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Der Lesebegleiter

Eine Entdeckungsreise durch die Welt der Bücher

AutorTobias Blumenberg
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl784 Seiten
ISBN9783462320114
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
»Braucht den Vergleich zu ?Sofies Welt? von Jostein Gaarder nicht zu scheuen.« Schwäbische Zeitung. Als Kind machte Tobias Blumenberg mit seinem Vater Nachtspaziergänge (die präzise um ein Uhr begannen), auf denen der Philosoph die Sterne zählte und Stichworte zu Gesprächen über Literatur gab. Die ganze Literatur. In »Der Lesebegleiter« erzählt er von den Anfängen des Lesens jenseits von Karl May und Pippi Langstrumpf bis zum Erklimmen der Gipfel: Proust, Mann und Joyce. Die große Lesereise beginnt bei »Don Quixote«, »Moby Dick« und Dostojewskis »Idiot« - und dann geht es auf große Fahrt. Der Lesebegleiter ist ein Abenteurer: Er reist mit uns durch die Zeit, zum Gilgamesch-Epos oder den mittelalterlichen Heldensagen, und einmal um die ganze Welt. Er ist ein Verführer, der uns seine Lieblingsbücher ans Herz legt - nicht nur Klassiker, sondern auch Detektivgeschichten oder Jugendbücher. Und er ist ein Freund, der uns vor Lektüren warnt, mit denen wir unsere Zeit verplempern. Niemals vergisst er die Poesie! Vor allem aber ist er ein glänzender Erzähler. Er kennt wunderbare Anekdoten; er lobt, tadelt, scherzt; und er erklärt, welche Parallelen es in Musik und bildender Kunst gibt. Am Ende der Reise ist man nicht nur reicher an Erfahrungen und Geschichten; man hat auch eine begründete Empfehlungsliste von etwa fünfzehnhundert Werken und eine universale Literaturgeschichte in der Hand. Und möchte sofort wieder aufbrechen - aber niemals ohne den Lesebegleiter ...

Tobias Blumenberg, geboren 1959 in Kiel, ist der Sohn des Philosophen Hans Blumenberg. Er hat Archäologie und Zahnmedizin studiert und jahrelang als Deutschlands belesenster Zahnarzt gearbeitet. Er war als Herausgeber tätig und verfügt über eine unermesslich große Bibliothek.

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Leseprobe

Kapitel 1
Der Dürre, der Fallsüchtige und der Hinkende – drei Menschheitsfiguren


Eines Tages kann man lesen. Vorher waren Bücher gut, wenn sie viele und bunte und schöne Abbildungen hatten. Celestino Piatti[2] war gut mit seinen Tieren, vor allem den zweisamen Eulen aus Eulenglück. Bücher ohne Bilder waren schlecht. Wurde daraus vorgelesen, hatte man gar keine sinnliche Vorstellung von den Schauplätzen und handelnden Personen. Dann ist plötzlich alles anders, es gibt gute Bücher mit Bildern und Text. Erich Kästners Konferenz der Tiere ist toll und der erregte Stier Reinhold mit hochrotem Kopf am schönsten, wenn er von Walter Trier gezeichnet ist. »Haben Sie ein Ausreißevisum?«, brüllt er den Zöllnern hinterher, die vor seiner schnaubenden Wut das Hasenpanier ergreifen. Darüber habe ich mich vor Entzücken gekringelt, damals. Es gab einen schön illustrierten Robinson, vermacht vom großen Bruder, den er aber eines Tages zurückhaben wollte. Im Alter erinnert man sich gern wieder der Freuden der Jugendzeit und fordert, was einem gehörte, für die Enkel. Und Pippi Langstrumpf, übernommen von der Schwester, zeigte sich mit Herrn Nilsson auf der Veranda der Villa Kunterbunt. Astrid Lindgren, diese große Poetin des Kinderbuchs, hat in dem für zarte Seelen fast zu düsteren Mio, mein Mio symbolisch dargestellt, wie gute Bücher wirken: Auch wenn man im Kerker schmachtet, braucht man nur den Zauberlöffel der Erinnerung in den Mund zu stecken, um alsbald geistig gesättigt zu sein. Karl May, den ich von irgendwoher hatte, brachte es nur auf eine einzige bunte Illustration auf dem Buchdeckel, wenn er aus Bamberg kam, und hatte Glück, dass ich noch nicht wusste, was Arno Schmidt über ihn geschrieben hat.

