Raum für Traum und Albtraum
Der lange Weg zum Mount Everest führte aus der Abgeschiedenheit des Himalaja zu einem Rummelplatz
Der dritthöchste Berg der Erde, ganz im Osten Nepals auf der Grenze zu Sikkim gelegen, ist ein wuchtiger Klotz und ein sehr einsamer Achttausender. Der 8586 Meter hohe Kangchendzönga, ein Riese aus Fels und Eis, einer der größten Gletscherberge der Welt, ist nicht sehr beliebt bei Höhenbergsteigern – wegen der Einsamkeit, wegen der wochenlangen Exponiertheit, der sich die Kletterer aussetzen, und nicht zuletzt auch wegen der extrem komplizierten Anstiege in Richtung Gipfel.
Drei Spanier, die alle vierzehn Achttausender innerhalb eines Jahres zu besteigen versuchten, der Italiener Fausto de Stefani auf dem Weg zu seinem vierzehnten Achttausender, ein paar Koreaner, beladen mit kilometerlangen Fixseilen und Flaschensauerstoff, und unsere kleine Expeditionsgruppe, angeführt von dem Südtiroler Ausnahmebergsteiger Hans Kammerlander – mehr Menschen bewegten sich 1998 nicht in den Flanken des Kangchendzönga.
Wir hatten in diesem Jahr unser Basislager unter der Südwestwand aufgeschlagen und waren in den ersten beiden Wochen vor allem erstaunt über die extremen Witterungsbedingungen. Bei weit über 30 Grad schwitzten wir am frühen Nachmittag und krochen in den Nächten tief in die Schlafsäcke, wenn das Thermometer oft unter 20 Grad minus fiel.
Zusammen mit Hans Kammerlander hatte ich begonnen, an seinem Buch Bergsüchtig zu schreiben. Nach drei dieser kalten Nächte fror das Display des Notebooks ein, und wir bestaunten wunderbare Eisblumen; die Buchstaben und Worte mussten wir indes durch eifriges Scrollen mit der ebenfalls träge gewordenen Maus mühsam miteinander verbinden.
All das war jedoch nichts im Vergleich zu der überwältigenden Einsamkeit am Fuß dieses Berges. Kangchendzönga bedeutet übersetzt »Die fünf Schatzkammern des großen Schnees«. Manchmal hatte ich das Gefühl, in dieser Stille, in dieser grandiosen Ruhe zum ersten Mal in meinem Leben den wahren Schatz der Einsamkeit gehoben zu haben.
Die Bergsteiger aus Spanien, Italien, Korea und Südtirol sahen sich in diesem Frühjahr 1998 nur sehr selten – eigentlich fast nie. Ich kannte Nepal von Trekkingtouren, aber ich war zum ersten Mal Mitglied einer Expeditionsgruppe unter einem Achttausender. Ich weiß nicht mehr genau, was ich damals eigentlich erwartet hatte, eine derartige Abgeschiedenheit jedenfalls nicht.
Zwei Jahre zuvor hatte sich am Mount Everest jene bis heute unfassbare Katastrophe ereignet, bei der in einem Höhensturm in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1996 binnen weniger Stunden acht Menschen umkamen, fünf auf der Süd- und drei auf der Nordroute. Ich hatte, wie so viele andere Menschen auch, Jon Krakauers Buch In eisige Höhen regelrecht verschlungen. Weniger aus Sensationsgier, vielmehr hat mich seit meinen ersten Journalistentagen Ende der 1970er-Jahre der US-Reportagejournalismus auf gewisse Weise oft fasziniert. Einige US-amerikanische Schreiber sind in der Lage, selbst schlimme, höchst emotionale und aufwühlende Ereignisse mit einer derart unterkühlten Distanziertheit zu beschreiben, dass einem beim Lesen beinahe das Blut in den Adern gefriert. Doch genau mit dieser »Kälte« schaffen sie eine unmittelbare Nähe zum Ereignis, und es entsteht so eine atemraubende Atmosphäre. Ich hatte 1997 zuerst den Vorabdruck in Geo gelesen und dann das Buch. Nun, am Fuß des Kangchendzönga, las ich den Bestseller erneut. Besser gesagt, wir lasen ihn zu dritt. Wir hatten die gebundene Ausgabe in drei Teile zerrissen. Und weil ich das Buch schon kannte, durfte ich »hinten« anfangen. Hans Kammerlander las derweil die Mitte, und Konrad Auer, ein Bergführer aus Südtirol und Gipfelpartner Kammerlanders am Kangchendzönga, wollte unbedingt vorn beginnen. Als wir fertig waren, tauschten wir die Teile untereinander aus.
Besonders beeindruckend sind unter anderem Krakauers Schilderungen aus dem Basislager an der Südseite des Mount Everest. Dort musste es, so mein Eindruck, zugegangen sein wie in einem Tollhaus. Und wir selbst saßen derweil am Fuße des Kangchendzönga in vollkommener Ruhe, die nur von dem tosenden Krawall abgehender Monsterlawinen durchbrochen wurde. Oder von Lakhpa, unserem Koch, der das Frühstück, Mittag- und Abendessen damit einleitete, dass er mit einem Löffel lautstark auf einen metallenen Teller schlug.
Um nichts in der Welt hätte ich diesen Ort gegen das Basislager des Everest tauschen wollen. Wir waren am Kangchendzönga zu fünft, unser Expeditionsleiter Hans Kammerlander, der Höhenbergsteiger Konrad Auer, der Bergführer Werner Tinkhauser, der den Südtiroler Kameramann Hartmann Seeber in dessen unglaublichen Bemühungen unterstützte, dort noch mit einer großen Kamera zu filmen, wo andere kaum noch gehen konnten. Und ich selbst mit der Aufgabe, den Koch bei Laune zu halten und ein Buch zu schreiben. Letzteres war zweifelsfrei sehr viel schwieriger.
