1
Der Zug schnitt wie ein Messer durch die europäische Abenddämmerung. Der Regen peitschte gegen die Abteilfenster.
„Gott pinkelt“, sagte ein kleiner Junge, der mit seiner Schwester auf dem Sitz mir gegenüber saß.
„Carl!“
Ihre Mutter sah mich entschuldigend an, während sie sich zu ihrem Sohn hinüberbeugte und ihm mit einer Papierserviette den Mund abwischte.
„Gott pinkelt nicht“, antwortete seine Schwester, „er weint.“
Es war keine Aussage mit Trommelwirbel, eher die ruhige Feststellung einer Tatsache mit einem schwachen Ausrufezeichen dahinter. Wie ein unterdrückter Atemzug mit einer unmittelbar mattsetzenden Wirkung.
„Dann muss er wohl sehr traurig sein“, seufzte die Mutter resigniert mit leerem Blick auf die beschlagene Fensterscheibe, bevor sie sich wieder hinter einer Frauenzeitschrift versteckte.
Das Mädchen legte den Kopf klaglos auf die Schulter des Bruders. So, wie die beiden dasaßen, brachten sie den Protest einer ganzen Generation gegen die gedankenlose Ablehnung des Heiligsten aller Heiligen zum Ausdruck: die göttliche und zarte Fähigkeit des Menschen, präsent zu sein.
Ich lächelte ihnen mitfühlend zu und lehnte mich in der Hoffnung, etwas Schlaf zu finden, in meinem Sitz zurück.
In der Tasche neben mir lag das Ergebnis von zwei Jahren intensivster Arbeit, das Manuskript für das Buch über Maria Magdalena, die vergessene weibliche Kraft. Aber es war auch das Ergebnis des Aufbrechens eines Lebens. Zwei Jahre lang war ich mehr oder weniger umhergewandert, ohne einen anderen Zielpunkt als das Manuskript. Ich schrieb in einem kleinen Haus in den andalusischen Bergen, in der Gare du Nord in Paris, im Hôtel Costes in Montségur. Zeile für Zeile, Stück für Stück, an zufälligen Rastplätzen, in wechselnden Hotelzimmern und geschäftigen Bahnhöfen, wo immer es möglich war, mich mit meinem Laptop auf den Knien hinzusetzen.
Die Arbeit war vollbracht, und ich war auf dem Weg nach Dänemark, hundemüde. In den Tiefen meines Bewusstseins rührte sich eine Angst, ob die Teile wohl zusammenpassen würden oder nicht. Würde es Kohärenz in dem Chaos geben? Das war alles, woran ich denken konnte, bevor ich zum Klang der Tränen Gottes einschlief, die gegen das Fenster prasselten und bedeutsame Muster auf die Rückseite meiner Augenlider zeichneten.
Es gibt eine kleine Stadt, Bélesta, im Tal der Liebe, Val d’amour, in den Pyrenäen. In dieser Stadt gibt es ein Kind, das jedes Mal eine Träne vergießt, wenn ein Blatt vor seiner Zeit vom Baum fällt. Das Kind betrauert die Unwissenheit der Menschen. Beweint die allgegenwärtige Unwissenheit des Menschen um die wahre Essenz. Betrauert die spirituelle Blindheit des Menschen.
In dieser Stadt steht eine Kirche. Tief im Dunkeln der Krypta unter der Kirche gibt es ein Wasserbecken im Boden, das mit den Tränen dieses Kindes gefüllt ist. Sie bilden ein heiliges Wasser, in dem Pilger ihre Augen baden und ihr Sehvermögen wiedererlangen können.
Ist es nicht ein Paradox, dass die christliche Kirche, zumindest auf einer symbolischen Ebene, ihre wahre Kraft im Unbewussten versteckt?
Die Kirchen im Land der Katharer bergen viele Geheimnisse, die erst in letzter Zeit langsam ans Tageslicht treten. Es gab eine Zeit im Laufe meiner Bemühungen, einige dieser Geheimnisse aufzudecken, in der ich dachte, es gehe dabei um das Offenlegen von Misanthropie und Verlogenheit der katholischen Kirche. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Die Kirche hat im Laufe der Jahrhunderte viele nicht wiedergutzumachende Gräueltaten begangen. Man ist beinahe müde, nur daran zu denken, sie alle aufzuzählen. Aber wie hätte die Kirche anders sein können angesichts der Tatsache, dass sie ein Produkt der dem Menschen eigenen Beschränktheit ist? Genau wie alle anderen Kirchen und Religionen der Welt. Ob ein Neugeborenes eine Initiation als Hindu, Buddhist, Muslim, Jude, Christ oder Atheist erhält, hängt allein von der Wahl der Eltern ab oder den Umständen, die von der jeweiligen Kultur bestimmt sind. Kein Mensch und keine Kirche bestimmt jedoch die wahre kosmische Identität des Kindes. Dies gilt wiederum für uns alle.
