VORWORT
Johann Adam Graf von Questenberg, kein mächtiger und reicher österreichischer Aristokrat, sondern ein begeisterter mährischer Patriot, hat sich vor allem durch seine Aktivitäten auf dem Gebiet der Musik einen Namen gemacht. Seine Lebensgeschichte und sein Engagement für die Verbreitung der italienischen Opera seria in Mähren sowie im größeren Kontext der Habsburgermonarchie sind faszinierend. Im vorliegenden Buch wird versucht, Questenbergs besondere Stellung im Rahmen der Kulturgeschichte Mährens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts greifbar zu machen.
Die Markgrafschaft Mähren existierte als selbstverwaltende Gebietseinheit seit dem 13. Jahrhundert, in der Barockzeit gehörte sie im Verwaltungssystem der Habsburgermonarchie zur Böhmischen Krone. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war dieses Territorium nicht viel größer als Niederösterreich, und doch gab es nicht weniger als vier Orte, an denen die Oper intensiv gepflegt wurde. Mähren nimmt in der mitteleuropäischen Opernlandschaft also einen durchaus beachtlichen Rang ein. Ab den 1720er Jahren eiferten mehrere mährische Adelsfamilien mit einer ungewöhnlich großen Zahl von Aufführungen musikdramatischer Werke dem Kaiserhof nach und demonstrierten damit ihre Verbundenheit mit dem Wiener höfischen Milieu. Zu den in dieser Hinsicht aktivsten Aristokraten gehörten der Olmützer Bischof Wolfgang Hannibal Kardinal von Schrattenbach und Franz Anton Graf von Rottal. Doch sind diese beiden nur herausragende Vertreter einer ganzen Gruppe von musikliebenden Adeligen in Mähren. Ab dem Ende der 1720er Jahre intensivierten sich die Kontakte innerhalb dieses Kreises, wobei Jarmeritz, eine kleinere Stadt in Südmähren, als ein wichtiges Zentrum der mährischen Adelskultur eine wesentliche Rolle spielte.
Jarmeritz war der Hauptsitz von Johann Adam Graf von Questenberg. Dieser wurde 1696 – vor allem dank der Leistungen seines Großvaters Gerhard, der als Hofkriegsrat und Diplomat in Habsburgischen Diensten stand – in den Grafenstand erhoben. Nach einer dreijährigen Kavaliersreise durch Deutschland, die Niederlande, Frankreich, England und Italien und nach der Aufnahme in die Dienste des Kaiserhofs als Hofrat im Jahre 1702 schien eine erfolgreiche Laufbahn sicher. Die Gründe dafür, dass sich seine Karriere letztlich doch nicht optimal entwickelte, lassen sich nicht eindeutig bestimmen; jedenfalls war Graf Questenberg kein Protegé von Kaiser Karl VI.
Questenberg setzte seinen Ehrgeiz bald in die Realisierung von Bauten auf seinen Herrschaften in Mähren, Niederösterreich und Westböhmen und vor allem in die Pflege seiner künstlerischen Vorlieben. Als vortrefflicher Lautenspieler, Musikkenner und begeisterter Opernliebhaber stellte er ein stabiles und qualitativ hochstehendes Musikensemble aus seinen Bedienten und Untertanen zusammen und ließ von diesem umfangreiche musikdramatische Werke aufführen. Von 1722 an wurden im Jarmeritzer Schloss drei Jahrzehnte lang musikdramatische Werke zur Aufführung gebracht, einige davon stammten von führenden Komponisten jener Zeit. Questenberg beauftragte viele verschiedene Künstler mit der Realisierung seiner Projekte, darunter einige prominente Künstler des Kaiserhofes oder aus dessen Umfeld. Er brachte in Jarmeritz allerdings nicht nur Werke heraus, die am Kaiserhof bekannt bzw. dort uraufgeführt worden waren, sondern importierte überdies aus Italien stammende Opern, die in höfischen Kreisen als exklusive Novitäten galten. In der hohen Anzahl der auf Questenbergs Herrschaft präsentierten musikdramatischen Werke und der langen Zeitspanne, in der hier die Oper gepflegt wurde, gründet die überregionale Relevanz des Ortes.
