1. Kapitel
Nichts ist mehr, wie es einmal war
Während früher der Bauer tagein, tagaus im schweren Boden hinter seinem Pflug herstapfte, wird in unserer Zeit körperliche Arbeit meist Maschinen überlassen. Die einstige Schwerstarbeit von Tagen erledigt mittlerweile ein Traktor im Handumdrehen. Und auch der Tagesrhythmus hat sich völlig gewandelt. Während früher der Wechsel zwischen Tag und Nacht dem Stand der Sonne folgte – mit den Hühnern suchte man am Abend sein Schlafzimmer auf, um morgens beim ersten Hahnenschrei wieder auf der Matte zu stehen –, hat sich mit dem Jahr 1879 alles geändert. Denn mit der Erfindung der Glühbirne hat der Mensch die Nacht zum Tag gemacht. Doch selbst die beginnende Industrialisierung kannte noch Pausen: Die ersten Dampfmaschinen waren noch auf hohe Wartungszeiten angewiesen. Wiederkehrende Ruhezeiten waren unumgänglich, in der die Technik kurz verweilen musste. Mit dem technischen Fortschritt schwanden diese Pausen jedoch. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Entfesselung der Arbeit schließlich mit der Erfindung des Computers und seinen schier unbegrenzten Möglichkeiten. Seither sind wir eingebunden in ein globales Netzwerk, das ein nachhaltiges Pausen- und Unterbrechungsverhalten nicht mehr zulässt. Das Berufsleben wurde unter der Bezeichnung »Entgrenzung von Arbeit« grundlegend verändert, dabei vollzog sich diese »stille Revolution« in vier Stufen:
Zum Überleben in grauer Vorzeit konnte der Mensch seinem bewährten Kampf- und Fluchtreflex vertrauen, der bei drohender Gefahr im Bruchteil einer Sekunde alle Energiereserven zündete. Seiner Stärke bewusst, erfolgte entweder der direkte Angriff nach vorn oder, im Falle einer Niederlage, die Flucht nach hinten. – Das war einmal.
Im Zeitalter des Computers hat sich vieles verändert. Hoher körperlicher Einsatz am Arbeitsplatz ist nicht mehr gefragt. Eine Erleichterung, möchte man meinen, doch der Schein trügt. Die Erregung des Zentralen Nervensystems durch den Kampf-Flucht-Reflex hat nicht ab-, sondern dramatisch zugenommen, hervorgerufen durch die hohe Stufe wechselnder Sinnesreize. Ein fehlerhafter Kreislauf ist die Folge, weil der Mensch plötzlich nicht nur endlosen Stressattacken schutzlos ausgesetzt ist, sondern ihm zugleich alle Fluchtkorridore verschlossen sind, so dass die Antriebshormone nicht mehr durch den notwendigen körperlichen Einsatz über die Aktivitäten großer Muskelgruppen (? der gesamten Muskelkapazität) abgebaut werden können. Laufen, Kämpfen, Flüchten – jeder körperliche Einsatz ebnet uns den Weg in den Fluchtkorridor, um Stress abzubauen. Ein Ausweg, der uns am Computer-Arbeitsplatz verschlossen bleibt. Die hohe zentrale Erregungsstufe muss tatenlos im Sitzen verarbeitet werden. Man schluckt den Ärger hinunter, auch wenn das Herz bis in die Schläfen pocht.
In der Bedienung der leichtgängigen Computer-Tastatur sind nicht mehr grobe Kräfte erforderlich, gefragt sind lediglich die kleinen Muskeln der Hände und der Arme, deren Aktivität aber nicht ausreicht, um den notwendigen Stoffwechselausgleich im Körper zu erreichen. Bei ihrem Intensiveinsatz in monotoner Position sind Überlastungssyndrome an der Tagesordnung, die unter der Bezeichnung RSI (repetitive strain injurie) zusammengefasst werden. Ein prominentes Beispiel ist das »Mausklick-Syndrom«, eine Berufskrankheit, die heute unter einem großen Aufwand an Zeit, Geld und Material in Spezialkliniken operiert werden muss.
Mit Internet, Facebook, Twitter, Handy und TV sind wir einer permanenten Online-Präsenz ausgesetzt, die in bedenklicher Weise zu einer »Entgrenzung von Arbeit« geführt hat. Bereits auf dem Weg zur Arbeit ist der Mitarbeiter mit seinem Laptop gefordert, nicht einmal am Wochenende reißt der Kontakt zu wichtigen Entscheidungsträgern der Firma ab. Und danach eröffnet sich eine Freizeitkultur, in der ein Event das nächste jagt. Oft schnappt die Burnout-Falle im Urlaub zu, der vielfach teuer erkauft werden muss. Denn neben dem eigentlichen Preis sind auch Zugverspätungen, lange Staus auf der Autobahn oder mögliche Streiks der Fluglotsen zu berücksichtigen. Der Feierabend hat Feierabend, nach erholsamen Pausen in unserer schnellen, hellen und lauten Welt suchen wir vergebens.
Mit der Entgrenzung der Arbeit in der Online-Gesellschaft wird die Überstunde höher eingestuft als die erholsame Siesta. Nicht der Stress ist es, der uns krank macht, sondern die verlorene Pause.
