2 Operation und Chemotherapie
2.1 Heim auf Zeit
Es war so weit. Ich stand mit Diana und einer Tasche vor dem Eingangsbereich des Ernst-von-Bergmann Klinikums. Wir schritten die Treppen hinauf und gingen durch die Tür. Ich merkte wie mein Herz raste. Ich wollte da nicht rein. Ich wollte keine OP, keine Chemo.
Doch wir gingen weiter zum Empfang um zu fragen, wie wir auf die Urologie kommen konnten. Ich weiß nicht mehr warum ich zornig wurde, noch erinnere ich mich daran, was der Herr am Empfang zu mir sagte, was meine Reaktion auslöste. Alles was ich noch weiß ist, dass es mich ziemlich wütend machte und ich mich lautstark über dessen Inkompetenz aufregte und in Richtung der Fahrstühle schritt. Diana folgte mir und meinte nur, dass der Herr nichts Schlimmes gemacht habe, außer mir den Weg zur Urologie zu weisen.
Mein Ausbruch war eine Übersprunghandlung, die sich auf den Herren entlud. Der arme Kerl hätte mir wahrscheinlich auch die Tasche hoch tragen können und trotzdem wäre ich ausgeflippt. Jedenfalls war ich nach diesem Ausbruch um einiges ruhiger.
Nachdem ich mein Zimmer bezogen hatte und die Aufnahmeformalitäten erledigt waren, verabschiedete ich mich von Diana. Einige Untersuchungen standen schon an und die wollte ich alleine hinter mich bringen.
Wieder erntete ich erstaunte Blicke. Die Gesichter des Oberarztes, des Assistenz-Arztes und der Schwester werden mir immer in Erinnerung bleiben. Ich nehme an, dass alle drei das erste Mal einen Hodentumor dieser Größe sahen.
Ich wurde über die Operation aufgeklärt und auch über den möglichen weiteren Verlauf der Krankheit. Der Oberarzt erzählte mir von den guten Heilungschancen, über die Häufigkeit von Hodenkrebs bei jungen Männern (damals waren durchschnittlich etwa 30% aller Männer zwischen 18 und 30 Jahren betroffen, fast jeder Dritte in dieser Altersgruppe)9. Auch gab er mir zu verstehen, dass es keine Garantie gäbe, dass der Krebs nicht wieder kommt. Selbst wenn die 5 Jahre nach der Chemo ohne Auffälligkeiten verlaufen sollten.
2.2 Die Hiobs-Botschaft
Wer schon im Krankenhaus lag, kennt es; Am Tag der Operation muss man nüchtern bleiben. Frühstück und sonstige Mahlzeiten fallen aus. Da ich eh kein großer Frühstücker war und bin, war an dieser Vorstellung für mich nichts Schlimmes. Bis zum Mittag komme ich ohne Essen gut aus. In einer Klinik ist das jedoch etwas anderes. Erst wurden meine Bettnachbarn und ich gegen 6:00 Uhr morgens geweckt und aus dem Bett gescheucht, damit die Frühdienst-Schwestern die Betten neu beziehen konnten. Zwischen 7:30 Uhr und 8:00 Uhr gab es Frühstück.
Nur leider nicht für mich. Menschen beim Essen betrachten, während ich nichts zu mir nehmen durfte, war schon eine Folter. Gegen 9:30 Uhr wurde ich gebeten, die »Scheiß-Egal«-Pille zu schlucken. Die Minuten schlichen wie Stunden vor mir her, während ich wartete, doch es passierte nichts. 11:00 Uhr, eine Schwester kam herein und sagte mir, dass die OP sich auf 13:00 Uhr verschieben würde. Wieder kroch die Zeit im Schneckentempo voran. Das Mittagessen wurde herein geschoben. Ich durfte zusehen, wie meine Bettnachbarn Kartoffelpüree, Mischgemüse und Putenschnitzel verzehrten. Krankenhauskost hat nicht den besten Ruf, aber mit meinem knurrenden Magen erschienen mir die Speisen, deren Duft mir in die Nase stieg, wie kulinarische Leckerbissen.
Mir gab man hingegen eine neue »Scheiß-Egal”-Pille, mit dem Hinweis, diese erst zu nehmen, wenn ich hierzu aufgefordert werden würde. Mittlerweile wurden schon Kaffee und Kuchen serviert. Mein Magen knurrte unterdessen richtig laut. Gegen 16:00 Uhr kam eine Stationsärztin ins Zimmer: »Herr Dresen, ich habe eine Hiobs-Botschaft für Sie!«
Oh mein Gott, was kommt denn jetzt? Hatte der Krebs doch gestreut und metastasiert? Musste ich mich weiteren Untersuchungen unterziehen, damit festgestellt werden konnte, welche Regionen meines Körpers zusätzlich mitbetroffen waren? All diese Fragen und noch vieles mehr schoss mir durch den Kopf, noch bevor die Ärztin sagen konnte: »Sie werden erst Morgen operiert. Wir hatten Unfall-OPs. Können wir etwas für Sie tun?«
Der Stein, der mir vom Herzen fiel, knallte grade durch sämtliche Decken des Ernst-von-Bergmann. Ich wusste sehr genau, was man noch für mich tun konnte.
