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E-Book

Der halbe Mann

Dem Leben Beine machen

AutorFlorian Sitzmann
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641139124
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Volle Kraft voraus - Lebensmut auch ohne Beine
- Mit einem Vorwort von Xavier Naidoo
-Ein Lesebuch der besonderen Art
-Eine außergewöhnliche Lebensgeschichte, frech und charmant erzählt
-Die etwas andere Perspektive auf die Welt und das Leben

Der Unfall passierte mit einem Motorrad auf einer Raststätte. Ein LKW überrollte ihn und zerschmetterte seine Beine. Heute, nach unzähligen Operationen und langen Jahren Kampf steht Florian Sitzmann »mit beiden Beinen im Leben«.
Sitzmann liebt Geschwindigkeit und hat ein besonderes Faible für Autos. Mit seinem Lotus unternimmt er Nachtfahrten von Raststätte zu Raststätte und lässt sein bisheriges Leben an sich vorbeiziehen. Sitzmann zieht ein Resümee und vermittelt den Leserinnen und Lesern auf charmante Weise, wie positiv und lebenswert das Leben - auch mit Behinderung - ist, und über welche Dinge es lohnt, intensiver nachzudenken.

Florian Sitzmann, geboren 1976, hat nach einem schweren Motorrad-Unfall 1992 beide Beine verloren. 1999 schließt er eine kaufmännische Ausbildung ab. Im Jahr 2002 startet er eine international erfolgreiche Karriere als Leistungssportler im Handbiken. Seine positive Art, seinen Lebenswillen und seine Lebenserfahrung versucht er in verschiedenen Projekten an Menschen weiterzugeben, die sich in ähnlich schwierigen Lebenslagen befinden. Aus diesen Projekten entsteht eine immer größer werdende Vernetzung mit Gleichgesinnten, die wie Florian Sitzmann etwas bewegen wollen. Sein Buch 'Der halbe Mann - Dem Leben Beine machen' über die ersten Jahre nach seinem Unfall ist bereits in der 5. Auflage und wurde mehr als 12.000 mal verkauft.

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Leseprobe

WO DRIFTEN WIR HIN?


Ein Unfall verändert ein Leben


17 Jahre ist es jetzt her. Spätsommer 1992. Ein verregneter Tag in einem heißen Monat. Und ich gerade noch 15 Jahre alt. 2,04 Meter groß. Heute bin ich die Hälfte. Ein halber Mann. Ein Sitzmann. Namen sind Programm.

 

Über die Autobahn fahren. Nicht rasen, aber zügig fahren. Oder über Landstraßen cruisen. Dann kann ich am besten nachdenken. Meine Gedanken fließen mit der Leitplanke. Immer dort, wo sie unterbrochen ist, zerbeult, oder Bremsspuren zu sehen sind, da weiß ich, es ist etwas passiert. Das berührt mich immer noch. An jedem Unfall, den ich mitbekomme, ist auch ein Teil von mir mitbeteiligt.

 

Ich setze mich ins Auto, lege eine von Xaviers Platten auf und fahre los. Das Fahren und die Musik bringen meine Gedanken in Bewegung. Ich erzähle mir selbst mein Leben. Blicke zurück, nach vorne und schalte den Blinker ein. Hindernisse gibt es immer. Und überall. Heute nicht mehr und nicht weniger als damals.

 

Damals heißt im Klartext: in der Welt auf zwei Beinen.

 

Heute heißt im Klartext: im Rollstuhl.

 

»Herr Sitzmann, was klappt in Ihrem jetzigen Leben nicht mehr so gut?«, werde ich oft gefragt, und ich antworte:

 

»Treppensteigen.«

 

»Ist Ihr Name echt?«

 

Skurrilerweise ja!

 

Und: »Herr Sitzmann, und was vermissen Sie am meisten?« »Im Stehen vögeln«, sage ich und lache laut, damit die anderen es sich auch erlauben können. Das Lachen.

 

Ich bin unterwegs. Will einen Freund besuchen und muss wieder einmal an ihr vorbei: an der Raststätte, die meine Beine gefressen hat. Wieder einmal mache ich halt. Nicht, weil ich trauern will, sondern weil ich Hunger habe. Es liegt Schnee, viele LKW stehen hier, und ich höre die Aggregate brummen. Die Raststätte ist innen weiß getüncht, und an einem der Tische sitzt ein Mann, der Jägerschnitzel mit Kroketten isst. Alles ist ganz normal, bis auf die Tatsache, dass ich keine Beine habe. Die Blicke folgen mir verschämt. Kenne ich schon, und meinen Hunger beeindrucken Blicke nicht. Verschämte schon gar nicht. Ich ziele die Theke an.

