Im Jahr 1152 fasste König Stephan von England den Entschluss, einen fünfjährigen Jungen hinzurichten. Dieses Kind – Guillaume le Maréchal – hatte nichts verbrochen. Es war eine Geisel: der Krone als Unterpfand übergeben für das Ehrenwort seines Vaters, einer nicht sonderlich bedeutenden Figur im großen Spiel um politische Macht, das damals in einem von Bürgerkrieg verheerten Königreich ausgetragen wurde. Als Guillaumes Vater praktisch unmittelbar danach seinen dem König gegebenen Schwur brach und erklärte, dass »ihm das Kind egal« sei, schließlich verfüge er noch »über Amboss und Hammer, um weitaus bessere zu schmieden«, war der König aufs Äußerste erzürnt. In seiner Wut befahl er, den Jungen »zu holen und zwecks Erhängen zum Galgen zu bringen«. Der kleine Guillaume wurde also dem königlichen Befehl gemäß weggeführt, sein Schicksal schien besiegelt.1
In seinem ganzen langen Leben vergaß Guillaume offenbar nie diesen Augenblick äußerster Dramatik. Womöglich bildete er seine früheste Kindheitserinnerung. Ruhm und Erfolg warteten auf ihn, er sollte sogar als der »beste Ritter der Welt« gefeiert werden, doch er begann seinen Weg als ein Junge, der von seinem Vater im Stich gelassen und von seinem König zum Tod verurteilt wurde. Wie kam es, dass das Leben des kleinen Guillaume in solche Gefahr gebracht wurde – und wie überlebte er?
EIN LAND DES UNFRIEDENS UND DES CHAOS
Guillaume le Maréchal wurde um das Jahr 1147 in England geboren, in einer Zeit schlimmer politischer Turbulenzen. Das Königreich befand sich im Würgegriff eines ruinösen, seit fünfzehn Jahren andauernden Konflikts: König Stephan leistete erbitterten Widerstand gegen die Versuche von Kaiserin Matilda, seiner Kusine, die Macht zu ergreifen. Beide hatten gewichtige Gründe für ihre Herrschaftsansprüche, daher war das Land in seiner Loyalität zweigeteilt und versank immer tiefer in Anarchie. Ein zeitgenössischer Chronist sprach von einer Phase »großen Unfrie-dens [und] Chaos«, in der England »von Krieg heimgesucht war … und das Gesetz des Landes keine Beachtung mehr fand«. Weite Landstriche waren von Kämpfen verwüstet, es lebte dort niemand mehr, und man konnte »einen ganzen Tag unterwegs sein« und lediglich unbewohnte Dörfer und unbebaute Felder passieren. In den verwüsteten Gegenden »verhungerten die Menschen elendiglich«. Ein Zeitgenosse bemerkte, in diesen Jahren hätten viele »in aller Öffentlichkeit davon gesprochen, dass Christus und seine Heiligen schliefen«.2
Doch inmitten des Chaos und der Schrecken dieser Zeit gab es auch Menschen, die von dem Bürgerkrieg profitierten. Mit dem Zusammenbruch der Autorität der Krone war die Aufgabe, einen Anschein von Ordnung aufrecht zu erhalten, an lokale Warlords übergegangen, und diese Macht wurde von skrupellosen, räuberischen Männern häufig missbraucht. Ein Mann dieses Schlags war Guillaumes Vater, Jean le Maréchal, ein nicht sehr hochrangiger Adliger mit einer Grundherrschaft in Südwestengland. Jean war von seiner Abstammung her kein Engländer (oder Angelsachse), sondern ein Französisch sprechender Normanne. Im 10. Jahrhundert hatten sich seine Wikinger-Vorfahren – die damals so genannten »Nordmänner« – in einem Teil Nordfrankreichs niedergelassen, der später Normandie heißen sollte (wörtlich: »Land der Nordmänner«). Sie eigneten sich einige Gebräuche ihrer neuen Heimat an, legten sich sogar französische beziehungsweise fränkische Namen zu, doch blieben sie vom Naturell her streitbar und landhungrig. Im Jahr 1066 überquerte ihr Anführer Wilhelm, Herzog der Normandie – Wilhelm »der Eroberer« –, an der Spitze einer Invasionsstreitmacht den Ärmelkanal und erstritt in der Schlacht von Hastings einen überwältigenden Sieg. Im Zuge dieses normannischen Triumphs blieben Englands letzter angelsächsischer König, der noch junge Harold Godwinson, und die Besten des regierenden Adels tot auf dem Schlachtfeld zurück. Wilhelm übernahm die Krone von England, behielt aber auch die Herrschaft über die Normandie. Es entstand ein anglo-normannisches Königreich, und in diese den Ärmelkanal übergreifende Welt hinein wurde Guillaume le Maréchal geboren.
