II. Entstehungsbedingungen des Faschismus
Die europäische Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1939 war eine Zeit des politischen Umbruchs. In zahlreichen europäischen Staaten gerieten parlamentarisch-demokratische Regierungssysteme in die Krise und wurden durch rechtsorientierte Diktaturregime ersetzt. Je nach historischer Tradition und politischer Ausgangslage handelte es sich dabei um Königsdiktaturen, Präsidialdiktaturen oder Militärdiktaturen. Für alle, so sehr sie sich im einzelnen voneinander unterschieden, war charakteristisch, daß sie ausschließlich von den traditionellen Eliten des Landes (Monarchie, Militär, Beamtenschaft, Kirchen) herbeigeführt worden waren und sich auf keine genuine Massenbewegung stützten. In Italien kam es dagegen durch den Faschismus zur Bildung eines Diktaturregimes eigener Art, bei dem eine rechtsextremistische Massenbewegung mit nationalkonservativen Gruppierungen zusammenging. Man kann diese widersprüchliche Regimebildung nur damit erklären, daß Italien infolge des Ersten Weltkrieges einer dreifachen gesellschaftlichen Systemkrise ausgesetzt war, wie sie in ähnlicher Form sonst nur noch Deutschland belastet hat. Diese Krisenakkumulation bewirkte sowohl das Entstehen der systemfeindlichen faschistischen Protestbewegung als auch deren politische Machtergreifung mit Hilfe politischer Repräsentanten dieses Systems.
Sie ergab sich aus drei säkularen Entwicklungsprozessen, denen Italien – wie andere europäische Staaten auch – in der Moderne unterworfen war, die aber in diesem Land infolge ihres nahezu gleichzeitigen Auftretens zu einer kumulativen Krise führten. Zum ersten handelte es sich um den Prozeß der nationalen Integration, einerseits im Sinne zwischenstaatlicher Abgrenzung und andererseits im Sinne binnenstaatlicher Nationsbildung. Zweitens ging es um den Prozeß politischer Verfassungsbildung, also um den Weg von der absolutistischen Monarchie zum liberal-demokratischen Verfassungsstaat. Und drittens schließlich stand der Prozeß der Industrialisierung an, durch den sich Italien, zumindest partiell, vom reinen Agrarstaat zum Industriestaat entwickelte. Es war die relative Gleichzeitigkeit von unvollendeter Nationsbildung, ungelösten Verfassungskonflikten und unbewältigten wirtschaftlichen Wachstumskrisen, durch welche die besonderen historischen Rahmenbedingungen für die Entstehung des Faschismus in Italien geschaffen wurden.
Unvollendeter Nationalstaat Als Nationalstaat gehörte Italien wie Deutschland im europäischen Vergleich zu den Nationen, die erst spät (1861/70) zu staatlicher Einheit gefunden hatten. Die als Wiederauferstehung (Risorgimento) interpretierte Gründung des italienischen Nationalstaats wurde von den bürgerlichen und aristokratischen Herrschaftseliten des Landes als unvollendet angesehen. Die Außenpolitik des Landes war deshalb bis zum Ersten Weltkrieg zwanghaft von der Vorstellung geprägt, außerhalb Italiens die ‹unerlösten› Gebiete einer ‹Irredenta› heimholen zu müssen. Dieser irredentistische Nationalismus wurde so lange politisch abgemildert, wie er liberal unterfüttert war. Um die Jahrhundertwende schlug die national-liberale Ideologie jedoch in einen militanten, imperialistisch aufgeladenen Nationalismus um. Es war dieser neue Nationalismus, der Italien 1911 in den Libyenkrieg und 1915 in den Ersten Weltkrieg führte. Die übersteigerten Hoffnungen der Kriegspartei, die Italien in den Krieg gegen Österreich-Ungarn und Deutschland geführt hatte, wurden 1919/20 auf den Pariser Friedenskonferenzen großenteils erfüllt. Italien konnte mit Trient, Südtirol bis zum Brenner, Görz, Triest und Istrien sowie außerdem noch Rhodos und dem Dodekanes enorme Territorialgewinne verbuchen, es mußte lediglich seine Ansprüche auf Dalmatien und Fiume zurückstellen. Die nationale Identität des Landes war jedoch immer noch so ungefestigt, daß dieser beträchtliche Zuwachs als völlig unzureichend empfunden wurde und sich das Gefühl eines ‹verstümmelten Sieges› (Vittoria mutilata), der italienischen Variante der Dolchstoßlegende, breitmachte.