 

»Bratwurst mit Pommes ohne Ketchup.« Auch Männer ohne Beine essen gern.

 

Viel Leuchtreklame in Rot ist hier zu sehen. Bin ich hier im Rotlichtmilieu gelandet? Klirrende Kälte, die die Brummifahrer zu den Türen hereintreibt. Von irgendwo steigen Nebelschwaden auf.

 

Das könnte hier eine gute Location für den Anfang eines guten Krimis sein, denke ich Bratwurst essend und schaue aus dem Fenster zu meinem Auto hin. Es wartet auf mich auf dem Behindertenparkplatz. Kein anderer Wagen weit und breit. Kein gutes Gelände heute, weder für Rollstuhlfahrer noch für Menschen, die auf Füßen gehen. Es ist alles vereist. 10-15 cm Schnee. Ein Wunder, dass ich nicht auf die Fresse gefallen bin.

 

Die Raststätte war früher ein Treffpunkt für Lastwagen aus aller Herren Länder. Deswegen war auch damals mein Lastwagenfahrer da. Vielleicht hielt er an, um Bratwurst zu essen – mit Pommes ohne Ketchup. Und dann wollte er weiter, aber Stefan und ich waren ihm im Weg. Und dann nur noch ich. Und dann nur noch meine Beine. Mein Lastwagen kam aus Norddeutschland. Das ist lange her. Die Hälfte meines Lebens. Es macht mir nichts aus, davon zu erzählen oder darüber nachzudenken. Viel Gutes ist seitdem passiert. Diese Raststätte hier ist für mich nichts anderes als der Parkplatz, an dem ein neues Leben für mich begann.

 

Während ich meine Pommes nachsalze, verfolgen meine Augen das Abendprogramm, das stumm aus dem Fernseher rieselt, der unter der Decke hängt. Das Ganze unterlegt mit einer Tonspur aus dem Radio. Ich hab das noch nie begriffen, warum in Kneipen Fernseher laufen, obwohl ihr Ton abgeschaltet ist.

 

Jetzt ist ein älteres Ehepaar hereingekommen, das auch Schnitzel mit Pommes essen will. Sie nicken zu mir herüber und ich lächle zurück. Niemand sieht, dass ich keine Beine habe. Meine fehlenden Füße sind unter dem Tisch und da schaut niemand mehr hin, der in mein lachendes Gesicht geschaut hat. Die meisten Menschen kommen nicht einmal auf die Idee, dass ich so schwer behindert bin. Wo ich doch so offen lachen kann.

 

Ich muss mal aufs Klo. Die Behinderten-Toilette ist sehr sauber, und es riecht auch richtig gut hier. Das Personal ist aus Polen oder Russland. Sehr zuvorkommend und freundlich. Die beiden halten mir sofort die Tür auf. Ich müsse nichts bezahlen, erklärt mir der Mann. Keine Pinkelgebühr. »Warum nicht?«, frage ich zurück. Die Toilette muss ja trotzdem geputzt werden. Ich lege 70 Cent in die Schale und merke: In dieser Schale sind wir alle gleich, denn das Kleingeld wandert sofort in seine Kitteltasche.

 

Was hat das Pinkeln eigentlich damals gekostet? Kann mich nicht mehr daran erinnern, wie an so vieles, was mir entfallen ist. Durch einen Unfall trennt sich so manches. Was war davor und was danach? Wer war aufmerksam, und wer war es nicht? Wer war Schuld und wer hatte keine? Und auch ich, der Sitzmann, wurde getrennt. Danach gab es einen oberen und einen unteren Sitzmann. Wie in Wien das obere und das untere Belvedere zu besichtigen ist. Nur dass meine unteren Prunkräume nicht mehr zu sehen sind.

 

Und: Viele Überlegungen tauchen nach einem solchen Unfall auf. Wenn wir nicht Rast gemacht hätten ... Wenn das Wetter gut gewesen wäre … Wenn wir nicht so gehetzt gewesen wären … Wenn der Lastwagenfahrer doch noch eine geraucht hätte, bevor er wieder losgefahren wäre. Fünf Minuten hätten gereicht. Vier Minuten. Drei, zwei, eine. Nicht nur Minuten, Sekunden können im Leben alles verändern. Sogar Bruchteile von Sekunden. Die Überlegungen kommen zu spät. Sie rollen das Leben nach hinten auf, und das funktioniert einfach nicht. Man muss nach vorne blicken. Immer. Mit und ohne Beine.

