Im Mai 2007 machen sich in einer der raren Schönwetterperioden die Teams vom Basislager auf den Weg zum Gipfel des höchsten Bergs der Erde. Kälte, zehrender Wind, Sauerstoffmangel: Reicht die Kraft? Irgendwie steigen sie trotzdem weiter, vorangetrieben von sich selbst und den anderen im Team. Schließlich der Gipfelblick über die Welt. An dem Punkt des Abstiegs, an dem die gefährlichsten Passagen überwunden sind, werden die Bergsteiger in 5600 Meter Höhe von dem Fotografen Jozef Kubica porträtiert. Es sind Bilder entstanden, die die Tiefe der Erfahrung widerspiegeln, »Faces of Everest«. Als ich die Fotos zum ersten Mal in einer Zeitschrift sah, war ich tief beeindruckt von der Kraft und dem mal fröhlichen, mal wilden Stolz, der aus den Gesichtern spricht: »Ja, ich habe es geschafft! Ich lebe, ich bin stark. Ich bin!«, scheinen die Menschen dem Betrachter zuzurufen. Und heute denke ich: So sollten auch Menschen aussehen, die auf ihr eigenes Leben zurückblicken.
»Was? Ich soll mein Leben malen?« Peer ruckelt an seiner Krawatte, als ich ihm in einer Coachingstunde vorschlage, den Verlauf seines Lebens als Fluss darzustellen. Er arbeitet als Projektmanager bei einem Autohersteller und kämpft seit längerem mit Sinnlosigkeitsgedanken, die sein Leben überschatten. Schleichend freudlos ist er darüber geworden. Aber da ist noch mehr, was ihm Kraft raubt: Er frisst seinen Ärger in sich hinein, wenn ein Kollege gemeinsame Erfolge als die eigenen ausgibt. Und wächst der Druck in einem Projekt, zieht er sich zurück und versucht, alles allein zu stemmen. Den Kontakt zu seinen Mitarbeitern verliert er dann. Ende dreißig, ist er auf den ersten Blick ein schneidiger Geschäftsmann, auf den zweiten ein sensibler Introvertierter.
»Ja, probieren Sie doch mal. Hier ist die ideale Gelegenheit zum Experimentieren, und so etwas machen Sie bestimmt nicht für sich allein«, versuche ich ihn zu überzeugen.
»Also gut, warum nicht? Ich versuch’s«, sagt er und malt mit Farbstiften auf ein großes Papier. Zwanzig Minuten später stehen wir vor seinem Bild. Ein Fluss windet sich durch verschiedene Landschaften. Links sieht man die Quelle, die Peer auf einer Waldlichtung zwischen Baumwurzeln eingezeichnet hat. »Da war ich noch ein kleiner Junge, irgendwie wild und stark.« Er lacht. Was er damit verbinde, frage ich ihn. »Wir haben am Waldrand gewohnt. Ich war immer mit meinen Freunden unterwegs. Wir waren Waldläufer, verschworene Kämpfer.« Er erzählt von der Kraft, die er damals gespürt hat, von seiner Lust am Kämpfen, von der Verbundenheit mit seinen Freunden und seinen klaren Impulsen.
»Und? Wo ist diese Kraft heute in Ihrem Leben?«, frage ich.
