Die Zeitlüge
»Wenn ich ein Jahr frei hätte, dann würde ich einen Roman schreiben!«
Vielleicht würden Sie das ja. Vielleicht aber auch nicht. Nicht selten ebnet gerade ein großer, freier Zeitabschnitt verbunden mit der Aufforderung »Nun schreib aber auch!« der Schreibhemmung Tür und Tor. Wer Schreiben zur Hauptsache erhebt, macht Schreiben schwierig. Wer es nebenher betreibt, hält es im Fluss. Nirgends trifft diese Erkenntnis mehr zu als in Verbindung mit der Zeit.
Eine der am weitesten verbreiteten Legenden über das Schreiben besagt, dass man dazu große zusammenhängende Zeitblöcke benötigt. Was mich betrifft, so standen mir nie derartige endlos ergiebige, seidene Stoffballen an Zeit zur Verfügung. Mein Leben – und alles, was ich in seinem bisherigen Verlauf produziert habe – hat mehr Ähnlichkeit mit dem Herstellen einer Patchwork-Decke als mit dem Abrollen eines unendlichen Seidenballens.
Der Mythos, dass wir Zeit – mehr Zeit – brauchen, um schöpferisch tätig sein zu können, hält uns davon ab, die Zeit zu nutzen, die uns zur Verfügung steht. Wenn wir immer nur nach »mehr« verlangen, dann negieren wir das Vorhandene. Im Augenblick warte ich gerade auf das Eintreffen zweier Übernachtungsgäste von außerhalb, habe eine Mahlzeit vorzubereiten, muss die Pferde füttern, und meine Hunde würden wirklich gern einen langen Spaziergang mit mir machen. Ob aus dem langen Spaziergang etwas wird oder nicht, muss sich noch zeigen, auf jeden Fall wird jedoch etwas aus der Erledigung der übrigen Punkte – nach dem Schreiben. Mein Dasein als allein erziehende Mutter, hauptberufliche Lehrerin und hauptberufliche Schriftstellerin hat mich gelehrt, mir die Zeit zum Schreiben zu nehmen, statt auf sie zu warten. Mir Zeit nehmen, genau das tue ich jetzt auch. Es klappt, wenn man die Gelegenheit beim Schopf packt.
Für die meisten vervollständigt sich der Satz »Wenn ich doch nur genug Zeit hätte« durch die verführerische und unausgesprochene Ergänzung »mich selbst denken zu hören«. Mit anderen Worten: Wir meinen, wenn wir genug Zeit hätten, dann gelänge es uns, unsere oberflächlicheren Persönlichkeitsanteile ruhig zu stellen, und dann könnten wir endlich dem tiefgründigeren Fluss der Inspiration lauschen. Auch dies ist lediglich eine Legende, die uns entlasten soll – wenn ich nur lang genug warte, wenn ich genug Zeit zum Zuhören habe, dann muss ich mich nie dem öffnen, das schon heute in mir nach oben steigt und dafür die Verantwortung übernehmen.
Als Lehrerin habe ich den Satz »Zwischen mir und einem großen amerikanischen Roman steht nichts als ein Jahr freie Zeit« häufig zu hören bekommen. Diese Obsession mit dem Zeitblock kann leicht zur Schreibhemmung ausarten. Den wenigsten Schülern – ja, den wenigsten Menschen – wird je ein Jahr Freizeit zur Verfügung gestellt. Doch ohne dieses freie Jahr können wir nicht wirklich schreiben, keine »echten« Schriftsteller sein, nicht wahr?
Vielleicht aber doch.
Die Zeitlüge ist ein bequemes Mittel, um sich der Tatsache zu verschließen, dass auch Romane Satz für Satz geschrieben werden müssen. Sätze können innerhalb von Augenblicken entstehen. Genug solcher gestohlener Augenblicke, genug gestohlene Sätze, und ein Roman ist vollendet – und zwar ganz ohne den Luxus unbegrenzter Zeit.
Der Rechtsanwalt Scott Turow verfasste seinen spannenden Roman Presumed Innocent im Pendlerzug zum Büro und nach Hause. Meine Schülerin Maureen hat es fertig gebracht, neun Theaterstücke zu schreiben, während sie zugleich ihren kleinen Sohn aufzog und als Designerin arbeitete. Michael, ein anderer meiner Schüler, brachte einen ganzen Roman zu Papier und nutzte dazu die »freien Minuten«, die ihm während des Schreibens seiner Magisterarbeit blieben. Sie alle setzten ihr Vorhaben in die Tat um, indem sie sich Freiräume schufen, anstatt auf freie Zeit zu warten.
Wenn wir Freiräume schaffen, dann können wir jederzeit und überall schreiben. Sobald wir den Kunstkniff beherrschen, »wie man sich in die Quelle fallen lässt«, den ich lehre – ich halte dazu meine Schüler an, jeden Morgen zuerst einmal drei Seiten voll zu schreiben –, können wir unsere Quelle jederzeit und überall finden: im Wartezimmer beim Zahnarzt, im Flugzeug, während wir auf jemanden warten, den wir abholen, in der Mittagspause, beim Friseur, am Küchentisch, während die Zwiebeln dünsten …
Wer aus reiner Liebe zur Schriftstellerei schreibt, der findet immer genug Zeit – so wie auch Liebende immer Zeit finden für einen Kuss zwischendurch. Eine kluge Frau hat mir einmal erklärt: »Auch der beschäftigtste und bedeutendste Mann findet immer Zeit für dich, wenn er richtig verliebt ist; findet er sie nicht, dann ist er eben nicht verliebt genug.« Wenn wir also das Schreiben lieben, dann finden wir auch Zeit dafür.
