KAPITEL 2
Der Neustart
Dezember 2009 bis März 2010
Niederenergetische Kollisionen und Elektronenvolts
Offiziell wurde der LHC am 23. November 2009 ein Beschleuniger, als Protonenstrahlen mit 450 Gigaelektronenvolt (GeV) Energie aufeinandertrafen. Das ist keine besonders hohe Energie. Zum Vergleich: Das Tevatron in Chicago wurde bei einer Energie von tausend Gigaelektronenvolt betrieben. Aber es war das erste Mal, dass wir echte Kollisionen in unserem Detektor messen konnten. Der ATLAS-Detektor erfasste erstmals um 14:22 Uhr Teilchen aus einer Kollision. Alle Experimente nahmen an diesem Tag Daten auf. Von nun an war der LHC ein echtes, physikalisches Experiment.
Diese ungewöhnlichen Energieeinheiten (Gigaelektronenvolt, Teraelektronenvolt und Ähnliches) sind Ihnen womöglich nicht sehr vertraut, wenn Sie kein/e Physiker/in sind. Ein Elektronenvolt (eV) hat etwas mit Volt zu tun, der Maßeinheit des elektrischen Potenzials. Eine typische Autobatterie hat ein Potenzial von zwölf Volt. Wenn man ein einziges Elektron durch dieses Potenzial fallen lässt (das heißt, es wird vom negativen Anschluss abgestoßen und vom positiven angezogen, weil Elektronen negative Ladungen haben und sich identische Ladungen abstoßen, gegensätzliche jedoch anziehen), wird es Geschwindigkeit aufnehmen.
Bewegen sich Dinge, haben sie wegen ihrer Geschwindigkeit eine Energie, die wir »kinetische Energie« nennen. Die kinetische Energie, die unser Elektron durch die Spannung des Akkus erreichen wird, beträgt zwölf Elektronenvolt. So ist das Elektronenvolt definiert – durch die kinetische Energie, die ein Elektron aufnimmt, wenn es ein elektrisches Potenzial von einem Volt durchläuft.
Da ein Elektron ein ziemliches winziges Ding mit nur einer winzigen elektrischen Ladung ist, ist ein Elektronenvolt nicht sehr viel Energie. Die Standardeinheit der Energie ist das Joule, das einem Kilogramm mal Meter zum Quadrat pro Sekunde zum Quadrat entspricht (kg m2/s2). Der näherungsweise Ausdruck für die kinetische Energie in Begriffen von Masse und Geschwindigkeit ist ½ m v2. Wenn sich also eine Masse (m) von einem Kilogramm mit der Geschwindigkeit (v) von einem Meter pro Sekunde bewegt, hat sie die kinetische Energie von ½ × 1 × 12 Joule = ½ Joule. Es bedarf vieler Elektronen für ein Kilogramm Masse, weshalb ein Joule 6,24 × 1018 Elektronenvolt entspricht, das heißt also 6,24 Millionen Millionen Millionen Elektronenvolt.19
Das Elektronenvolt ist zweifellos keine sehr praktische Einheit für den Alltag (obwohl Sie bei einer Elektronenvoltdiät sehr schnell an Gewicht verlören und das womöglich sogar dauerhaft). Aber der Gebrauch des Elektronenvolts in Physik und Chemie ist bequem, da wir hier häufig über die Energiemenge reden, die nötig ist, um einzelne Elektronen zu bewegen. An chemischen Bindungen ist oft der Austausch von Elektronen mit Energien von einigen Elektronenvolt beteiligt, es kann aber auch viel mehr sein. Um ein Wassermolekül aufzubrechen, muss man einem Elektron etwa fünf Elektronenvolt Energie mitgeben. Wechseln Elektronen in einem Atom oder Molekül die Energieniveaus, absorbieren oder emittieren sie Photonen, also Lichtquanten. In einer Natriumdampflampe zum Beispiel wechseln die Elektronen zwischen Niveaus, die energetisch etwa zwei Elektronenvolt auseinanderliegen, und geben dabei das markante gelbe Licht der Straßenlampen ab.20 Ein gelbes Photon hat also eine Energie von etwa zwei Elektronenvolt.
Röntgenphotonen haben Energien von einigen tausend Elektronenvolt (Kiloelektronenvolt, keV). Sie können selbst die am stärksten gebundenen Elektronen aus einem Atom herausschlagen. Um den Atomkern selbst aufzubrechen, benötigt man noch mehr Energie – Millionen Elektronenvolt (Megaelektronenvolt, MeV). Dies ist der Energiebereich der Kernphysik.
Ich erwähnte, dass Sie mit dieser Energieeinheit womöglich nicht vertraut sind, weil Sie kein/e Physiker/in sind. Genauer gesagt, sind Sie mit Gigaelektronenvolt (einer Milliarde Elektronenvolt, GeV) oder Teraelektronenvolt (einer Billion Elektronenvolt, TeV) vermutlich nicht vertraut, wenn Sie kein/e Astro- oder Teilchenphysiker/in sind. Einzelne Partikel mit solchen Energien gibt es tatsächlich nur in der hochenergetischen, kosmischen Strahlung oder in großen Beschleunigern wie dem Tevatron (vermutlich ist Ihnen nun klar, woher der Name rührt) oder dem LHC. Mit Teilchen dieser Energien kann man nicht nur einen Atomkern zerstören, sondern auch die Protonen und Neutronen darin erschüttern. Und, falls die Natur tatsächlich so funktioniert, kann man vielleicht selbst die Quarks und Gluonen darin erschüttern.
