Einleitung
Liebe ist eine zentrale Bedingung menschlicher Existenz. Wir brauchen sie zum Überleben; wir streben nach ihr, um Lust zu gewinnen; wir brauchen sie, um dem gewöhnlichen Leben Sinn und Zweck zu geben. Wir erleiden ihren Verlust mit Trauer und oft mit Verzweiflung. Und doch wissen wir sehr wenig über die Natur der Liebe. Was ist romantische Liebe? Ist sie mit Kindesliebe verwandt? Mit Elternliebe? Haben diese gegensätzlichen Erfahrungen etwas gemeinsam? Und wenn ja, worin besteht diese Gemeinsamkeit, und wie können wir sie erkennen? Wie ist die Beziehung zwischen Liebesbedürfnis, Verliebtheit und Liebe?
Da die romantische Liebe das Hauptthema dieses Buches ist, muß man die Liebe irgendwie mit der Natur der Sexualität in Verbindung bringen, die selbst ein komplizierter und verwirrender Aspekt menschlichen Erlebens ist. Gibt es einen Unterschied zwischen sexuellem Appetit und anderen Arten von Appetit? Ist Sex ein reiner Trieb, den wir mit einer Unzahl niedrigerer Formen animalischen Lebens gemeinsam haben? Was ist die Natur menschlicher Leidenschaft? Ist Bindung oder Verpflichtung das Gegenteil von Leidenschaft? Können dauerhafte Bindungen in einem Zeitalter überleben, das Lust und persönliche Erfüllung höher stellt als Pflicht und Verantwortung? Was ist Lust überhaupt? Und was meinen wir eigentlich mit Bindung oder Verpflichtung?
Das sind nur einige Fragen, mit denen ich in meinem beruflichen Leben als Psychoanalytiker täglich konfrontiert werde. Liebe und Beziehung, Liebe und Liebesverlust, Freude und Qual der Liebe sind der Stoff der psychoanalytischen Erfahrung. Man könnte meinen, die Liebe müßte in der psychoanalytischen Literatur eine Hauptrolle spielen. Sie tut es nicht. Ein großer Teil der heutigen Verwirrung in bezug auf die Liebe ist, wie ich noch erklären möchte, das Resultat widersprüchlicher Einstellungen, die die Psychoanalyse eingeführt hat, ohne es zu merken; daher muß die Aufgabe, diese Konflikte zu klären und diese Fragen zu beantworten, mit psychoanalytischer Sensibilität angegangen werden. Dieses Buch ist mein Versuch, genau das zu tun.
Wie untersucht man einen Gegenstand wie die Liebe aus psychoanalytischer Sicht? Die meisten psychologischen und soziologischen Forschungsarbeiten beginnen mit einer erschöpfenden Durchsicht der Literatur. Man greift also nach den wissenschaftlichen Publikationen seines Fachgebietes, um aus der Weisheit seiner Vorgänger zu schöpfen und tunlichst nicht noch einmal das Rad zu erfinden. Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie jedoch feststellen, daß ich häufiger aus literarischen Werken zitiere als aus Fachliteratur. Diese Tatsache bedarf einer Erklärung.
Die modernen Untersuchungen der Humanpsychologie verteilen sich auf eine Vielfalt von Gebieten: Psychoanalyse, Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie, klinische, soziale und Laborpsychologie, Pädiatrie, Soziologie, Kulturanthropologie – und so weiter und so weiter. Die meisten dieser Spezialgebiete streben nach wissenschaftlicher Anerkennung, und in der Wissenschaft herrscht eindeutig eine Vorliebe für Beweise durch objektive Daten, Messung, Wiederholbarkeit und dergleichen. Das Gefühl und die Erfahrung einer so komplizierten Emotion wie der Liebe (und sie ist mehr als eine Emotion) widersetzen sich dieser Art von Forschung.
Die Psychologen bedienten sich gern empirischer Methoden, um einfachere Verhaltensweisen einfacherer Geschöpfe zu untersuchen. So haben wir etwa die schönen Beobachtungen von B.F. Skinner auf der Grundlage seiner Arbeit mit Tauben und Konrad Lorenz’ Studien über die Gans. Aus solchen Untersuchungen können wir eine Menge über Bindungsverhalten, die Natur des Lernens und die einfachen Notreaktionen Angst und Wut lernen. All das teilen wir mit niedrigeren Lebewesen, aber die Art und Weise, auf die unsere Intelligenz und unsere Vorstellungskraft Erfahrungen verändern können, machen Schlüsse vom Tier auf den Menschen extrem gefährlich. Dennoch sind Tieruntersuchungen für den Psychiater eine große Hilfe zum Verständnis menschlichen Verhaltens. Weniger hilfreich sind sie leider in den ausschließlich menschlichen Bereichen. Liebe, wie wir sie kennen, hat nichts mit dem zu tun, was diese niedrigeren Geschöpfe wahrnehmen, wenn sie auch gewissen Phänomenen bei höheren Primaten zumindest analog sein könnte.
Die Forschungsmethoden der Tierpsychologie sind empirisch und häufig sehr präzise. Doch hier bringt uns Präzision nicht weiter. Elegante, hochtechnologische akustische Instrumente helfen uns wenig zum Verständnis der Ästhetik von Musik. Noch immer sind Hören und Analysieren, Fühlen und Reagieren die Methoden der Musikkritik. Forscher kennen den Wert und die Grenzen ihrer Methoden. Die feineren menschlichen Emotionen wie die Liebe und ihre (subjektiven) Gefühlsaspekte sind daher nicht gründlich mit empirischen Methoden untersucht worden. Und wenn es doch einmal geschah, dann waren die Resultate im allgemeinen nicht sonderlich inspirierend.
