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E-Book

Der geheimnisvolle Patient

Rätselhafte Krankheitsfälle und wie sie aufgeklärt wurden

AutorDr. med. Frank Schwebke
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783864134944
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Unerklärliche Krankheitsbilder, seltsame Symptome, medizinische Rätsel - die Medizin steckt voller Anekdoten und Kuriositäten. Eine bilinguale Frau beispielsweise verlernt nach der Geburt ihres Kindes eine Sprache. Ein Mann ist häufig stark betrunken, obwohl er keinen Tropfen Alkohol zu sich nimmt. Exzessiver Teekonsum führt bei einer anderen Frau zu Knochenschwund. Der geheimnisvolle Patient ist eine Sammlung der außergewöhnlichsten Krankheitsfälle. Das Buch lässt nicht nur erahnen, wie faszinierend der menschliche Körper ist, sondern auch, wie spannend die Arbeit der Ärzte sein kann, die wie Detektive Krankheiten auf die Schliche kommen müssen.

Dr. med. Frank Schwebke, geboren 1956, wurde als Arzt, Medizinjournalist, TV-Moderator und Fachbuchautor in Deutschland bekannt. Schwebke studierte Medizin in Bochum und Aachen und arbeitete an der Universitäts-Nervenklinik im Saarland als Neurologe. Seit 2008 beantwortet Dr. Schwebke Fragen der Bild am Sonntag-Leser zum Thema Gesundheit. Er lebt in Berlin.

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Leseprobe

Der Mann, der eine Frau war – und doch ein Mann blieb


Als der 66-jährige Chinese Huang Y. die Eingangshalle des Krankenhauses durchquert, folgen ihm neugierige und ungläubige Blicke. Denn der bärtige, durchaus stämmig und männlich wirkende ältere Herr ist gerade einmal 1,37 Meter groß. Die wartenden Patienten in der Ambulanz der Kwong-Wah-Klinik in Kowloon, Hongkong, drehen die Köpfe und tuscheln. Unbeeindruckt meldet sich Herr Huang in der Abteilung für innere Medizin an. Denn er kommt nicht etwa wegen seines Kleinwuchs­es ins Krankenhaus, sondern wegen quälender Magenkrämpfe. Heftige an- und abschwellende Schmerzen im Bauch plagen ihn seit Monaten. Außerdem hat sein Bauchumfang im vergangenen Jahr deutlich zugenommen, obwohl er nicht mehr isst oder trinkt als zuvor.

Tragische Babyjahre


Als das Ärzteteam um Prof. Dr. K. F. Lee den ungewöhnlichen Patienten sieht, ahnen die Mediziner bereits, dass hier eine Sensation auf sie wartet. Doch was steckt genau hinter dem auffälligen Aussehen und den aktuellen Beschwerden des Mannes? Bei der Schilderung seiner Vorgeschichte erklärt Herr Huang, dass er in Vietnam geboren und gleich nach der Geburt von seinen Eltern fortgegeben worden sei. Er sei dann als Waisenkind in China aufgewachsen. Genauere Details zu den Umständen seiner Geburt und der ersten Lebensjahre könne er deshalb nicht nennen. Er wisse auch nicht, ob er in seinen ersten Lebensjahren jemals genau von einem Arzt untersucht worden sei.

Plötzlicher Wachstumsstopp


Er erinnert sich aber genau daran, wie sein Längenwachstum bereits vor der Pubertät plötzlich stoppte: »Mit zehn Jahren habe ich einfach aufgehört zu wachsen – ohne irgendeinen äußeren Anlass«, meint er. Außerdem habe bei ihm die Pubertät bereits mit elf Jahren begonnen. Seine Libido, also seine Lust auf Sexualität, sei schon immer sehr gering gewesen.

Mann oder Frau?


Bereits die erste körperliche Untersuchung liefert starke Indizien dafür, dass der kleine Mann (der ja nur wegen Bauchschmerzen in die Klinik kam) eine medizinische Rarität darstellt. Der Penis von Herrn Huang ist extrem winzig, die Hoden fehlen völlig.

Seine Harnröhre endet an der Unterseite des verkümmerten Penis. Zögernd und schamhaft gibt der Patient zu, dass es des Öfteren zu spontanen Urinabgängen komme, die er nicht kontrollieren könne.