Dann kam das Weihnachten, an dem ich mein erstes richtiges und wichtiges Buch bekam. In grauem Feinleinen mit einem Lesebändchen kam es daher, die Seiten ganz biegsam zart, aber nicht durchscheinend, was bei gutem Dünndruck wichtig ist, mit der Signatur des Verfassers auf dem Deckel und dezenten goldenen Verzierungen am Rücken. Moby Dick hieß es und Herman Melville sein Urheber. Dieses Buch hatte mein Vater für mich ausgesucht als erstes Leseerlebnis jenseits der ›Kinderbücher‹. Mein erster Band der »Winkler Weltliteratur«-Bibliothek.

An die Konkurrenz, die der weiße Wal an jenem Weihnachten in Gestalt anderer Bücher hatte, kann ich mich nicht präzise erinnern. Sicher waren einige kindgerechtere dabei und vermutlich hat mein älterer Bruder, der aufgrund einer angeborenen Lesephobie sparsam mit Gedrucktem versorgt wurde, einen weiteren Band der Jules Verne-Ausgabe von Bärmeier & Nikel bekommen mit den vielen detaillierten, zur phantastischen Handlung passenden Holzschnitten. Der Reiz dieser Bücher hielt indes nur kurz an. Mit dem dicken Dünndruckband war das anders. Unverzüglich nahm ich ihn in Angriff – an so einem Buch von über siebenhundert Seiten hatte ich mich noch nie versucht – und kämpfte ein halbes Jahr lang mit Moby Dick, speziell den eigenartigen Ausdrücken der Seefahrt und den wunderlichen Namen von allerlei Schiffsteilen, kein Wort auslassend, jeden Satz so lange lesend, bis ich glaubte, alles verstanden zu haben. Denn ich wollte es sorgfältig machen. Alles, was mir bei der Lektüre sonderbar, interessant, ungeheuerlich erschien, wurde auf Zetteln vermerkt. Die legte ich an der entsprechenden Stelle so ein, dass sie am oberen Schnitt herausschauten, damit ich sie später leicht wiederfinden konnte. Nach einiger Zeit starrte das Buch vor solchen Zetteln und ich musste aufpassen, dass sie beim Lesen nicht alle wieder herausfielen. Unter uns gesagt, dieses Verfahren war fürchterlich umständlich. Ich würde es nicht empfehlen. Unterstreichen ist besser, aber in Wahrheit habe ich nach einer Weile alle Markierungsarbeiten an Texten aufgegeben. Zum Verständnis von Büchern hilft nämlich nur eins: Man muss sie lesen. Alles Weitere ergibt sich dann. Ab und zu bereut man, eine Stelle nicht gleich wiederfinden zu können. Dazu würde unterstreichen oder ein Zettel noch nicht ausreichen, man bräuchte dann auch noch so einen ehrfurchtgebietenden Zettelkasten mit Stichwortregister, wie mein Vater ihn für seine Zwecke angelegt hat.Lesen ist keine Kunst, sondern eine Notwendigkeit.

Eine Stelle suchen bietet immer die Gelegenheit, ein Buch wieder zur Hand zu nehmen. Das ist allemal besser und aufregender, als in Zetteln oder Karteikästen zu wühlen. Wie es auch sei, damals schuf ich mir ein erstes System für meine Gedanken zu einem Buch. Es ist die wichtigste Aufgabe beim Lesen eines Werkes, den darin vorgetragenen Ideen zu folgen und sie in Zusammenhang mit der Ordnung der eigenen Gedankenwelt zu bringen. Auf diese Weise entstehen Vorlieben und Abneigungen, Übereinstimmungen und Differenzen. Auf jeden Fall erweitert jede neue Lektüre den Horizont. Wie auch immer man mit Büchern umgeht, der Vorgang des Lesens ist entscheidend, steht aber erst an vorletzter Stelle der Beschäftigung mit ihnen. Denn zuerst wird das Buch einen optischen Eindruck auf Dich erwecken, bevor Du es zur Hand nimmst, und demzuvor hat es vielleicht schon einen Eindruck auf Dich gemacht, bevor Du es überhaupt in der Hand hattest, indem Dir jemand etwas darüber erzählt oder Du sonstwie davon gehört oder – gelesen hast. Es gibt hübsche und leider auch hässliche Bücher, wohlriechende und moderige, handschmeichlerische und garstige. Auch das beeinflusst unser Verhältnis zur Lektüre. Aber das steht am Anfang: Du willst ein Buch aus einem bestimmten Grund kennenlernen und nimmst es dann zur Hand. Du schlägst es auf, blätterst, fängst an zu lesen, liest es teilweise oder ganz und legst es anschließend wieder beiseite; sobald es weggelegt ist, verflüchtigt es sich als materielles Ereignis. Als Erlebnis verbleibt es für immer – in Dir.

