Prolog
Ende der fünfziger Jahre macht sich eine junge Berlinerin auf die Suche nach Büchern von Hans Henny Jahnn. Wir wissen wenig über sie. Sie heißt Käthe Kirfel◆ und bereitet im Ostteil der Stadt ihr Examen vor. Redakteurin möchte sie werden. Einmal, Anfang 1957, besucht sie deswegen Peter Huchel◆, den Lyriker und Chefredakteur der legendären Kulturzeitschrift Sinn und Form. Und Huchel◆ gibt ihr vor allem einen Rat mit auf den Weg: Lesen Sie Jahnn!
Dies nimmt sich Käthe Kirfel◆ zu Herzen: Sie macht den »westdeutschen Schriftsteller« zum Thema ihrer Prüfungsarbeit. Das alles schreibt sie Huchel◆, als sie die Nachricht von Jahnns Tod am 29. November 1959 in der Zeitung findet. Sie ist eine enthusiastische Leserin. Deshalb denkt sie vor allem darüber nach, wie schwer es für sie war, sich Jahnns Bücher zu besorgen. Wir schreiben die Zeit vor dem Mauerbau: »Im demokratischen Teil Berlins ist nichts von ihm herausgekommen – Nachfragen in Westberliner Buchhandlungen waren fruchtlos. Entweder kannte man Jahnn gar nicht oder aber, man wollte ihn aus politischen Gründen nicht kennen und zum dritten hatte man gerade die einzige ro-ro-ro Ausgabe der ›13 ungeheuerlichen Geschichten‹ nicht zur Hand!«[1] Nach und nach sei es ihr immerhin gelungen, in der Stadtbibliothek Jahnns Medea◆, Das Holzschiff◆ und den ersten Band der Niederschrift des Gustav Anias Horn◆ auszuleihen.
Wäre es der jungen Käthe Kirfel◆ 60 Jahre später anders ergangen? Könnte sie heute in jede gute Buchhandlung gehen, um sich Fluß ohne Ufer◆ zu kaufen, so selbstverständlich wie James Joyces◆ Ulysses oder Alfred Döblins◆ Berlin Alexanderplatz?
Nein, Jahnn ist heute nicht bekannter als im Jahr seines Todes. Dass seine Werke seither nicht nur die Jungredakteurin Käthe Kirfel◆ tief berührten und sich viele für sie eingesetzt haben, dass seine Stücke immer wieder auf den Spielplänen der großen Theater stehen und es inzwischen eine stattliche Reihe von Übersetzungen gibt, unter anderem ins Russische und ins Französische, dass sein 100. Geburtstag 1994 in Hamburg aufwendig mit Konzerten, Lesungen und einem großen Kongress gefeiert wurde – dies alles hat daran wenig geändert.
Perrudja◆ oder Die Nacht aus Blei◆ wurden nie so populär wie die ähnlich komplexen Romane Franz Kafkas◆, Robert Musils◆ oder Vladimir Nabokovs◆, das allerdings ist nicht unbedingt erstaunlich. Viel erstaunlicher wirkt hingegen, dass Jahnn über die Jahrzehnte hinweg eine Art Gemeinde behielt und nie wirklich vergessen wurde. Und das, obwohl vieles in seinen Büchern und Briefen auch heute noch verstört, obwohl seine Romane sehr lange schwer erhältlich waren und obwohl sich die meisten Leser durch sie überfordert fühlen. Jahnn ist nach wie vor eine recht unbekannte Größe, doch eine Größe ist er geblieben.
Daher überrascht es zwar, dass ein weltberühmter Komponist wie Wolfgang Rihm◆ für die international beachtete Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie im Januar 2017 ausgerechnet eine Hommage an Hans Henny Jahnn geschrieben hat, zugleich leuchtet es unmittelbar ein.[2] Denn nicht nur die Literatur, auch die Musikkultur der Hansestadt wurde im 20. Jahrhundert von kaum einem anderen Künstler so kontinuierlich und nachhaltig geprägt wie von Jahnn. Untergründig wirken seine Werke und Ideen, die fast immer quer zum Mainstream standen, bis heute fort: Ohne Jahnn hätte es in Hamburg wahrscheinlich nie eine Akademie der Künste gegeben. Ohne ihn wäre die herausragende Arp-Schnitger-Orgel in St. Jacobi nach dem Ersten Weltkrieg sang- und klanglos abgerissen worden. Er war es, der Schriftsteller wie Peter Rühmkorf◆ und Hubert Fichte◆ förderte, als sie noch ganz am Anfang standen. Nicht zuletzt spiegelt sich Hamburg facettenreich in Jahnns Jahrhundertwerk Fluß ohne Ufer◆, als jene Stadt, in der Gustav Anias Horn, die Hauptfigur der Romantrilogie, aufwuchs: eine Metropole auf dem Weg zur Weltgeltung, voller Glanz, Glitter und Elend, mit Konzert- und Kaffeehäusern, Konsumtempeln, Theatern und der Halbwelt St. Paulis am Rande der unüberschaubaren Hafenlandschaft.