Ein Jahr später am Fuß des K2. Ein Filmteam von National Geographic, zehn Schweizer Ärzte, die den Skyang Kangri, einen 7545 Meter hohen Karakorum-Gipfel nordöstlich des K2 am Ende des Godwin-Austen-Gletschers, zu besteigen versuchten; eine Gruppe südkoreanischer Bergsteiger mit Jung-Hun Park an der Spitze; die italienischen Alpinisten Oskar Piazza, Angelo Giovanetti und Manuel Lugli, der Rumäne Michai Cioroianu, Jay Sieger aus Alaska, der türkische Bergsteiger Uğur Uluocak und unser kleines Expeditionsteam – mit Hans Kammerlander, Konrad Auer, dem Kameramann Hartmann Seeber, der TV-Reporter Bernd Welz und ich – mehr Bergsteiger waren 1999 nicht im Basislager des K2. Im Lauf der vier Wochen zwischen dem 24. Juni, als wir am Fuß der K2-Südwand ankamen, und dem 20. Juli, als wir unsere Zelte wieder abbauten, entstand das, was man in einer zivilisierten Umgebung wohl eine gute Nachbarschaft nennen würde.
Am 10. Juli 1999 starb Michai Cioroianu in den unteren Flanken des Abruzzensporns. Dort verläuft die Route der Erstbesteiger in Richtung Gipfel. Cioroianu war im Aufstieg bei einer kurzen Rast sitzend von einem Stein am Rücken getroffen worden. Alle Versuche, das Leben des Rumänen zu retten, scheiterten – ein Rettungsteam mit dem Arzt Manuel Lugli an der Spitze stieg stundenlang auf und erreichte 13 Minuten nach Cioroianus Tod die Stelle, an der er verunglückt und seinen schweren inneren Verletzungen erlegen war.
Der K2 gilt in fast sämtlichen Passagen als gefährlich und deswegen als der schwierigste Achttausender. Fünf Tage zuvor war ich selbst beim Abstieg vom vorgeschobenen Basislager auf dem von der Hitze des Tages aufgeweichten Godwin-Austen-Gletscher fast zehn Meter tief in eine mit Wasser gefüllte Spalte gestürzt, aus der ich fast nicht mehr herausgekommen wäre. Allein unserem pakistanischen Guide Mohammad Amin, einer stabilen Eissäule in dieser Spalte und zuletzt der Geistesgegenwart des italienischen Bergsteigers Oskar Piazza im Basislager hatte ich mein Überleben zu verdanken. Während Amin nach meinem Sturz von oben am Seil zog, das ich leichtsinnigerweise nur ganz locker um den Bauch gebunden hatte und das mir jetzt zunehmend die Luft abschnürte, konnte ich nach endlosen Minuten vollkommener Verzweiflung schließlich nur deshalb an dieser Eissäule hinaufklettern, weil meine nassen Fleecehandschuhe fast wie Saugnäpfe dort anfroren und mir so Halt gaben. Als ich nach unserer Rückkehr im Basislager zusammenbrach und mein Herz offenbar aussetzte, schlug Oskar Piazza so lange mit der Faust auf meinen Brustkorb, bis er mich ins Leben zurückgeholt hatte. Derartige Ereignisse sind es wohl, die Nähe schaffen und Expeditionsgruppen zusammenrücken lassen. Ich war so unendlich dankbar, dass es all die anderen um mich herum gab.
Schließlich mussten in diesem Sommer Hans Kammerlander und Konrad Auer nur rund 150 Höhenmeter unter dem 8611 Meter hohen Gipfel des K2 im bauchtiefen Triebschnee umkehren. So knapp vor dem Ziel. Wir waren folglich alle ziemlich bedient, als wir diesem wunderbaren Berg im Karakorum nach vielen nachdenklich stimmenden Ereignissen den Rücken kehrten.
Diese zweite Expedition, an der ich teilnehmen durfte, lehrte mich eine andere, neue Seite solcher Unternehmen zu beurteilen. Auf einmal war das Thema Tod ebenso ganz nahe gewesen wie die tödlichen Gefahren, die am Fuß dieser Giganten selbst im ganz leichten Gelände lauern können. Und ich erlebte auch, was es bedeutet, wenn zwei Spitzenbergsteiger den Gipfel nicht erreichen. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie wir über die Moräne unter dem K2 das Tal fast hinausrannten, weil wir – um es deutlich zu sagen – allesamt die Nase ziemlich gestrichen voll hatten. Hans Kammerlander wohl am allermeisten, denn immerhin hatte er dieses Unternehmen im Alleingang finanziert und viel für diesen Gipfel trainiert. Als wir auf der Höhe des Broad Peak ankamen und dort im Basislager einer Einladung des deutschen Expeditionsleiters Ralf Dujmovits auf eine Tasse Tee folgten, stand Hans die Enttäuschung noch immer ins Gesicht geschrieben, obwohl er sich bemühte, sich das nicht anmerken zu lassen.
Die allermeisten anderen Bergsteiger hätten in einer vergleichbaren Situation wohl versucht, alles auf eine Karte zu setzen. Hans Kammerlander und Konrad Auer waren bereits oberhalb des berüchtigten Flaschenhalses angekommen. Sie hatten die bedrohlichen Séracs unter sich und damit die gefährlichste Passage des gesamten Bergs überwunden, standen also schon fast auf dem Gipfelrücken. Und dennoch kehrten die beiden um. Weil das Lawinenrisiko so hoch war und die Chance, diese Bedrohung zu überleben, immer kleiner...