Einleitung
Mit dieser Arbeit möchte ich zu einer empirisch angeleiteten, psychoanalytisch inspirierten Theorie der präverbalen Entwicklung beitragen. Die seelischen Prozesse und Gefühle dieser Zeit zu erhellen ist ein ebenso schwieriges wie reizvolles und lohnendes Unterfangen. Auch klinisch hat es an Reputation gewonnen, seit im Zuge des »widening scope« die frühen Störungen verstärkt diskutiert werden.
Die Erforschung der präverbalen Zeit ist mit den genuin psychoanalytischen Mitteln der freien Assoziation und der Übertragungsanalyse nur begrenzt möglich. Sie können zwar aufklären, wie die frühe Kindheit dem erwachsenen Patienten heute erscheint, aber die Frage, »wie es damals wirklich war«, ist damit nicht beantwortet. Die Geister scheiden sich an der Notwendigkeit und Möglichkeit der Beantwortung dieser Frage.
Unabhängig davon, wie die Antwort darauf im einzelnen ausfällt, halte ich eine stärkere Einbeziehung der Säuglingsdirektbeobachtung in die psychoanalytische Diskussion für wünschenswert. Dadurch wird sich die psychoanalytische Theorie in vielerlei Hinsicht verändern. Diese Änderungen sind mein Hauptthema. Sie ergeben sich, wenn wir akzeptieren, daß Rekonstruktionen aus psychoanalytischen Behandlungen nicht die einzige, ja nicht einmal die wichtigste Quelle von Theorien über die frühe Kindheitsentwicklung sein sollten.
Im ersten Kapitel wird diese Auffassung begründet. Die Direktbeobachtung der Säuglingsforschung und die psychoanalytische Rekonstruktion werden hinsichtlich ihrer methodischen Besonderheiten miteinander verglichen. Die Irrtumsanfälligkeit psychoanalytischer Rekonstruktionen – wenn es darum geht, entwicklungspsychologisch richtige und nicht nur klinisch nützliche Aussagen über die frühe Kindheit zu machen – wird herausgearbeitet. Ich plädiere dafür, Ergebnisse der Säuglings- und Kleinkindforschung bei der Theoriebildung über frühe Kindheitsentwicklung stärker mit heranzuziehen, als das bisher in der Psychoanalyse der Fall war.
Im zweiten Kapitel gebe ich einen kurzen Abriß dieser Forschung. Er dient als Hintergrund für eine Diskussion von Margaret Mahlers Theorie über Autismus und Symbiose im dritten Kapitel. Mahlers Theorie erfreut sich breiter Akzeptanz und erhebt den Anspruch, aufgrund psychoanalytisch orientierter Direktbeobachtung zu ihren Aussagen gekommen zu sein. Es wird gezeigt, daß die zentralen Begriffe von Autismus und Symbiose, die den kindlichen Entwicklungsprozeß im ersten halben Lebensjahr beschreiben sollen, nicht mit den empirischen Befunden der neueren Säuglingsforschung in Einklang stehen und selbst kaum eine empirische Grundlage haben. Die Einbeziehung neuerer Forschungsresultate ergibt, daß der Säugling in den ersten sechs Monaten weder in seiner Wahrnehmungsorganisation noch in seinem Interaktionsverhalten und -erleben autistisch oder symbiotisch ist. Er ist vielmehr in allen Bereichen kompetent, aktiv und differenziert. Dieser Teil der Mahlerschen Theorie sollte deshalb aufgegeben werden.
Im vierten Kapitel stelle ich die Theorie des New Yorker Psychoanalytikers und Entwicklungspsychologen Daniel Stern vor. Sie wird meines Erachtens die Diskussion der nächsten zehn Jahre beherrschen, ähnlich wie Spitz und Mahler das in der Vergangenheit getan haben. Stern geht davon aus, daß die Entwicklung nicht von der Abhängigkeit zur Unabhängigkeit, von der Undifferenziertheit zur Differenzierung, von der Passivität zur Aktivität oder von Autismus/Symbiose zur Loslösung/Individuation führt, sondern daß Unabhängigkeit, Differenziertheit, Aktivität und Individuation von Geburt an in bemerkenswertem und bisher unterschätztem Umfang vorhanden sind. Der Säugling erlebt sich nicht als mit der Mutter verschmolzen, sondern als selbständig und gut abgegrenzt. Auf dieser Basis eines gut abgegrenzten Selbstempfindens sind Gemeinsamkeitserlebnisse mit dem anderen möglich und werden gesucht. Was die bisherigen Theorien Symbiose oder Verschmelzung nannten, wird neu konzipiert als Zustand, in dem das Subjekt mit dem Objekt etwas gemeinsam erlebt, nicht aber dabei mit ihm verschmilzt, sondern vermöge seiner perzeptuellen, kognitiven und affektiven Fähigkeiten das Gefühl eines abgegrenzten Selbst beibehält. Damit wird eine neue Theorie über das Verhältnis von Selbst und Objekt im ersten halben Jahr vorgeschlagen. Den Kapiteln drei und vier gemeinsam ist die Kritik der Vorstellung einer anfänglichen Undifferenziertheit von Selbst und Objekt.
Kapitel fünf und sechs verfolgen dieselbe Absicht im Hinblick auf die Affekte. Im fünften Kapitel beschreibe ich, daß die Affekte schon in den ersten Lebensmonaten äußerst differenziert sind. Fast alle in der Emotionsforschung als »basal« bekannten Affekte existieren bereits beim Säugling. Von undifferenzierten oder bloß in Lust–Unlust bzw. gut–böse differenzierten Gefühlszuständen des Säuglings kann keine Rede sein. Der Säugling fühlt ebenso differenziert und reichhaltig, wie er wahrnimmt und interagiert. Im sechsten Kapitel werden die Konsequenzen dieser Sichtweise für die psychoanalytische Theorie der Affektentwicklung skizziert.
