen, mit deren Hilfe der Doktor ihre Reflexe testen wollte, in Hündchenstellung. Nach der Untersuchung kam ihnen das merkwürdig vor, aber die meisten beschlossen, den Vorfall zu vergessen. Es war ja auch irgendwie peinlich, darüber zu sprechen. Andere vertrauten sich einer Freundin oder dem Ehemann an. Und einige wenige erstatteten schließlich Anzeige.

Nach Befragung der Patientinnen gemäß der Patientenkartei durch die Polizei blieben acht Belastungszeuginnen, die unabhängig voneinander ganz ähnliche Vorgehensweisen des Neurologen...

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