Parlamentarismus ohne Parteien Bei der Gründung des italienischen Nationalstaats wurde 1861 das 1848 im Königreich Piemont-Sardinien vom Regenten Carlo Alberto erlassene Verfassungsstatut (Statuto Albertino) als konstitutionelle Grundlage übernommen. Der italienische König wurde damit an die Verfassung gebunden, behielt jedoch eine Reihe von monarchischen Vorrechten, zu denen vor allem das Ernennungsrecht des Ministerpräsidenten gehörte. Die liberale Bewegung war in Italien jedoch stark genug, in der Praxis nach kurzer Zeit die parlamentarische Ministerverantwortlichkeit durchzusetzen und die Verfassung auf diese Weise zu einem parlamentarischen Regierungssystem umzuformen. Dieses vergleichsweise moderne Regierungssystem stagnierte jedoch seit Ende des 19. Jahrhunderts in seiner Entwicklung, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen war der das Parlament beherrschende Liberalismus nicht in der Lage, organisierte Parteien aufzubauen. Im Parlament standen einander vielmehr bis zur Jahrhundertwende lediglich die beiden großen, nicht klar voneinander abgegrenzten Blöcke der ‹Destra› und der ‹Sinistra› gegenüber, die abwechselnd die Regierung stellten. Das führte schon frühzeitig zu Wahlmanipulationen und parlamentarischer Korruption. In der Ära des Ministerpräsidenten Giovanni Giolitti im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts lösten sich die Parlamentsparteien vollends auf. An ihre Stelle trat die Praxis des sogenannten ‹Trasformismo›, in dem der Ministerpräsident sich die Mehrheiten mit Hilfe eines ausgefeilten Systems klientelistischer Abhängigkeiten jeweils zusammensuchte.
Die zweite Schwäche des italienischen Regierungssystems bestand darin, daß die liberalen Führungsschichten sich oligarchisch abschlossen und das Wahlrecht rigoros beschränkten. In einem Land, in dem noch Ende des 19. Jahrhunderts mehr als die Hälfte der Erwachsenen Analphabeten waren, wollte man sich auf diese Weise vor einem unkalkulierbaren Verhalten der Unterschichten schützen. Seit der Gründung des Partito Socialista Italiano (PSI) im Jahr 1892 stand dahinter jedoch auch die diffuse Angst vor der ‹Revolution›, wie sie in den bürgerlichen Schichten der meisten Länder Europas verbreitet war.
Erst in der Nachkriegskrise von 1919 wurde in Italien das allgemeine Wahlrecht für Männer eingeführt. Bei den ersten nationalen, nach dem Verhältniswahlrecht durchgeführten Wahlen stellten der PSI mit 156 und der neuformierte katholische Partito Popolare Italiano (PPI) mit 100 Abgeordneten zusammen die Mehrheit der insgesamt 508 Parlamentsmitglieder. Nur die restlichen 252 Sitze entfielen noch auf das bürgerliche Lager, das damit weit von einer Mehrheit entfernt war. Zu einer Koalition mit den Sozialisten oder den Katholiken waren die bürgerlichen Gruppen ebenso wenig fähig, wie die beiden Massenparteien, die bisher außerhalb jeder politischen Verantwortung gestanden hatten, miteinander koalieren konnten. Alle großen Lager waren zu politischen Kompromissen unfähig, was auch daran lag, daß sie in sich jeweils gespalten waren. Innerhalb des PSI standen sich Reformisten und potentielle Revolutionäre schon unversöhnlich einander gegenüber, bevor es 1921 zur Abspaltung des Partito Comunista d’Italia (PCI) kam. Der PPI wurde zwar von seinem Generalsekretär Don Sturzo straff geführt, die Partei war jedoch tief in Christliche Demokraten und Konservative gespalten. Und das bürgerliche Lager war ohnehin in zahlreiche personenorientierte Gruppierungen zersplittert. Der Schritt in eine demokratische Zukunft des Landes, der mit den ersten Wahlen nach dem allgemeinen Männerwahlrecht getan schien, führte deshalb nur zu einer Lähmung des liberalen Verfassungssystems.
Organisierter Kapitalismus Schließlich wurde Italien nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in außergewöhnlicher Weise von der Umstellung von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft getroffen. Das hatte zunächst eine weit in die Vergangenheit zurückreichende Ursache. Entgegen den wirtschaftstheoretischen Grundsätzen des seit der Nationalstaatsgründung politisch vorherrschenden Liberalismus hatte sich die Industrialisierung in Italien unter ungewöhnlich hoher Beteiligung des Staates vollzogen. Man kann daher in Italien im Sinne von Joseph Schumpeter durchaus von einem ‹organisierten Kapitalismus› sprechen. Dieses protektionistische System hatte jedoch eine Schieflage: Es förderte einseitig die Schwerindustrie und benachteiligte die Produktion von Konsum- und sonstigen Investitionsgütern. Vor allem aber vernachlässigte es die Landwirtschaft, die besonders in Süditalien in geradezu archaischen Produktionsbedingungen verharrte. Das war, wie Rosario Romeo in einer berühmten Auseinandersetzung mit den Thesen des kommunistischen Theoretikers Antonio Gramsci argumentiert hat, insofern unvermeidlich, als zum Aufbau des Industriesystems nur ein Kapitaltransfer aus der Landwirtschaft in Frage kam. Da sich der Aufschwung der Industrie jedoch fast ausschließlich im Städtedreieck (Triangolo) zwischen Turin, Mailand und Genua vollzog, wurde durch die Industrialisierung ein für...