Die ersten Denunziationen in Rom
Die Eingabe Luthers an Erzbischof Albrecht vom 31. Oktober 1517 scheint ziemlich lange Zeit gebraucht zu haben, ehe sie in die Hände der magdeburgischen Hofräte zu Kalbe an der Saale gelangte, denn erst am 17. November wurde sie von denselben geöffnet und dann wohl sogleich nach Albrechts mainzischer Residenz Aschaffenburg am Main weiterbefördert. Dort legte sie der Erzbischof etwa Ende November seinen gerade anwesenden „Räten und Verständigen“ und das Hauptstück, die 95 Thesen, auch noch den Juristen und Theologen der Universität Mainz vor. Die Räte empfahlen ihm, den Handel eilends päpstlicher Heiligkeit zuzufertigen, gleichzeitig aber dem vermessenen Mönch jede weitere Kundgebung in der Ablassfrage zu verbieten (processus inhibitorius). Der erste Vorschlag entsprach ganz Albrechts Neigungen. Schon vor dem 13. Dezember ließ er daher die nötigen Mitteilungen an die Kurie ergehen. Am 13. Dezember benachrichtigte er dann die magdeburgischen Hofräte in Kalbe von diesem Schritte und stellte ihnen zugleich anheim, den inzwischen von seinen Aschaffenburger Verständigen entworfenen Processus inhibitorius, den er beilege, durch „Herrn Tetzel Luther intimieren“ (zustellen) zu lassen. Er fügte jedoch hinzu, dass ihm gar nichts daran liege, diesen Handel und die Feindschaft des Augustinerordens auf sich zu laden. Die magdeburgischen Hofräte zogen daraus ganz richtig den Schluss, dass seine Durchlaucht nicht weiter mit der Angelegenheit behelligt zu werden wünsche, und begnügten sich daher damit, die betreffenden Schriftstücke zu den Akten zu nehmen. Der zuständige Vorgesetzte der Mainzer Ablassunternehmung drehte sich also, wie man im 16. Jahrhundert sagte, aus. Er überließ es der Kurie, diese nicht ganz geheure Sache in Ordnung zu bringen. Was aus „Herrn Tetzel“ wurde, war ihm einerlei.
Die Eingabe Albrechts wurde auf dem gewöhnlichen Geschäftswege nach Rom befördert. Sie kann daher kaum lange vor Weihnachten daselbst angelangt sein. Sie bestand in der Hauptsache aus einem Schriftsatz der Mainzer Kanzlei, in dem Luther dem Papste zwar nicht wegen Ketzerei, aber wegen Verbreitung neuer Lehren denunziert wurde. Als Beweisstücke waren bei gelegt „die Artikel“ – was damit gemeint ist, weiß man nicht –, die 95 Thesen und der „Traktat“, d. h. die vor den Thesen von Luther verfasste Abhandlung über den Ablass, die wir auch noch besitzen. Der leitende Minister Leos X., der Kardinal Giuliano de Medici, hielt, wie es scheint, für ausreichend, den vermessenen Mönch durch die oberste Behörde des Augustinerordens verwarnen zu lassen, und schrieb in diesem Sinne am 3. Februar 1518 an den Ordenspromagister Gabriel della Volta genannt Venetus. Was der Promagister hierauf tat, wissen wir nicht. Dass er durch Vermittlung Staupitzens Luther einen förmlichen Widerruf zugemutet und von dem Kapitel der sächsischen Kongregation zu Heidelberg Ende April 1518 die Auslieferung des Missetäters nach Rom gefordert habe, ist eine bloße Vermutung. Sollte er aber wirklich, was jedoch durch Luthers eigene Äußerungen durchaus nicht bestätigt wird, den „vermessenen“ Bruder durch Staupitz verwarnt haben, dann muss die Verwarnung so sanft ausgefallen sein, dass Luther sie gar nicht als einen Versuch, ihn anderen Sinnes zu machen, auffassen konnte.
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https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_X.
Leo X. (geboren als Giovanni de’ Medici; * 11. Dezember 1475 in Florenz; † 1. Dezember 1521 in Rom) war vom 11. März 1513 bis zu seinem Tod Papst. In sein Pontifikat fällt der Beginn der Reformation. Ihre Bedeutung hat Leo aber offensichtlich verkannt. Für den Neubau des Petersdoms förderte er den Ablasshandel, was für Martin Luther einer der Anstöße war, seine 95 Thesen am 31. Oktober 1517 an der Schlosskirche zu Wittenberg dem Kirchenvolk mitzuteilen. Für den Papst war das Anliegen Luthers keinen Gedanken wert; im Gegenteil: er verurteilte in der Bulle Exsurge Domine vom 15. Juni 1520 insgesamt 41 Schriften Luthers und exkommunizierte ihn am 3. Januar 1521 mit der Bulle Decet Romanum Pontificem; an den innerkirchlichen Missständen und am Ablasshandel änderte Leo X. jedoch nichts.
Papst Leo X.
Leo X. war wie schon seine Vorgänger samt der Kurie zu viel in die italienische und europäische Politik verstrickt, um sich mit den schon länger laut gewordenen Rufen nach einer Reform an Haupt und Gliedern der Kirche ernsthaft auseinanderzusetzen. Dies liegt zuletzt auch an der Selbsteinschätzung Roms als unanfechtbares Oberhaupt der Kirche.