Zeit zum Schreiben finden wir somit dann, wenn wir es aus Liebe zur Schriftstellerei tun, und nicht, weil wir bereits auf das Endresultat schielen. Versuchen Sie nicht, etwas Vollkommenes zu produzieren; schreiben Sie einfach drauflos. Versuchen Sie nicht, ein ganzes Megilloth zu vollenden; machen Sie erst einmal einen Anfang. Ja, die Vorstellung ist erschreckend, wie viel Zeit man für das Schreiben eines ganzen Romans finden müsste. Viel weniger beängstigend ist es, Zeit für einen Absatz oder einen Satz zu erübrigen. Und jeder Roman setzt sich schließlich nur aus Absätzen, und diese wiederum aus Sätzen zusammen.
Die Journalistin Annie versuchte immer, Zeit zu »finden«, um zum reinen Vergnügen zu schreiben. Ihr kam Zeit wie ein Hundert-Euro-Schein vor, den sie an einem Glückstag einmal finden würde.
»Du darfst nicht warten, bis die Zeit zu dir kommt«, erklärte ich ihr. »Wo bleibt denn dein Kampfgeist? Stiehl dir die Zeit!« Zu Beginn gelang es ihr, sich jeden Tag fünfzehn Minuten Zeit zu stehlen. Dann klappte es zweimal täglich. Es dauerte nicht lange, und ihr standen plötzlich zweimal wöchentlich ganze gestohlene Stunden zur Verfügung. Wie wenn man sich unerwartet verliebt, überraschte sie die Freude, die sie am Schreiben hatte, und stahl sich sanft in ihr Herz. Plötzlich »hatte« sie genug Zeit.
Alan, ein Dozent für kreatives Schreiben, der sich nichts mehr wünschte, als seinen ersten Roman zu verfassen, tröstete sich jahrelang damit, dass er Zeit zum Schreiben hätte, sobald er ein Jahr freigestellt würde. Eines Tages machte er den Fehler, mir von seiner Sichtweise zu erzählen.
»Warum fängst du nicht jetzt gleich an?«, wollte ich wissen. »Fang jetzt mit dem Schreiben an, dann kannst du den Text während deiner Freistellung überarbeiten.«
»Dazu habe ich nicht genug Zeit«, protestierte Alan. »Ich unterrichte kreatives Schreiben. Ich muss meinen Schülern beim Schreiben zusehen.« Er hörte sich verbittert und mürrisch an.
»Dann schreib doch, während sie schreiben. Mach doch nicht so viel Wirbel darum. Halt doch in der Zeit, in der sie arbeiten, einfach ein paar Einfälle fest.«
»Ja, ich habe Einfälle, aber ich weiß nicht, wohin sie mich führen«, beklagte sich Alan.
»Dann häng dich doch an einen dran, so kannst du es herausfinden.«
»Mich an einen dranhängen! Und wenn es eine Sackgasse ist? Für Sackgassen habe ich keine Zeit.«
»Sackgassen gibt es doch gar nicht, nicht wirklich jedenfalls«, gab ich zu bedenken. Ich hatte Alan in die Enge getrieben, und er wusste es.
Alan hatte sehr wohl Zeit zum Schreiben. Wir alle haben Zeit zum Schreiben. Wir haben Zeit zum Schreiben, sobald wir uns damit zufrieden geben, schlecht zu formulieren, in einer Sackgasse zu enden, jedes Mal nur ein paar Sätze aufs Papier zu bringen und einfach nur um des Schreibens willen zu schreiben, anstatt ein vollkommenes, geschliffenes Resultat anzustreben.
Die Obsession mit dem Zeitmangel ist in Wirklichkeit nichts anderes als Perfektionismus. Wir wollen genug Zeit, um vollendet zu schreiben. Uns fehlt der Mut, ohne Sicherungsnetz zu arbeiten, und wir behaupten, dass wir doch nicht so dumm sind, um Zeit auf etwas zu verschwenden, das sich am Ende gar nicht auszahlt.
»Fang erst einmal damit an, dass du deine drei Morgenseiten schreibst«, riet ich Alan. »Verschaff dir Gelegenheit, dich auf dem Papier auszubreiten. Schreib drei Seiten über alles, was dir nur einfällt. Es wird deinen inneren Zensor lehren, dich in Zukunft machen zu lassen.«
»Da habe ich meine Zweifel, ob das funktioniert«, erklärte mir Alan.
»Das mag schon sein, aber versuch es trotzdem«, spornte ich ihn an.
Die Zweifel waren bedeutungslos. Die Morgenseiten setzten die Pumpe in Gang. Es dauerte nur wenige Wochen, da schrieb Alan mit seinen Schülern um die Wette. Er schrieb einen um den anderen Satz, eine um die andere Seite – er schrieb. Er hängte sich sogar an die Einfälle, die er für Sackgassen hielt.
»Ich glaube, ich bin jetzt auch ein besserer Lehrer«, sagte er einmal zu mir.
Das wunderte mich nicht. Nichts teilt sich deutlicher mit als Liebe, und Alans Liebe zum Schreiben ließ ihn erstrahlen wie ein Licht, das seinen Schülern den Weg wies.
Wenn wir aus Liebe schreiben, uns selbst Augenblicke des Schreibens schenken, dann wird unser Leben schöner und unser Temperament sanfter. Wir sind nicht mehr länger neidische Zuschauer, die am Rand stehen und murmeln: »Ich würde ja auch so gerne, aber …«
»Wenn ich nur auf dem Lande lebte, dann würde ich auch die Zeit finden, um zu schreiben …«
»Wenn ich doch größere Ersparnisse hätte, dann wäre es mir leichter möglich zu schreiben …«
Die Lügen, die wir uns selbst über das Schreiben und die...