Zugleich ist seine Hinterlassenschaft sperrig geblieben. »Jahnn berührt uns – und er berührt uns peinlich, dabei wird es bleiben, wenn das ›Bleibende‹ dieses Autors schon keine Frage mehr ist«, hat der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Adolf Muschg◆ 1994 festgestellt.[3] Könnte das anders sein? Wie bei sehr wenigen Autoren besteht die Größe von Jahnns Werken doch gerade in jenem Unbehagen, das sie hervorrufen, im radikal Sonderbaren, wenn nicht Bedrohlichen. Wer sich auf Jahnn einlässt, stellt zwangsläufig die eigenen Grundsätze und Gewohnheiten zur Disposition. Das ist nicht unbedingt angenehm, zugleich gehört es aber zum Wichtigsten, was ein Kunstwerk bewirken kann.
In Jahnns erster Rede nach dem Zweiten Weltkrieg am 14. November 1946 in Hamburg bekennt er: »Ich persönlich fordere die Freiheit des Denkens und Empfindens, denn wir sind alle in eine Konstitution hineingeboren, der wir nicht entrinnen können. Sündigen wir gegen diese Konstitution, verbietet man uns, die zu sein, zu denen wir aufgerufen wurden, so werden wir durch den Urteilsspruch der Fibrillenmaschine zu Sadisten.«[4] Die verheerenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts, der Nationalsozialismus, die Kriege, Auschwitz, Hiroshima und Nagasaki sind für Jahnn nicht zuletzt das Ergebnis eines kollektiven Aufbegehrens gegen die menschliche und die nicht-menschliche Natur. Er betrachtet sie als Folgen einer absolut gesetzten Zweckrationalität, die von gefährlichen religiösen Ansichten begleitet werde. 1946, als es in Deutschland erst einmal darauf ankommt, die Trümmer beiseite zu schaffen, die Verbrechen des Nationalsozialismus im Detail zu begreifen und die Hauptschuldigen vor Gericht zu stellen, wirkt das befremdlich, wenn nicht verfehlt. – Heute, im Zeichen der akuten Bedrohungen durch religiöse und politische Fanatiker fällt es womöglich leichter, Jahnns subkutane Absage an Ideologien und Absolutheitsansprüche jeglicher Couleur nachzuvollziehen. Zugleich tritt sein mitunter naiver Irrationalismus und Determinismus in seiner Fragwürdigkeit noch deutlicher zu Tage. Viele von Jahnns stets mit großer Vehemenz vertretenen Überzeugungen machten schon seinen zeitgenössischen Verehrern zu schaffen, etwa dem deutsch-französischen Schriftsteller Joseph Breitbach◆. 1955 setzte er sich für Übersetzungen von Jahnns Werken ins Französische ein, und dabei kam er zu dem Schluss: »Ich beuge mich tief vor diesem Werk, obwohl ich mich an hundert Einzelheiten darin arg stosse und meiner trocken-skeptischen Natur vieles darin zu pathetisch und manisch ist, zu schweigen von dem vollkommenen Mangel an Humor, ohne den doch nichts komplet[t] ist auf der Welt. Dennoch …«[5]
Vielleicht ließe sich Breitbachs◆ Dennoch in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts doch gegen ein Weil tauschen: Skeptische, humorvolle und handwerklich perfekte Romane und Dramen gibt es in der Geschichte der modernen Literatur einige. Die Einzigartigkeit – auch die einzigartige Schönheit – von Jahnns Werken wurde nur möglich, weil er sich von allen Konventionen lossagte, von den gesellschaftlichen ebenso wie von den ästhetischen, weil er sich keiner Lehrmeinung anschloss, weil er als Autodidakt und zuweilen auch als Dilettant versuchte, noch einmal »alles selbst« (FS, 272) zu machen, weil er sich weigerte, seine Gefühle zu unterdrücken, und seinen Intuitionen stärker vertraute als allen Übereinkünften und Gepflogenheiten. Als Jugendlicher wurde Jahnn aufgrund seiner sexuellen ›Konstitution‹ in die Rolle des Außenseiters gezwungen – später war ihm das Exzentrische nicht nur eine Last, nicht nur ein Schicksal, er hat es oft auch gesucht und provoziert. Jahnn wusste, dass seine von ihm oft beschworene ›Abtrünnigkeit‹ die Voraussetzung dafür war, jene Begabungen zur Geltung zu bringen, die nicht nur er selbst als genial empfand....