Das Pontifikat dieses Papstes aber deswegen zu den verhängnisvollsten in der gesamten Papstgeschichte zählen zu wollen, greift zu kurz. Leo mag vielleicht der Auslöser des Thesenanschlags Luthers gewesen sein, keinesfalls aber die Ursache. Die simonistischen und nepotistischen Auswüchse, aber auch die Prunksucht und insgesamt oft wenig gottgefällige Lebensweise der Päpste waren schon seit mehreren Jahrzehnten einer unablässigen Kritik vor allem durch den nichtitalienischen Klerus ausgesetzt. Diese Kritik regte sich lautstark schon in den 1460er Jahren, als Päpste wie Kalixt III. oder Sixtus IV. die bis dahin üblichen Regeln der Dezenz, das heißt Zurückhaltung, Schicklichkeit und Anständigkeit, missachteten. Die Missstände führten immer wieder zum Ruf nach Reformkonzilen – z. B. 1494 unter Papst Alexander VI. –, aber sie verhallten stets ungehört oder wurden von den Amtsträgern geschickt unterlaufen. Sogar eine kuriale Reformkommission war 1497 von Alexander eingesetzt worden, allerdings blieb ihre Arbeit folgenlos.
Gegen allzu umtriebige Päpste gab es auch innerhalb der Kurie Widerstände. Doch waren diese Kardinäle – in den 1490ern etwa Francesco Todeschini Piccolomini, Oliviero Carafa, Giovanni Battista Zena oder Jorge da Costa – erstens eine meist misstrauisch beäugte Minderheit, und zweitens hatte das Konsistorium gegenüber dem Papst lediglich beratende Funktion und keinerlei Entscheidungsgewalt.
Über das Kardinalat (De cardinalatu) heißt eine 1510 erschienene Schrift Paolo Cortesis, des ehemaligen Apostolischen Sekretärs der Kurie unter dem Pontifikat Alexanders. In ihr stellt er die von einem idealen Kardinal zu erwartenden Eigenschaften und Fähigkeiten eindrücklich dar; dass er es dem damals amtierenden Papst – und damit ausgerechnet Julius II. – widmete, kann kaum ein Zufall gewesen sein. Natürlich blieb auch dieses Werk ohne Folgen.
Die Kurie erwies sich zu jenem Zeitpunkt als reformresistent. Das Papsttum pflegte theologischen Vorgängen und besonders Disputen darüber, die außerhalb Italiens stattfanden, wenig Aufmerksamkeit zu widmen bis hin zur vollständigen Ignoranz. Zum einen galt den Römern, die sich gemäß der antiken Tradition, die seit Beginn der Renaissance hoch in Mode stand, noch immer als caput mundi („Haupt der Welt“) sahen, das Heilige Römische Reich respektive Deutschland – wie auch Frankreich – als Land der Barbaren. Zum anderen band die seit dem Fall Konstantinopels am 29. Mai 1453 ständig wachsende Türkengefahr auch die Päpste. So war beispielsweise 1480 die italienische Stadt Otranto vorübergehend von den Türken erobert worden, 1529 standen die Türken vor Wien.
Auch der Ablasshandel und die zahllosen zusätzlich geforderten Abgaben, die für Kreuzzüge oder Kirchenbauten Verwendung finden sollten, riefen bereits lange vor Leo Kritiker auf den Plan. Der Humanist Enea Silvio Piccolomini, der später als Pius II. selbst Papst wurde, sah sich in den 1450er Jahren genötigt, in seiner Schrift De ritu, situ, moribus et conditione Germaniae die „tumben Hinterwäldler“ zu rügen. Er hielt ihnen vor, ihre blühenden geistigen Landschaften und wirtschaftliches Wohlergehen verdankten sie dem befruchtenden Einfluss Italiens und vor allem Roms, sie hätten sich daher auch einer Kritik an angeblicher finanzieller Ausnutzung oder Verschwendungssucht der Päpste zu enthalten, und sollten ihnen lieber Dank und Ehrfurcht erweisen.
Leos Reaktion auf Luther war aus Sicht der Zeit das absolut übliche Vorgehen: Bulle und Bann hatten schon öfter ihre Wirkung getan, der letzte tiefgreifende Reformversuch eines Mönchs war – kaum 20 Jahre vor Luther – schließlich auch erfolgreich auf diese Weise gemeistert worden.
Als Kaiser Maximilian I. 1519 starb, wollte Leo die Wahl Karls I. von Spanien zum König verhindern und den Kurfürsten Friedrich den Weisen zu einer Gegenkandidatur bewegen, indem er anbot, einen ihm genehmen Kandidaten zum Kardinal zu ernennen. Gemeint war höchstwahrscheinlich Martin Luther.
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Inzwischen war aber längst ein Gegner auf den Plan getreten, der entschlossen war, ihn zu vernichten: Johann Tetzel. Im Januar 1518 fand zu Frankfurt an der Oder ein Kapitel der sächsischen Dominikanerprovinz statt, das, wie üblich, durch eine Disputation eingeleitet werden sollte. Die erste Rolle dabei war diesmal Tetzel zugedacht, der denn auch am 20. Januar vor den etwa dreihundert Patres über 106 Thesen disputierte, die ihm, wie es damals meist geschah, ein Professor der Ortsuniversität, der Dr. Konrad Koch genannt Wimpina, gemacht hatte. Sie richteten sich selbstverständlich alle gegen die 95 Thesen Luthers. Bei dieser Demonstration zugunsten des zu den anerkannten Größen der sächsischen Provinz gehörenden Bruders Tetzel ließ man es aber in Frankfurt nicht bewenden. Man erörterte vielmehr auch sehr eingehend die Frage, wie man den unverschämten Wittenberger Ketzer zur Strecke bringen könne, und da man von dem Vorgehen des Mainzer Erzbischofs nichts wusste, so beschloss man endlich, Luther in aller Form wegen Verdachtes der Ketzerei in Rom zu denunzieren. Diese Denunziation wog viel...