 

 

Mit Moby Dick verging mir der Geschmack an leichterer Lektüre ganz und gar nicht. Ohne Unterschied verschlang ich meine Lieblingskinderbücher zum x-ten Mal und ewige Werke der großen Welt der Literatur. Mein Vater zeigte mir, was ich lesen sollte, und das tat ich dann. Vermutlich spiegelt sich in seinen Empfehlungen das, was er selber damals gelesen hat im Taubenschlag auf dem Dach seines Vaterhauses; mein Großvater, ein durch den Kunsthandel reich gewordener Bonvivant, wie man seinerzeit Menschen nannte, die ihr Geld mit leichter Hand verdienten und wieder ausgaben, kaufte seinem einzigen Kind alle Bücher, die dieses auf eine Liste schrieb, die selbstverständlich ständig erweitert und verbessert wurde. Das war seine Art der Vaterliebe. Diese Bibliothek ist am Palmsonntag des Jahres neunzehnhundertzweiundvierzig beim ersten Luftangriff verbrannt, den die Royal Air Force auf eine deutsche Stadt flog.

Die Vorschläge meines Vaters waren von höchst unterschiedlicher Art. Rousseaus Bekenntnisse standen am Anfang und Dostojewskijs Schuld und Sühne, die Buddenbrooks und Plutarchs Vergleiche großer Männer. Außerdem riet er mir, einzelne Schriftsteller kennenzulernen, indem ich alles von ihnen läse. Dazu mussten Gesamtausgaben her, und von meinem Taschengeld, das ich durch Gelegenheitsarbeiten, erst Wagenwaschen, später Tennisstunden, aufbesserte, kaufte ich mir einen Cervantes, einen Balzac und die Kleist-Ausgabe von Helmut Sembdner. Bis heute sind noch ein paar weitere dazugekommen. Wir wissen gar nicht, was wir an der Buchkultur in unserem Land haben. Wenn mich Ausländer besuchen, geraten sie stets ins Schwärmen über die handwerkliche Qualität und Schönheit deutscher Bücher. Nun, in den letzten Jahren versuchen mehr und mehr Verlage, sich dem internationalen Standard anzupassen, also gesichtslos mittelmäßige Druckerzeugnisse auf den Markt zu bringen. Auf Grund der Kostensituation scheint das unabänderlich, bedauern tun wir es allemal. Und als Trost: Es gibt noch das schöne Buch. Für alle, die danach suchen.

Die Sache mit den Gesamtausgaben ist kein bloßer Spleen. Sicher kann es ermüden, einen Haufen Schau- und Zwischenspiele von Cervantes am Stück zu lesen. Aber zum Dank lernt man den Dichter in seinen Facetten und Eigenarten kennen, wie es sonst nicht möglich wäre. Natürlich gibt es Biographien, in der Regel sorgfältig gemacht und gut geschrieben, aus denen man sich informieren kann. Aber gerade hier bekommt man das Bild des Porträtierten durch einen Filter zu sehen, den Filter der Wahrnehmung und Wiedergabe durch den Biographen. Ich gestehe, aus diesem Grunde ungern Lebensbeschreibungen zu lesen, es sei denn als Kunstprodukte. Wenn Biographien zu Literatur werden, bekommen sie eine neue Qualität, über die man auch neu entscheiden muss. Das Leben mancher Großer der Literatur erschließt sich bereits vollkommen über ihre Werke. Ein ausgezeichnetes Beispiel hierfür ist Heinrich von Kleist. Einerseits ist seine gesamte Produktion übersichtlich: eine Handvoll Gedichte, Novellen, acht Theaterstücke, ein paar Aufsätze und Artikel und dann noch seine Briefe. Andererseits sind Einzelheiten seines Lebens so geheimnisvoll, dass kein Biograph sie zwingend glaubhaft enträtseln kann. Eine mysteriöse Krankheit trieb den jungen Heinrich um, er war kurz Soldat und in französischer Gefangenschaft und kam wer weiß wie frei; zu einigen Männern unterhielt er intensive Freundschaft – war da mehr? Seine Verlobung löste er jedenfalls schnell wieder und hatte keine andere Freundin als seine Schwester Ulrike; und seinem jungen Leben setzte er gemeinsam mit einer Frau, der...

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