Ich glaubte, meine Reise sei fast vorüber. In Wirklichkeit sollte sie gerade erst beginnen, aber damals hatte ich davon keine Ahnung. Mir ging es einzig und allein um das Magdalena-Manuskript. Obgleich ich derjenige war, der es niedergeschrieben hatte, fühlte es sich eher wie ein Geschenk an, das man mir nach Hause zu bringen erlaubt hatte, als wie etwas, das ich persönlich geschaffen hatte. Es erfüllte mich mit tiefer Dankbarkeit, aber auch mit einer seltsamen Leere, einer anderen Art von Leere als der, die man normalerweise erfährt, wenn man etwas beendet hat.
Die Intuition kennt viele Wege. Grundsätzlich kann man sagen, dass Intuition den Menschen nicht benutzt, wenn er sie nicht benutzt. Bestenfalls war meine Reise ein Beispiel dafür, was alles passieren kann, wenn man sich von einer inneren Stimme leiten lässt, die materielle Realität loslässt und in die Seelenlandschaft reist, die im Grunde immer zugänglich ist, aber selten besucht wird und die durch die Einschränkungen der jeweiligen Persönlichkeit gewöhnlich verborgen ist.
Meine Begegnungen mit dem Seher haben mich Einblicke in die zahllosen Ebenen, die uns umgeben, gewinnen lassen, haben mir aber auch die zahlreichen Fallen gezeigt, in die ein Suchender leicht hineintappen kann. Ich habe auf meinen Astralreisen die Unterwelt besucht und bin meinen persönlichen Schatten sowie einer langen Reihe kollektiver Dämonen begegnet, die sich dort verbergen. Ich kam bei meiner Reise nach Toledo in Kontakt mit dem Orakel, einer inneren Stimme, mit der ich Kontakt aufnehmen konnte, wenn ich einigermaßen ausgeglichen war. Aber das alles waren nur Schule und zu lernende Lektionen. Auf einer entscheidenden Ebene war ich noch immer gebunden und voller Angst. Ich musste noch mit meiner grundlegenden Einsamkeit umzugehen lernen, und die zeitweilige Trennung vom Seher machte die Sache nicht einfacher.
Während einer unserer Sitzungen in Montségur, mitten auf dem Höhepunkt unseres Konflikts und um mich zu korrigieren, sagte er mir beharrlich, dass ich nichts weiter als ein Botenjunge des Direktoriums sei. Der Umstand, dass er über das Direktorium der Großen Beleuchtungsgesellschaft im Obergeschoss sprach, entspannte die Situation zwischen uns nicht gerade. Seither sind seine Worte immer und immer wieder zurückgekommen, und in diesem Augenblick klangen sie lauter denn je. Es gab kein Entkommen: Die Zeit war reif für mich, mein Erbe anzutreten. Ich musste mich auf meine eigenen Mittel verlassen.
Der Zug klagte mit all seinen Kupplungen. Der von weither kommende kreischende Klang der Bremsen holte mich aus dem Schlaf. Ich öffnete die Augen. Die Neonröhre an der Decke war ausgeschaltet. Die Mutter mit den beiden Kindern war verschwunden. Stattdessen erhaschte ich einen Blick auf eine Gestalt, die auf dem Sitz mir direkt gegenübersaß und von einem seltsamen, verschwommenen Licht umgeben war. Das Licht war nicht klar genug, als dass ich hätte sagen können, ob es sich hierbei um einen Mann oder eine Frau handelte. Völlig bewegungslos saß diese Gestalt da, und ich blinzelte, um den unsichtbaren Schleier zwischen uns zu durchdringen. Doch ich hatte keinen Erfolg.
Ich wollte etwas sagen und hatte das Gefühl, dass meine Lippen sich bewegten, aber aus einem unerklärlichen Grund gaben sie keinen Laut von sich. Merkwürdigerweise schien das mehr oder weniger normal zu sein. Es waren keine Worte nötig. Etwas, das unter normalen Umständen völlig frustrierend gewesen wäre, veränderte sich nun in vollkommene Akzeptanz. Erst in dem Moment bemerkte ich, welch ein Friede in der inneren Leere herrschte. Ich lehnte mich wieder zurück und überließ mich der Schaukelbewegung des Zuges. Ich war nicht allein.
Ich döste langsam ein und schwebte in der Zeit zurück, bis ich im Jahr 1982 aufwachte. Es war das Jahr, in dem ich, zusammen mit den Warm Guns, das Album Italiano Moderno in den Eden-Studios in London aufnahm. Es war einer jener Tage, an denen der legendäre Songwriter und Produzent Nick Lowe das Studio besuchte. Bei einem Bier hörten wir uns die Aufnahmen dieses Tages an, als er plötzlich auf eine Werbung in Time Out zeigte. Sie betraf „Mediale Lesungen“.
„Warst du schon mal bei einem Medium?“, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. Aber ich wusste sofort, dass ich es ausprobieren sollte.
Zwei Stunden später stand ich vor dem alten Sitz des „College of Psychic Studies“ im Zentrum von London. Vor dem Haus gab es eine kleine Schlange, in der Hausfrauen, Punks und ein Geschäftsmann aus der City warteten. Eine Eintrittskarte kostete zwei Pfund. Man geleitete mich in einen Raum im zweiten Stock.
Ich wurde von einer jungen Frau begrüßt. Wir sagten Hallo, und sie bat mich...