Das siebte Kapitel ist ein Zwischenspiel, das über das bisher im Mittelpunkt stehende erste halbe Jahr hinausführt und neuere Ergebnisse zur Affektkommunikation zwischen Mutter und Kind im zweiten Lebenshalbjahr vorstellt.
Im achten Kapitel werden einige Annahmen der Psychoanalyse über kognitive Aktivitäten des Säuglings rekapituliert und im Licht der Piagetschen Theorie betrachtet. Seine Sichtweise macht deutlich, daß fundamentale psychoanalytische Begriffe zu diesem Thema wie Primärprozeß, halluzinatorische Wunscherfüllung und die Entwicklung der Symbolbildung/Phantasie einer Umformulierung bedürfen, um mit dem Wissen von Piaget und anderen vereinbart werden zu können. Dabei geht es nicht, wie man vielleicht befürchten könnte, darum, die Psychoanalyse mit einer modischen Terminologie aufzuputzen, sondern es wird sich ein aufregendes Resultat ergeben: Wichtige psychoanalytische Theorieteile (wie z.B. der Wiederholungszwang) können durch Einbeziehung dieser Forschungsergebnisse besser formuliert werden als bisher. Der Grundgedanke des achten Kapitels ist, daß Säuglinge nicht symbolisch denken und daß die Eigenart ihres präsymbolischen Denkens die psychoanalytische Theorie vor wichtige Anpassungsaufgaben stellt. Während in den ersten sieben Kapiteln dargestellt wird, daß der Säugling mehr kann, als ihm die psychoanalytische Theorie zutraut, wird in diesem Kapitel gezeigt, daß er in einer wichtigen Hinsicht weniger kann: Er kann nicht phantasieren! Das ist eine weitreichende Behauptung und entsprechend hat mich dieses Kapitel die meiste Anstrengung gekostet. Ich habe versucht, ihre Spuren, so gut es ging, aus dem Text zu tilgen. Es bleibt jedoch ein gelegentlich fast unmögliches Unterfangen, sich mit den Mitteln des symbolischen Denkens die Eigentümlichkeiten des präsymbolischen zu vergegenwärtigen. Ich hoffe, es ist mir gelungen, meinen Ansatz verständlich darzustellen.
Im neunten Kapitel diskutiere ich den Beitrag der Psychoanalyse zur Säuglingsforschung. Ein zentraler Begriff der Psychoanalyse war schon immer der der Phantasie – der bewußten und der unbewußt gewordenen. Es ist zwar eher unwahrscheinlich, daß kleine Kinder bis 1 1/2 Jahre Phantasien haben (s. Kap. 8), aber ihre Eltern haben welche. Ich befasse mich deshalb mit den Auswirkungen elterlicher Phantasien auf elterliches Interaktionsverhalten und versuche eine »Korrelation« zwischen Phantasie und Verhalten nachzuweisen. Die beobachtbaren Verhaltensweisen der Eltern sind ein wesentliches Medium, in dem sie ihre bewußten und unbewußten Phantasien ausdrücken und kommunizieren, und durch dieses Medium werden sie vom Säugling auch verstanden. Das Rätsel, wie schon Säuglinge die unbewußten Phantasien ihrer Eltern »verstehen« und darauf reagieren, z.B. mit Symptomen, soll so einer Aufklärung nähergebracht werden. Ich votiere für eine verstärkte Berücksichtigung der Phantasiedimension der frühen Interaktion, die in den bisherigen nichtpsychoanalytischen Interaktionsstudien vernachlässigt wurde. In der Berücksichtigung dieser Dimension sehe ich einen wesentlichen Beitrag der Psychoanalyse zur Säuglingsforschung.
Im zehnten und abschließenden Kapitel behandle ich den Nutzen, den die Säuglingsforschung für die psychoanalytische Therapie Erwachsener haben kann.
Die Kapitel zwei, vier und fünf sind überwiegend experimentalpsychologisch bzw. naturalistisch. Sie fordern vom psychoanalytischen Leser eine gewisse Ausdauer und die Bereitschaft, sich auf ungewohnte Methoden und Denkweisen einzulassen. Die anderen sieben Kapitel sind überwiegend psychoanalytisch.
Insgesamt gelange ich zu einer etwas optimistischeren Anthropologie als Freud und mache manche kritische Bemerkung zum Stand der psychoanalytischen Theorie. Das sollte nicht zu Mißverständnissen Anlaß geben. Der Psychoanalyse gilt meine ganze wissenschaftliche Liebe. Deshalb ist der Text zugleich eine Liebeserklärung an sie, auch und gerade wo er kritisch ist. Es geht mir nicht darum, den vielen, mehr oder weniger verdienstvollen Widerlegungen der Psychoanalyse eine weitere hinzuzufügen, sondern es geht um eine Reformulierung zum Zwecke ihrer Verbesserung und Erhaltung.
Meine grundlegende Überzeugung ist, daß sich die Psychoanalyse in den aktuellen Diskurs der Wissenschaften einmischen und sich von ihm berühren lassen muß. Ein »disziplinärer« Autismus wäre ebenso falsch, wie der entwicklungspsychologische es ist, und würde die Psychoanalyse zu der Sekte machen,...