»Gerade habe ich sie bei mir«, sagt Peer. »Mal sehen, vielleicht kann ich sie auch zur Arbeit mitnehmen.«
Drei Wochen später erzählt er in einer weiteren Coachingstunde etwas, was mich ungemein freut: Er kann tatsächlich an die Kraftquellen von früher anknüpfen, an die er sich beim Malen seines Lebensflusses erinnert hat. »Vor ein paar Tagen war ich mit meinen Mitarbeitern essen, weil das bisherige Projekt abgeschlossen ist und das neue ansteht. Der Abend war irre. Das war das Beste, was mir seit langem passiert ist. Ich habe eine Rede gehalten. Aus dem Stegreif. Über Teamgeist und wie wir gemeinsam etwas durchkämpfen können. Vielleicht zu romantisch, aber egal, die Stimmung war großartig, alle waren wie eingeschworen. Ja, zurzeit bin ich wieder verbunden mit dem, was mich früher ausgemacht hat.«
Peer kann glücklicherweise sehr direkt an sein ursprüngliches Lebensgefühl anknüpfen. Das klappt natürlich nicht immer so reibungslos. Und nicht für jeden ist der Blick zur Quelle der richtige. Für andere wirken eine Schlüsselsituation im späteren Leben oder der Blick in die Zukunft weitaus kraftvoller. Deshalb malen und beschreiben Sie mit dieser ersten Übung auch Ihr Leben als Ganzes. Was Sie davon haben? Sie knüpfen an Ihre Stärken an, Sie erweitern Ihr Wissen über sich selbst und verbessern Ihr Selbstgefühl. Sie empfinden Ihre endliche Lebenszeit bewusster. Das ist die perfekte Grundlage, um in den nächsten Kapiteln andere Aspekte wie Ihr Wertesystem, Ihre Beziehungen oder Ihre Weisheit weiterzuentwickeln und sich zu fokussieren.
»Das kann ich nicht«, sagen meine Seminarteilnehmer, wenn ich Wachskreiden verteile und sie bitte, ohne jeden künstlerischen Anspruch ihre inneren Bilder aufzumalen. Und dann malen sie doch. Gerade die Mischung aus ungewohnter Tätigkeit, intuitivem Können und Anknüpfen an kindliches Tun eröffnet einen unverstellten Zugang zu inneren Bildern und lässt auf frischen Denk- und Fühlbahnen wandeln. Die Hirnforschung belegt, wie stark innere Bilder unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Wenn sie uns auch auf der Gefühlsebene berühren, verankern sie sich in unserem Gedächtnis. Rufen wir sie später ab, haben sie dieselbe emotionale Intensität und helfen zum Beispiel, sich in eine gute Stimmung zu bringen. Wir können innere Bilder auch als Richtschnur für unser Leben benutzen, indem wir einer starken Vision unserer Zukunft folgen oder uns einen großen Wunsch mit Hilfe eines Bildes immer wieder vergegenwärtigen.
Innere Bilder haben aber noch ganz andere Vorteile. Sicher kennen Sie das Computerprogramm »Google Earth«. Da blicken Sie erst aus dem Weltall auf die Erdkugel, dann rücken die Kontinente näher, umgrenzt von den leuchtenden Brandungslinien der Ozeane, schließlich nähern Sie sich Waldstücken, Feldern und Städten, bis Sie einzelne Bäume, Straßenzüge, dann Ihr eigenes Hausdach und die Krähe auf dem Mäuerchen erkennen. Ebenso können Sie wieder wegzoomen und Ihre Perspektive in die des Außerirdischen zurückverwandeln. Auch bei der Übung in diesem Kapitel wechseln Sie zwischen der Gesamtschau auf Ihr Leben und dem Blick auf Details. Die Gesamtschau verleiht Ihnen die Fähigkeit, wiederkehrende Muster und Herausragendes klar zu sehen. Ihre Sicht auf einzelne Schlüsselerlebnisse lässt Sie verstehen, warum Sie so und nicht anders geworden sind und warum Sie so und nicht anders handeln.
Und gibt es ein Bild, das sich besser als das des Flusses eignet, um sich sein Leben zu vergegenwärtigen? Der Fluss – Inbegriff stetiger Veränderung. Die Quelle – der Ursprung des Lebens. Die ersten Zuflüsse – wichtige Beziehungen. Biegungen, Strudel, Untiefen und Verzweigungen – die Wechselfälle des Lebens. Der Fluss wird breiter und tiefer – Reifen und Wachstum. Der Fluss mündet schließlich ins Meer, das nun Fluss und Meer zugleich ist – das Leben endet, geht in eine andere Form über, ist der Wasserdampf, der aufsteigt und Wolken bildet. Ist der Regen, der Hagel, der Schnee, der in den Bergen niedergeht, Stein und Erde sättigt, bis er als winzige Quelle aus dem Berg tritt.