Ein Teraelektronenvolt ist also eine Menge Energie für ein einzelnes Teilchen. Aber diese Teilchen sind ja auch sehr klein. Wenn man die gesamte kinetische Energie eines 1-TeV-Protons (sagen wir vom Tevatron) nähme und einem Kilogramm Masse zuführte, würde sich diese kaum bewegen.21 Dagegen bewegt sich ein Proton derselben kinetischen Energie fast mit Lichtgeschwindigkeit. Genug nun zu den Einheiten.
Am Dienstag, den 8. Dezember 2009, passierte etwas Erfreuliches. Die Katastrophe von 2008 hatte sich ereignet, als die Magnetströme so weit hochgefahren waren, dass sie einen 7-TeV-Protonenstrahl auf der Bahn hätten halten können. Nach den Reparaturen regierte die Vorsicht. Der Plan war, die Ströme jetzt langsam zu erhöhen bis zu einem Level, der für 3,5-TeV-Strahlen reichte. Bei 450 Gigaelektronenvolt (0,45 Teraelektronenvolt) hatten wir also noch einen langen Weg vor uns. Wir beobachteten sorgfältig und ziemlich nervös, wie die Beschleunigerteams die Strahlenergie schrittweise hochfuhren.
Am 8. Dezember schraubte das LHC-Team die Strahlen schließlich auf Energien oberhalb des Tevatron-Rekords von einem Teraelektronenvolt pro Strahl hoch. Nun lieferte der LHC zwar den hochenergetischsten Strahl der Welt, Kollisionen hatte man aber bei diesen Energien noch keine erzeugt. An diesem Dienstag sollte jedoch offensichtlich etwas mit den Strahlen passieren, weshalb das ATLAS-Schichtteam alles sorgfältig verfolgte. Das Team hatte sogar Teile des Detektors angeschaltet, obwohl keine Kollisionen angekündigt waren. Zufällig waren einige Leute des UCL da – eine Studentin (Catrin Bernius) war auf Schicht im Kontrollraum und Adam Davison sowie Nikos Konstantinidis blickten auf den »Ereignismonitor« – das grafische Programm, das die Ergebnisse der Kollisionen darstellte.
Um 21:40 Uhr kreuzten sich die beiden Strahlen, und es gab einige Kollisionen, anscheinend zufällig. Aber ATLAS war bereit: Das Schichtteam nahm sie auf und schickte sie rüber zu den Ereignismonitorleuten, die sie an die Leiterin des Experiments, Fabiola Gianotti, weiterleiteten. Die ersten Proton-Proton-Kollisionen, die die maximale Energie des Tevatron überschritten hatten! Nicht dass das für die Physik irgendeinen Wert gehabt hätte, die Detektormagnete waren nicht einmal angeschaltet, aber man konnte Teilchen sehen, die von den hochenergetischsten Partikelkollisionen stammten, die jemals in einem Labor erzeugt worden waren. Das war der Moment, an dem der LHC zum Beschleuniger mit der höchsten Energie wurde. Am Morgen danach stand es auf der Website. Ein bisschen albern, aber sehr erfreulich.
Minimale systematische Abweichung
Im März 2010 erschienen die ersten physikalischen Veröffentlichungen, die auf LHC-Kollisionen beruhten. Sie behandelten das, was wir als Erstes zu tun hatten, nämlich die Eigenschaften einer durchschnittlichen Kollision zu vermessen, die man auch als »minimale systematische Abweichung« bezeichnet.
Es ist überraschend schwierig zu sagen, was eine Kollision ist. Zwei Protonen, die sich im LHC einander nähern, stoßen sich gegenseitig ab, weil sie beide positiv geladen sind. Diese elektromagnetische Kraft sinkt mit dem Quadrat der Entfernung.22 Wenn sich also der Abstand zwischen zwei Protonen verdoppelt, sinkt die Kraft um einen Faktor vier. Null wird sie nie. Selbst wenn sich die beiden Protonen um Kilometer verpassen (okay, im LHC-Strahl um Mikrometer), werden sie sich also um einen winzigen Betrag gegenseitig abstoßen. Das könnte man als Kollision bezeichnen.
In der Praxis detektieren wir solche streifenden Kollisionen nicht. Die Protonen fliegen einfach weiter entlang des LHC-Rings und werden nie vom ATLAS-Detektor erfasst. Protonen, die sich nahekommen, können jedoch viel stärker gestreut werden und schlagen sich natürlich in vielen Fällen in Stücke. Bei so geringen Abständen und so hohen Energien ist die elektromagnetische Kraft nicht mehr der entscheidende Faktor; die Wechselwirkung zwischen den Protonen wird durch die starke Kraft bestimmt. Dann gilt die QCD, die Theorie der Quarks und Gluonen.
Die starke Kraft hat eine wirklich kurze Reichweite, kaum größer als der Durchmesser eines Atomkerns. Aber wo sie wirkt, ist sie stark. Sie ist stark genug, um zum Beispiel die große, elektromagnetische Abstoßung zwischen den beiden positiv geladenen Quarks im Proton zu überwinden.
Doch selbst viele der heftigen Kollisionen sind noch immer Streifschüsse, in denen die Protonen meist kaum oder gar nicht aufbrechen. Im Allgemeinen hinterlassen sie in ATLAS kein Signal. Sie werden als »diffractive collisions« (beugende Kollisionen) bezeichnet. Es gibt einige spezielle Detektoren, Dutzende oder Hunderte Meter von ATLAS und CMS entfernt entlang des Strahlführungsrohrs, die bei speziellen LHC-Läufen einen geringen Bruchteil der bei diesen Ereignissen nicht zerstörten Protonen messen, aber die meisten Produkte dieser Kollisionen werden in den normalen LHC-Läufen gar nicht erfasst.
Wann würde man...