 

Ich denke jetzt nur darüber nach, weil alle möglichen Leute immer wieder darüber nachdenken und mich dann fragen. Sie sehen mich, hören meine Geschichte und schon kommt: Oh Scheiße, wenn die doch noch einen Moment gewartet hätten und Flo noch mal pinkeln gegangen wäre, obwohl er schon pinkeln war, dann könnte er jetzt noch laufen und bräuchte nicht den blöden Rollstuhl.

 

Klar. Alles wäre anders gekommen, hätten Stefan und ich damals nicht diese Tour nach Holland gemacht. Haben wir aber. Gut gelaunt und mit den besten Absichten. Ein Kurztrip in Partylaune. Ich hatte ein Mädchen wiedertreffen wollen, das ich ein paar Wochen zuvor dort in einer Jugendherberge an der Bar kennen gelernt hatte. Die wollte ich unbedingt wiedersehen. Und dann kamen wir an, und die süße Holländerin war nicht mehr da. Schöner Mist. Und ich, total verknallt, hatte nicht einmal ihren Namen oder eine Telefonnummer. O.K., verlieren gehört zum Pokern, das Risiko zum Spiel!

 

Stefan und ich hockten uns an dem Abend an die Bar, und ich trank eine ganze Menge unmögliches Zeug. Grauenhafte Kombinationen aus Alk und Cola. Die Party, wegen der wir nach Holland gefahren waren, fand dann zwischen uns beiden statt und endete damit, dass wir sternhagelvoll ins Bett fielen und am nächsten Morgen megamäßig verschliefen. Es war ein Sonntag, und wir wollten schnell nach Hause. Als wir endlich aufwachten, war aber bereits späte Kaffeezeit. Sehr späte Kaffeezeit! Das war eine Katastrophe, weil ich ja am nächsten Tag Schule hatte und Stefan wieder zur Arbeit musste. Wir blickten gehetzt auf unsere Uhren, rutschten mit den Fingern auf der Landkarte herum, fanden keine Abkürzung und hatten Panik in den Augen. Panik kenne ich eigentlich als Zustand nicht. Nur heute taucht sie dann und wann auf, wenn ein anderer am Steuer sitzt. Der Unfall hat einen echt miesen Beifahrer aus mir gemacht.

 

Wir machten uns damals, so schnell es ging, auf den Weg. »Nein, danke, kein Kaffee! Nein, wirklich nicht! Danke, wir müssen echt ganz schnell los!« Zuerst war es sonnig und trocken. Aber je näher wir gen Homebase kamen, desto dunkler wurde der Himmel über uns. Die Wolken zogen sich grau zusammen, in weiter Ferne zuckten am Himmel ein paar Blitze, der Wind zerrte an den Bäumen und an uns, und bald schon klebten wir beide komplett durchnässt auf dem Motorradsattel fest. Es regnete wie aus Kübeln, aber Stefan fuhr trotzdem sehr, sehr sicher. Er hatte den Führerschein schon eine ganze Weile, weil er älter ist als ich. Ich hätte mir die Fahrt bei diesem Regen ganz bestimmt nicht zugetraut.

 

Es war wirklich eine grauenhafte Fahrt. Als ich die Schilder der Raststätte sah, brüllte ich unter meinem Helm zu ihm nach vorne: »Halt mal an, ich muss aufs Klo!« Obwohl nur noch ein paar Kilometer vor uns lagen, hatte ich langsam echt genug und außerdem jetzt auch noch Hunger.

 

Wir bogen zur Raststätte »Hunsrück« ab. Nach Hause waren es noch 80 Kilometer. Schnell tanken, von den letzten Groschen was essen. »In einer Dreiviertelstunde sind wir zu Hause.« Bloß kein langer Stopp. So nass, wie wir waren, dachten wir an nichts anderes als an eine warme Dusche und noch irgendwas Gutes zu essen. Heim zu Mamas Herd. Ich rannte runter auf die Toilette. Die, die heute 70 Cent kostet und für Behinderte eine Gratis-Leistung ist. 1992 hatte ich noch die andere Tür genommen. Bereits nach zehn Minuten waren wir wieder soweit. Rauf auf das Motorrad, ziemlich matt und mürbe von dem Wetter. Stefan war die ganze Zeit gefahren, denn ich...

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