»Wer andere kennt, ist gelehrt. Wer sich selbst kennt, ist weise«, liest man bei Konfuzius, dem großen Philosophen des alten China. Verstehen Sie Ihren Lebenslauf neu, und gewinnen Sie Erkenntnis und Weisheit.
Aufwärmen: Die Kerbe
Suchen Sie sich einen Stock oder etwas anderes, auf dem sich ein Zeitmaß abbilden lässt, etwa einen Kochlöffel oder ein Lineal – oder stellen Sie sich einfach einen Stock vor.
Vor der Übung in jedem Kapitel wärmen Sie sich erst einmal auf, hier für die spätere Flussübung. Das Aufwärmen in diesem Kapitel soll Ihnen dabei helfen, eine bewusste Haltung zu Ihrer bereits verstrichenen und der noch vor Ihnen liegenden Lebenszeit zu entwickeln. Die Funktion ist dieselbe wie die des Aufwärmens beim Sport: Gut gedehnte, warme Muskeln arbeiten geschmeidiger. Hier werden Ihre Gedanken, Ihre Gefühle und Ihre Intuition geschmeidiger. Am besten, Sie gehen dafür in den Wald. Oder Sie machen einen kleinen Spaziergang in einem nahen Park, auf einem Friedhof oder im botanischen Garten. Umgeben von Natur und herausgetreten aus dem Alltag, fällt ein Anknüpfen an den Lauf allen Lebens leichter. Falls Sie daheimbleiben oder die Übung nur »im Geiste« machen, gestalten Sie für das Aufwärmen eine möglichst besondere Stimmung – vielleicht zünden Sie eine Kerze an und legen dezente Musik auf.
Wie in allen weiteren Kapiteln zeige ich die Übungsschritte zuerst im Überblick und erkläre sie dann ausführlich.
Aus dem Alltag heraustreten
Wenn Sie in die Natur gehen, so sensibilisieren Sie Ihre Sinne für die Natureindrücke: Hören Sie die Amsel singen und die Maus im Laub rascheln? Sehen Sie die Blütenkätzchen an der Birke zittern? Spüren Sie den Wind auf Ihrem Gesicht? Riechen Sie den Erdgeruch, der vom Boden aufsteigt?
Suchen Sie sich einen Stock, der Ihnen spontan ins Auge fällt und der gut in Ihrer Hand liegt.
Wählen Sie einen Baum aus, an den Sie sich gern lehnen möchten. Nehmen Sie die Ruhe wahr, die der Baum ausstrahlt.
Die Kerbe setzen
Betrachten Sie den Stock in Ihrer Hand im Ganzen. Stellen Sie sich Folgendes vor: Dieser Stock steht für Ihr Leben. Auf der einen Seite beginnt Ihr Leben, es verläuft in der gesamten Länge, und am anderen Ende des Stocks endet es. Und nun die entscheidende Frage: Wo stehen Sie jetzt in Ihrem Leben? – Blitzantwort: Überlegen Sie nicht, sondern legen Sie spontan einen Finger auf die Stelle. Kerben Sie den Stock an dieser Stelle ein.
Betrachten Sie das verbleibende Wegstück von der Kerbe bis zum rechten Stockende: Das ist der Lebensweg, der noch vor Ihnen liegt. Nehmen Sie wahr, welche Gedanken und Gefühle das in Ihnen auslöst. Denken Sie jedoch nicht abergläubisch, Sie hätten nun die Länge Ihres Lebens vorausgesehen – niemand kennt...