In gewisser Hinsicht markiert das Jahr 1066 einen entscheidenden Bruch mit der Vergangenheit. Wilhelm der Eroberer begründete eine neue, beständige königliche Dynastie, und Englands »ursprüngliche« Einwohner mussten plötzlich feststellen, dass sie Untertanen fremder Eindringlinge waren. König Wilhelm I. verteilte das Land nördlich des Ärmelkanals an rund 150 normannische Warlords und Amtsträger, und in gemeinsamer Anstrengung befriedeten sie das Reich unter Anwendung brutaler Gewalt: Sie errichteten ein ausgedehntes Netzwerk imposanter Burgen, um ihre Autorität zu sichern. Jean le Maréchals Vater Gilbert Giffard (wörtlich bedeutet der Name »Gilbert Pausbacke«) war einer dieser frühen normannischen Siedler. Er kam entweder mit der ersten Eroberungswelle oder unmittelbar danach nach England. Zum Zeitpunkt der großen Domesday-Erhebung Wilhelms I., der Erfassung sämtlicher Ländereien aus dem Jahr 1086, besaß Gilbert ein Gebiet in der westlichen Grafschaft Wiltshire. Er hatte außerdem die Funktion eines königlichen Obermarschalls. Dabei handelte es sich um ein altes militärisches Amt, das traditionellerweise mit der Pflege und Wartung der Pferde des Königs assoziiert war, sich allerdings im Lauf der Zeit zu einem Verwaltungsposten entwickelt hatte, dessen Inhaber hauptsächlich mit den alltäglichen Abläufen bei Hof betraut war.
Sieht man sie in einem größeren Kontext, so war die Ankunft der Normannen nicht ganz so erschütternd, wie es auf den ersten Blick vielleicht wirken mag. Später sollte Britannien seinen Ruf als uneinnehmbares Insel-Königreich kultivieren: als William Shakespeares unantastbare »bezepterte Insel«, »dieses feste Castell, das die Natur für sich selbst aufgeworfen hat, um sich vor … feindseligem Anfall zu sichern« (»sceptre’d isle«, the »fortress built by nature [against] the hand of war«). Im frühen Mittelalter jedoch war England fatal anfällig für Invasionen. Durch die Jahrhunderte, die dem Jahr 1066 vorangingen, sahen sich die Angelsachsen (ihrerseits Nachfolger der früheren keltischen und anschließend der römischen Invasoren) wiederholten Wellen von Einfällen und Besiedlungen durch die Wikinger ausgesetzt. Das hatte zur Folge, dass sich ein großer Teil von Nordengland in norwegischer Hand befand. Eine Periode direkter Wikingerherrschaft – unter Knut von Dänemark – war das frühe 11. Jahrhundert. Für kurze Zeit kamen danach wieder angelsächsische Könige an die Macht, und dann traf auch schon Wilhelm der Eroberer ein. Das hatte zur Folge, dass die kulturelle, ethnische und sprachliche Identität der »Engländer« alles andere als homogen war, und die Vorstellung, dass die Normannen über eine im Prinzip organisch entstandene, rein angelsächsische Gesellschaft herfielen, hat in der Realität kaum eine Entsprechung.
Die Kolonisierung Englands durch die Normannen verlief erstaunlich erfolgreich. Der Eroberer und seine Nachfolger hatten sich eines wohlhabenden Lands bemächtigt, das für seine Bodenschätze berühmt war und gewissermaßen nur darauf wartete, ausgebeutet zu werden. Über ein Drittel der Britischen Inseln war noch immer dicht bewaldet, aber England verfügte im ausgehenden 11. Jahrhundert auch über den Reichtum von knapp drei Millionen Hektar bebauten Ackerlands, die von einer überwiegend ländlichen Bevölkerung – rund zweieinhalb Millionen Menschen lebten damals auf der Insel – bebaut wurden. Eine Periode des Klimawandels führte außerdem dazu, dass die Durchschnittstemperatur um ungefähr ein Grad Celsius wärmer wurde, was eine Vermehrung der Ackerbauerträge zur Folge hatte (es war sogar möglich, in Mittelengland Wein anzubauen). Zumindest für die herrschende Klasse war dies eine Zeit des Überflusses. Nach dem Tod von König Wilhelm im Jahr 1087 hatte man auch den Eindruck, als sei eine Ära politischer Kontinuität angebrochen: Auf ihn folgten zwei seiner Söhne, Wilhelm Rufus (1087–1100) und dann Heinrich I....