Der Psychoanalytiker geht weniger «wissenschaftlich» vor als der Tierpsychologe. Er studiert das entsprechende Subjekt, das menschliche Wesen, aber zwangsläufig in einer geringeren Anzahl von Fällen, und hofft, aus seiner eingestandenermaßen gefährlich kleinen Stichprobe allgemein gültige Informationen zu beziehen. Dennoch hat der englische Anatom William Harvey nur einen einzigen Daumen auf eine einzige Gruppe von Venen gedrückt (seine eigenen) und so das Grundprinzip des Blutkreislaufs unserer ganzen Spezies entdeckt. Doch die Psychoanalytiker haben andere Probleme, wenn sie mit der Liebe konfrontiert sind. Sie haben sich immer in erster Linie für Psychopathologie interessiert. Dasselbe gilt für die Psychiater. Beider Aufgabe ist die Heilung von Krankheitszuständen, und daher untersuchen sie eher die Unfähigkeit zur Liebe oder die Folgen von Liebesmangel. Alle diese Untersuchungen sind hilfreich, wenn man die Erfahrung der Liebe begreifen will, allerdings nur auf indirekte Weise.
Und so ist es bei allen wissenschaftlichen Disziplinen. Die meisten modernen Sozialwissenschaftler würden die menschliche Liebe kaum in den Mittelpunkt ihrer Forschungsinteressen stellen. Sie erkennen die Grenzen der gegenwärtigen empirischen Werkzeuge ihrer Disziplin beim Umgang mit der Liebe, aber aus irgendeinem Grund widerstrebt es ihnen, auf die intuitiven und analytischen Methoden ihrer großen Vorgänger im neunzehnten Jahrhundert zurückzugreifen.
Die Welt der Philosophie und Theologie hat keine Probleme mit dem analytischen Denken. Hier gibt es eine erschöpfende Literatur über die Liebe. Doch ein großer Teil der modernen Philosophie hat sich von Erörterungen über die Liebe abgewandt. Die Philosophen, die sich mit der Liebe beschäftigt haben, sind selten Zeitgenossen und hatten daher keine Gelegenheit, ein philosophisches Denken anzuwenden, das die heute vorherrschende freudianische Auffassung vom menschlichen Verhalten berücksichtigt. Dennoch liefern sie einen über Jahrhunderte entstandenen Fundus von Erörterungen über die Liebe, die ein unerläßlicher Leitfaden zum Verständnis der Liebeserfahrung sind.
Einige Autoren meinen, daß keine rationale Analyse, also auch nicht die wissenschaftliche Methodik, den mystischen Elementen gerecht wird, die für die Liebeserfahrung wesentlich sind. M.C. D’Arcy warnt in seinem feinfühligen Buch The Mind and Heart of Love (Kopf und Herz der Liebe) vor der «Sünde des Animus» oder der Vernunft, wenn man sich mit menschlicher Erfahrung befaßt:
«Der Verstand ist besitzergreifend und besteht darauf, sich alles anzueignen, was er in der Erfahrung antrifft. Wie jedoch der Durchschnittsmensch, der Dichter und der Heilige übereinstimmend gesagt haben, hat das Leben von Wissenschaft und Philosophie etwas sehr Unvollständiges an sich. Der Wissenschaftler und der Philosoph sitzen einer toten Welt vor; sie lassen die Welt außer acht, die wir alle lieben, die Welt von Farbe, Bewegung und intimem, persönlichem Verkehr. Ihre Welt ist die Welt der Dinge, und selbst Personen werden mit diesem Stigma gezeichnet. Sie leben, um aus dem Leiden anderer für die Vernunft Kapital zu schlagen; im besten Falle beglücken sie die Vernunft. Animus ist ein egoistischer Herr; er nimmt mehr, als er gibt.»[1]
Um über ein so subjektives, amorphes, unquantifizierbares und paradoxerweise gleichzeitig so weites und intimes Gebiet wie die Liebe zu schreiben, muß selbst ein Psychoanalytiker (falls er den Mut dazu hat) Erfahrungsdaten aus seinem beruflichen und persönlichen Leben benutzen. Liebe steht im Mittelpunkt sowohl meines privaten wie meines beruflichen Lebens. Sinn, Wert und Zweck meines Lebens sind durch meine menschlichen Beziehungen und meine Arbeit definiert.
Dennoch fällt es einem Psychoanalytiker schwer, sich selbst preiszugeben, seine Gefühle und die Daten seiner persönlichen Vergangenheit und Gegenwart in einem öffentlichen Druckerzeugnis auch nur andeutungsweise zu enthüllen. Einige meiner orthodoxeren Kollegen würden dies als «unprofessionell» ablehnen. Als Zweig der psychiatrischen Medizin und Behandlungsform für seelische Krankheiten erfordert die Psychoanalyse äußerste Disziplin zum Schutz des Patienten vor den persönlichen Emotionen des Analytikers und der Belastung, die die Kenntnis von Fakten aus dem Alltagsleben des Analytikers für den Patienten sein könnte.
Der schwierigste Aspekt bei der beruflichen Ausbildung eines jungen Psychoanalytikers ist nicht die Beherrschung der Theorie, sondern die Beherrschung seiner selbst, die Kontrolle sogar seiner beschützenden Emotionen wie Liebe, Identifizierung, Zärtlichkeit, Einfühlung und Mitgefühl. Er soll nicht richten, aber er soll auch nicht trösten. Für Mitleid ist genausowenig Platz wie für...