Aufgrund dieser merkwürdigen körperlichen Befunde hegen die Ärzte einen Verdacht: Könnte es sein, dass es sich bei dem kleinen Mann um eine Frau handelt?

Auffällige Chromosomen


Die Mediziner untersuchen den Chromosomensatz des Patienten, auf dem die Gene als Träger der Erbinformation sitzen und die das Erbgut (Genom) speichern. Tatsächlich: Der »Mann« besitzt kein ­Y-Chromosom, das das männliche Geschlecht charakterisiert. Er ist also seinem Erbgut nach kein Mann. Allerdings besitzt er auch keine zwei X-Chromosomen – dies wäre der typische Chromosomensatz einer Frau. Stattdessen finden die Mediziner aus Hongkong nur ein einziges X-Chromosom. Herr Huang ist damit eine »genetisch unvollständige« Frau, die 66 Jahre lang als Mann lebte.

Nur der erste Teil des Diagnosepuzzles …


Wenn sich im Genom einer Frau nur ein weibliches X-Chromosom findet, wie bei »Herrn« Huang, bezeichnet man dies als Turner-Syndrom. Mit dieser Diagnose lassen sich die körperlichen Auffälligkeiten erklären, die die Mediziner aus Hongkong bei ihrem Patienten festgestellt hatten. Turner-Patientinnen sind oft kleinwüchsig. Sie leiden häufig unter verschiedenen Fehlbildungen etwa der Ohrmuscheln, aber auch des Herzens, der Niere oder der Genitalien. Da ihre Eierstöcke verkümmert sind, bleiben die Turner-Frauen unfruchtbar.

Immer noch ein Rätsel


Trotz ihrer (richtigen) Diagnose stehen die Ärzte weiterhin vor einem Rätsel. Irgendetwas ist bei diesem Fall immer noch absolut unstimmig. Denn: Frauen mit nur einem X-Chromosom werden bei der Geburt als »weiblich« identifiziert. Wenn sie ab dem zwölften Lebensjahr Östrogene (weibliche Geschlechtshormone) einnehmen, führen sie ein weitgehend normales Frauenleben. Die Intelligenz liegt bei Turner-Patientinnen im Normbereich, ihre Lebenserwartung ist nicht geringer als die anderer Frauen. Warum verlief das Leben von Herrn Huang völlig anders? Den Ärzten ist klar: Das diagnostische Puzzle dieses spannenden Falles ist noch nicht vollständig zusammengesetzt.

Nebenniere gestört


Denn warum hat Herr Huang einen, wenn auch kleinen, Penis? Warum wuchs ihm ein stattlicher Bart? Bei ihrer diagnostischen Detektivarbeit setzen die Ärzte jetzt auf die Endokrinologie – den Teilbereich der inneren Medizin, der ein besonderes Augenmerk auf die Hormone richtet. Sie bestimmen bei Herrn Huang eine breite Palette von Hormonwerten. Und sie staunen nicht schlecht, als sie einen weiteren Gendefekt finden – diese Kombination von zwei genetischen Erkrankungen ist äußerst ungewöhnlich. Der Patient leidet offenbar unter einer erblichen Störung der Nebenniere, berichten die Ärzte um Professor Lee im Hongkong Medical Journal.

Chaos im Hormonhaushalt


Bei dieser Störung bildet die Nebenniere zu geringe Mengen des wichtigen Hormons Kortisol. Als Reaktion darauf werden die übergeordneten Hormonzentren Hypophyse (Hirnanhangsdrüse) und Hypothalamus (ein Abschnitt des Zwischenhirns) aktiv und stacheln die Nebenniere zu stärkerer Hormonproduktion an. Sie schütten vermehrt das Steuerungshormon ACTH aus, das die Nebenniere auf Hochtouren laufen lässt. Dadurch normalisiert sich zwar der zu niedrige Cortisolspiegel. Doch es gibt auch einen weiteren Effekt: Die ebenfalls in der Nebenniere gebildeten Androgene (männliche Geschlechtshormone), die zuvor normal waren, werden nun im Überfluss hergestellt und ins Blut abgegeben. Der Körper wird also, etwas vereinfacht, mit Männerhormonen und deren Vorstufen überflutet. Die Folge dieses sogenannten androgenitalen Syndroms (AGS) ist eine Virilisierung des Betroffenen. Bei ihm bilden sich also, unabhängig vom genetischen Geschlecht, deutliche männliche Geschlechtsmerkmale aus.