Wir leben im Wohlstand und bewegen uns in gesicherten Grenzen, während die Generationen unserer Väter, Groß- und Urgroßväter ständig mit anderen Völkern auf unterschiedlichsten Kriegsschauplätzen in einer Dauerfehde lagen. Noch heute wecken die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs, in denen nachts im Luftschutzkeller die feindlichen Flugzeuge über uns hinwegzogen, in mir die tiefsten Angstgefühle. Doch trotz der politischen Sicherheit unserer Zeit leidet gegenwärtig jeder siebte Europäer unter Angstzuständen, wie einer aktuellen Studie der Abteilung für Psychologie und Psychotherapie der TU Dresden unter Leitung von Hans-Ulrich Wittchen zu entnehmen ist. Beteiligt waren Hunderte von Forschern aus allen 27 EU-Staaten einschließlich der Schweiz, Norwegen und Island. Eine erschreckende Entwicklung konnte aufgezeichnet werden: Mit 26 Prozent stellen die psychischen Störungen inzwischen das häufigste Krankheitsbild. Damit sind die Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen erstmalig überholt. Die bereits bekannte WHO-Statistik wird nachdrücklich bestätigt: Laut WHO ist das Stress-Burnout-Syndrom inzwischen die weltweite Gesundheitsgefährdung Nr. 1, häufiger anzutreffen als die bisher führenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Die aktuellen Studiendaten im Einzelnen:
165 Millionen (38 Prozent) der Europäer leiden einmal pro Jahr an einer psychosomatischen Störung. Angststörungen liegen europaweit mit 14 Prozent an der Spitze aller Stressbelastungen. Die Depression liegt mit 7 Prozent auf Platz 2, gleichauf mit Schlafstörungen.
Inzwischen hat sich gezeigt, dass Menschen mit chronischen Angststörungen eine um vier Jahre verminderte Lebenserwartung haben – genau wie Brustkrebspatienten. Die Betroffenen ziehen sich schutzsuchend in die Isolation zurück, was zu negative Folgen für ihre allgemeine Gesundheit führt. Denn in dieser Isolation wird jedwede Aktivität vernachlässigt. Den Betroffenen fehlt die Initiative für ein ausgleichendes Ausdauertraining, wodurch das allgemeine Herz-Kreislauf-Risiko, die Gefahr eines Herzinfarktes oder eines Schlaganfalles drastisch wächst. Die soziale Isolierung von der Gesellschaft bewirkt eine weitere Zunahme der Stressspannung, denn der Mensch ist ein soziales Wesen, die gesundheitlichen Einbrüche dringen bis in das Immunsystem vor.
Vor allem alte Menschen sind es, die von Ängsten und Depressionen betroffen sind. Sie erleben häufiger Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Multiple Sklerose, Parkinson oder Alzheimer, die in der Regel mit depressiven Stimmungslagen assoziiert sind. Was in der Dresdener Studie jedoch überrascht, ist die Tatsache, dass gerade Jugendliche und Erwachsene unter 25 Jahren den höchsten Anstieg in der Häufigkeit der Depression aufzuweisen haben. Eine Entwicklung, die in den letzten 25 Jahren stattfand, denn vor dieser Zeit war eine echte Depression bei jungen Menschen sehr selten. Inzwischen ist bei Jungen und Mädchen unter 18 Jahren die Depression fünfmal häufiger anzutreffen als in früheren Epochen – und damit steigt automatisch das Risiko, im späteren Leben chronisch depressiv zu werden.
Jugendliche und junge Erwachsene weisen den höchsten Anstieg in der Häufigkeit der Depression auf.
Wo liegen die Gründe für diese eklatante Fehlentwicklung auf psychosomatischem Gebiet, die dazu führte, dass Stress und Burnout zu neuen Volkskrankheiten mutieren konnten, und die bewirkt, dass die moderne westliche Medizin bei der Behandlung der chronisch stressbedingten Erkrankungen häufig vor einem Rätsel steht? Das Problem besteht in vielen Fällen darin, dass sich die Menschen krank fühlen, ohne dass der Hausarzt in den Laborwerten und Röntgenaufnahmen etwas Greifbares nachweisen kann. Die chronisch stressbedingten Erkrankungen entziehen sich häufig modernsten Diagnoseverfahren, und dennoch ist der betroffene Patient schwer erkrankt. Gründe gibt es viele für die gesundheitliche Fehlentwicklung des Menschen im Stresszeitalter, hier die wichtigsten im Überblick:
Verlorener natürlicher Lebensrhythmus, Daueranspannung ohne ausgleichende Entspannung.
Dysbalance des vegetativen Nervensystems zwischen dem Anspannungsnerv (Sympathikus) und dem Entspannungsnerv (Parasympathikus). Der moderne Mensch ist permanent der Antriebspeitsche des Sympathikus ausgeliefert bei hoher Erregung des Zentralen Nervensystems.
In einer fehlenden Pausenkultur hat der Feierabend keine Bedeutung mehr.
Hohe Erwartungen ans Leben, die nicht immer erfüllt werden können.
Zukunftsängste, die durch negativen Medieninformationen gesteigert werden, Horrorvisionen beherrschen die Nachrichten.
Mit bis zu anderthalb Jahren Wartezeiten bei spezialisierten Psychologen oder Psychotherapeuten ist bei einer depressiven Erkrankung zu rechnen. Tritt in diesem Zeitraum keine Besserung ein, so ist häufig der Arbeitsplatz verloren...