STAND DER FORSCHUNG
Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts stellen die italienische Oper des 18. Jahrhunderts und ihre Aufführungen in den böhmischen Ländern eines der wichtigsten Themen der Forschung zur Musikkultur in diesem Territorium dar. Es ist das Verdienst des tschechischen Musikologen Vladimír Helfert, diese Forschung initiiert zu haben; seine Arbeiten über das Musikleben auf dem Schloss des Grafen Questenberg sind für die historisch orientierte tschechische Musikwissenschaft noch heute von Bedeutung. Helferts Monographie Hudební barok na českých zámcích. Jaroměřice za hraběte Jana Adama z Questenberku (Der musikalische Barock auf den böhmischen Schlössern. Jarmeritz unter Graf Johann Adam von Questenberg)1 war vor allem musikhistorisch orientiert. In seiner Publikation Hudba na jaroměřickém zámku (Die Musik auf dem Jarmeritzer Schloss)2 konzentrierte sich Helfert auf die musikalische Analyse der Werke von Questenbergs Kapellmeister Franz Anton Mitscha (František Antonín Míča). Einen weiteren wichtigen Beitrag lieferte Helfert mit einer Studie zur Librettistik des Barock, Opera o Donu Juanu v Brně r. 1734 (Eine Oper über Don Juan in Brünn 1734).3
Helfert gab mit seinen Arbeiten wichtige Impulse für nachfolgende Forschungen. Seine Anregungen wurden von Musikologen der folgenden zwei Generationen aufgegriffen, vor allem von Jan Racek, Theodora Straková, Rudolf Pečman, Jan Trojan, Jiří Sehnal und Tomislav Volek. Von Sehnal stammt die grundlegende Studie Počátky opery na Moravě (Die Anfänge der Oper in Mähren),4 die einen umfassenden Blick auf Mähren als Land mit einem intensiven Opernleben eröffnet. Eine Reihe von Teilstudien, vor allem aus der Feder von Straková und Trojan, behandeln den musikalischen Betrieb in Jarmeritz. An den erwähnten Aufsatz Helferts über Don Juan in Brünn hat Volek angeknüpft.5 Neue Fakten über die Jarmeritzer Schlosskultur veröffentlichte sodann Alois Plichta, der sich (als Jurist) mit den Jarmeritzer Archivalien beschäftigte. Der Musik auf dem Jarmeritzer Schloss war auch ein großer Teil des 1994 in Jarmeritz abgehaltenen internationalen und interdisziplinären Symposiums František Václav Míča a zámecká hudební kultura v 18. století (Franz Wenzel Mitscha und die Musikkultur auf den Schlössern im 18. Jahrhundert) gewidmet.6 Da alle diese Arbeiten auf Tschechisch erschienen sind, konnte die internationale Musikwissenschaft nur Ausschnitte des weiten Forschungsfeldes der italienischen Oper in Mähren aus vereinzelt von tschechischen Musikwissenschaftlern auf Deutsch veröffentlichten Studien über die Jarmeritzer Adelskultur kennenlernen.7
Eine bemerkenswerte Entwicklung ist für die vergangenen zehn Jahre festzustellen. Die auf die italienische Oper und speziell auf Mähren bezogene Forschung brachte reiche Ergebnisse, die im Rahmen von zwei am Institut für Musikwissenschaft der Masaryk-Universität in Brünn durchgeführten Forschungsprojekten erarbeitet wurden: Italská opera na Moravě v první polovině 18. století (Italienische Oper in Mähren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts; 2005–2007) und Výzkum operního repertoáru v českých zemích doby baroka (Die Erforschung des Opernrepertoires in den böhmischen Ländern der Barockzeit; 2009–2011).8
Jana Spáčilová schloss ihre Dissertation Hudba na dvoře olomouckého biskupa Schrattenbacha (1711–1738). Příspěvek k libretistice barokní opery a oratoria (Die Musik am Hof des Olmützer Bischofs Schrattenbach [1711–1738]. Ein Beitrag zur Librettistik der Oper und des Oratoriums des Barock) 2006 ab.9 Gegenwärtig arbeitet sie an dem Projekt Catalogue of the Italian Opera Libretti in Central Europe in the 1st Half of the 18th Century, I: Moravia (im Druck). Die Rolle der böhmischen Länder für die Entwicklung der Barockmusik in Europa war auch Thema einiger Referate des 2007 in Brünn veranstalteten internationalen musikwissenschaftlichen Colloquiums The Eighteenth-Century Italian Opera Seria: Metamorphoses of the Opera in the Imperial Age.10 Hier wurden Ergebnisse des Forschungsprojekts Italienische Oper in Mähren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorgestellt, einschließlich eines Teiles der von Ondřej Macek rekonstruierten Vivaldi-Oper Argippo.
Erste im Rahmen des Projekts Die Erforschung des Opernrepertoires in den böhmischen Ländern der Barockzeit gewonnene Erkenntnisse wurden beim internationalen musikwissenschaftlichen Colloquium The Musical Land of Moravia im Oktober 2009 in Brünn präsentiert. Zu den Hauptergebnissen dieser Projekte gehören eine aktuelle Monographie der Autorin über das Musikleben in Jarmeritz aus dem Jahre 201111 und eine Reihe von Teilarbeiten über den Opernbetrieb in anderen mährischen Ortschaften. Parallel zu diesen Arbeiten wurde eine theaterwissenschaftliche Untersuchung unternommen, die neue Ergebnisse bezüglich der Anfänge der italienischen Oper in Brünn vorstellen konnte.12 Weitere neue Forschungen wurden im Rahmen des Projektes Výzkumné sondy k dějinám hudební kultury na Moravě (Sondierungen zur Geschichte der Musikkultur in Mähren) realisiert.13
Wichtige Anregungen brachte das 2012 – anlässlich des 260. Todestages von Questenberg – veranstaltete Symposium Hrabě Johann Adam Questenberg (1678–1752) – mecenáš a iniciátor hudebního dění na Moravě v době baroka (Graf Johann Adam Questenberg – Mäzen und Initiator des musikalischen Lebens in Mähren in der Barockzeit).14 Als Kooperation zwischen dem Institut für Musikwissenschaft der Masaryk-Universität Brünn und dem Don Juan Archiv Wien fanden zwei in diesem Zusammenhang erwähnenswerte Internationale Workshops statt: ein erster am 4. Februar 2014 in Brünn zur Quellenforschung zu Musik und Theater im...