Aus der Klitoris wurde ein Penis


So also wuchs bei Herrn Huang aus einer Klitoris ein Mini-Penis. Seine Muskulatur und seine Körperform nahmen männliche Züge an, und sein Bart rundete das Bild eines »echten« Mannes ab. Seine Ärzte glauben, dass die übermäßige Produktion männlicher Hormone aufgrund des AGS bereits in der Schwangerschaft einsetzte. Deshalb wurde er bei der Geburt für ein männliches Baby gehalten. Die Klitoris wurde schon vor der Pubertät durch den Androgenüberschuss so groß, dass nie Zweifel an der Geschlechtsidentität des »Mannes« auftraten. Lediglich die Auffälligkeiten etwa beim Wasserlassen hätten eventuell Anlass für eine detailliertere Untersuchung geben können. Doch darauf war Herr Huang offenbar gar nicht erpicht, denn er war ja trotz solcher kleiner Unannehmlichkeiten mit seinem Leben zufrieden.

Eierstöcke mit Anhang


Wenn nur die Bauchkrämpfe nicht wären! Denn erst, als die spannende Diagnosetüftelei zu einem logischen Ergebnis gekommen ist, widmen sich die Mediziner dem eigentlichen Anliegen ihres Patienten: Woher kommt der quälende Bauchschmerz, und wie kann man ihn behandeln? Eine Computertomografie des Bauchraumes löst bei den Ärzten erneut ungläubiges Staunen aus. Sie sehen ein fast fußballgroßes Gebilde im Unterbauch von Herrn Huang, das dort eindeutig nicht hingehört – weder bei einem Mann noch bei einer Frau. Nach einer sorgfältigen Operationsvorbereitung einschließlich Hormongaben, die den ungewöhnlichen Patienten vor erhöhten Operationsrisiken schützen sollen, schneiden die Chirurgen den Bauch auf und können kaum glauben, was sie zu sehen bekommen. Bei dem riesigen Tumor handelt es sich um … Eierstöcke! An den Eierstöcken hatte sich eine große Zyste gebildet, ein flüssigkeitsgefüllter Hohlraum. Diese Eierstockzyste hatte offenbar die Bauchkrämpfe ausgelöst. Die Chirurgen entfernen die Eierstöcke und lassen sie feingeweblich untersuchen. An der Eierstockwucherung finden sie ein merkwürdiges kleines Anhängsel. Die histologische Untersuchung zeigt: Es handelt sich um eine verkümmerte Gebärmutter.

Bei den Nachuntersuchungen ist der Patient beschwerdefrei. Die Schmerzen sind verschwunden, der Bauchumfang hat sich normalisiert. Theoretisch könnte Herr Huang Y. sich entscheiden, durch eine Operation und Hormongaben eine Frau zu werden. Doch er denkt nicht daran: »Ich habe 66 Jahre als Mann gelebt, und das will ich auch weiterhin!«

Die Angst im Nacken


Marianne S. gilt als fleißig, freundlich, sorgfältig und äußerst korrekt. Vielleicht ist sie manchmal etwas umständlich und wirkt emotional verschlossen. Die Kollegen im Jobcenter Berlin-Neukölln kommen jedoch gut mit der unauffälligen 57-Jährigen aus. Niemand von ihnen pflegt aber außerhalb der Arbeit Kontakt zu ihr oder ist gar mit ihr befreundet. Die Kollegen ahnen nicht, unter welch schweren Schmerzen Marianne S. seit Jahren leidet – und dass sie gerade in eine bedrohliche Krise rutscht.

Als Marianne S. im April 2013 eine Praxis für Psychotherapie und Psychoanalyse aufsucht, könnte die Dokumentation ihrer Schmerzgeschichte bereits einen Ordner füllen.

Bandscheiben? Okay


Es begann mit einem leichten, dumpfen, aber stetigen Schmerz im Nacken. Er breitete sich allmählich über die Brust- bis zur Lendenwirbelsäule aus. Ein Orthopäde untersuchte bereits vor acht Jahren erstmals die Wirbelsäule manuell und röntgte sie. Die Ergebnisse zeigten, dass keine...

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