»ESSEN! Ich möchte was essen! Egal was und so viel wie möglich!«
2.3 Der Tag an dem ich operiert wurde
Am nächsten Tag vollzog sich zunächst das gleiche Spiel. Kein Frühstück für mich. Dieses mal wurde es jedoch ernst. Die „Scheiß-Egal”-Pille hatte noch nicht ihre volle Wirkung entfaltet, da wurde ich auch schon mit dem Bett über den Krankenhausflur in den Fahrstuhl geschoben.
Der Lift hielt, die Türen glitten zur Seite und es ging abwärts. Wieder wurde ich über einen Flur geschoben. Meine Glieder fühlten sich schwer an. Unfähig mich zu bewegen, nahm ich die freundlichen Stimmen der OP-Schwestern wahr, die mich begrüßten, als seien wir zum Kaffee verabredet. Was sie genau sagten, daran kann ich mich inzwischen nicht mehr erinnern. Lediglich die Worte des Narkosearztes habe ich immer noch im Ohr. »Hallo Herr Dresen, meine Name ist .... Ich bin heute Ihr Sandmann!«
Dann wurden auch schon die ersten Vorbereitungen an meinem Körper vorgenommen. Der Anästhesist hatte bereits das Mundstück mit dem Betäubungsgas in der Hand und gab mir zu verstehen ruhig zu atmen, wenn er mir die Maske aufsetzte. »Zählen Sie in Gedanken langsam rückwärts von zehn bis eins.« Ich zählte. Zehn, neun, acht, sieben ... weiter kam ich nicht.
Ich lag bereits in meinem Krankenzimmer, als ich wieder zu Bewusstsein kam. Ein beißender Schmerz schoss durch meine Leiste, als ich versuchte mich zu bewegen. Es trieb mir sofort die Tränen in die Augen. Nachdem ich mich wieder gefangen hatte, blickte ich mich um.
An meinem Bett hingen zwei Plastikbeutel, an denen Schläuche befestigt waren. Diese liefen unter die Bettdecke. Vorsichtig hob ich die Decke an. Das Krankenhausnachthemd war an einigen Stellen bräunlich-rot durchtränkt von meinem Blut. Einer der Schläuche verlief seitlich über mein Becken. Durch ihn tropfte langsam eine rote Flüssigkeit. Was durch den anderen floss war hellgelb und transparent. So was kannte ich bisher nur von älteren Menschen oder solchen, die einen schweren Unfall hatten. Sah man von der Kochsalzlösung ab, musste ich immerhin nicht künstlich ernährt werden.
In diesem Moment fühlte ich mich unendlich hilflos. Keine Bewegung ohne Schmerzen, angeschlossen an Schläuche, die Flüssigkeiten zu- oder abführten.
Ein paar Tage nach der Operation kam meine beste Freundin Corina mit ihrem damaligen Partner zu Besuch. Ich schlug vor, dass wir das Krankenzimmer verlassen, um in der Cafeteria des Krankenhauses Kuchen zu essen. Das Gehen war dabei die Herausforderung für mich. Immer noch tat mir alles im Lendenbereich weh. Vor allem auf der rechten Seite. Corina wollte mir einen mir einen Rollstuhl organisieren, was gar nicht so einfach war, denn frei Rollstühle waren auf der Urologie Mangelware. Zu guter Letzt stellte uns eine Krankenschwester ein Paar Krücken zur Verfügung und wir konnten die Reise durch Flure und Stockwerke beginnen. Blut und Urinbeutel befestigte ich an meinem Bein und wir machten wir uns auf den Weg.
Ich hatte unterschätzt, wie frisch meine Narben noch waren und was eine Operation im Lendenbereich für Auswirkungen haben kann. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine solche Operation gehabt. Bei jedem Schritt zogen sich die Schmerzen durch meinen Körper und wir mussten immer wieder anhalten. Die Strecke zur Cafeteria, die sonst maximal zehn Minuten dauerte, wurde zu einer Tour von über einer halben Stunde. Immer wieder hielten wir kurz an, damit ich meinem Körper eine Verschnaufpause gönnen konnte.
»Wollen wir lieber Umkehren?«, fragte mich Corina, als ich wieder einmal stoppen musste.
»Lohnt nicht«, zwinkerte ich leicht angestrengt. »Der Weg zurück wäre länger.«
In der Cafeteria angekommen, nahm ich platz während Corina und ihr Freund Kuchen und Kaffee besorgten. Während wir dort zusammen saßen, erkundigte sich Corina nach meinem Befinden und wie es weitergehen würde. So gut ich konnte, antwortete ich ihr und teilte ihr mit, dass falls meine Haare während der Chemo ausfallen würden, ich mir diese direkt abrasieren lassen wollte. Sie schaute ein wenig entsetzt, schien aber zu verstehen, warum ich diesen Schritt dann so schnell wie möglich durchziehen wollte. Von ihr wollte ich wissen, was es in unserem Internetforum Neues gab und welche Ereignisse sonst in unserem gemeinsamen Freundeskreis statt gefunden hatten. Es tat gut die Geschichten zu hören und gab mir das Gefühl, immer noch Teil dieser Gemeinschaft zu sein.
Ausschnitt aus dem Pathologischen Befund
Pathologisch-anatomische Begutachtung und Beurteilung
Klinische Angabe / Fragestellung Hodentumor rechts
Entnahmeort: Makroskopie
I. Hoden rechts; 150x90x80 mm großes Semikastrations-Präperat[...] . Auf den Schnittflächen ein mehrknotiges grau-weißes,...