InhaltsverzeichnisIm Traumland
Marcel Reich. 1929–1939
Neun Jahre alt, allein im Zug in ein fremdes Land – und keine Angst dabei. Marcel war imprägniert mit den Traumvorstellungen seiner Mutter und seiner eigenen Fantasie. Er hatte so viel gehört. Nicht nur von der Kultur. Auch von den Zügen, die unter der Erde fuhren, und von den Treppen, die sich von selbst bewegten, und von Bussen mit Sitzen auf dem Dach. Er konnte das Ende der langen Bahnfahrt kaum erwarten. »So dachte ich, vor Erregung fiebernd, an das Wunder, das ich zu erleben hoffte – das Wunder Berlin.«
Es ist spät, als er schließlich am Bahnhof Zoo ankommt. Eine elegante Dame von vierzig Jahren erwartet ihn. Tante Else, die Frau des Bruders seiner Mutter, Onkel Jacob.
Sie nimmt den Knaben in Empfang, und dann geht es in die prunkvolle Wohnung der Familie in der Roonstraße, in unmittelbarer Nähe des Reichstags. Eine Wohnung von kalter Pracht, Marmorsäulen, ein plätschernder Springbrunnen in einem Zimmer, das man den Wintergarten nennt. Die zwei Cousins und die Cousine schlafen schon, Onkel Jacob ist nicht da.
Also sitzt er allein mit der Tante an einem Tisch, der ihm riesig vorkommt; eine junge Frau mit Schürze und Glacéhandschuhen serviert das Abendessen. Der eingeschüchterte Junge antwortet auf die ihm von Tante Else gestellten Fragen kurz und einsilbig. Die Frau mit der Schürze hat dem kleinen Gast ein weiches Ei serviert. Als er fertig gegessen hat, nimmt die Tante die Eierschale, blickt hinein und sagt: »So isst man Eier in Deutschland nicht.«
Willkommen im Traumland. Im Bett, allein, weint Marcel Reich bitterlich. Ist er hier willkommen? Hat ihn seine Mutter angelogen? Hat er etwas falsch verstanden? Zu allem Überfluss hängt über seinem Bett ein Gemälde, das ihm fürchterliche Angst einjagt. Ein bärtiges Wesen mit behaartem Rücken, halb Mensch, halb Fisch, auf einem Felsen inmitten des aufgewühlten, dunklen Meeres. Mit dem Muschelhorn scheint es die Bewohner der bedrohlichen Wasserwelt zu locken, von tief unten herauf zu ihm, zu uns. Vor ihm eine nackte Frau, lasziv auf dem Rücken, dem dunklen Wesen dargeboten, ihre linke Hand liegt am Nacken einer mächtigen Meeresschlange. Arnold Böcklins »Triton und Nereide«. Ein Albtraumbild. Unter ihm: Marcel Reich in seiner ersten Nacht in Deutschland.
Zum Glück fahren sie dann alle erst mal für den Sommer auf die Insel Sylt. Standesgemäß mit vielen Schrankkoffern, sogar die zwei Reitpferde der Familie kommen mit. Auf Sylt lernt Marcel im Spiel mit seinen Cousins dann so flüssig und gut Deutsch, dass er, als ihn nach den Ferien seine inzwischen nach Berlin nachgekommene Mutter auf Polnisch begrüßt, ihr auf Deutsch antwortet.
Er ist angekommen im neuen Land, in der neuen Sprache. Mit der kalten Prachtwohnung allerdings ist es nun, da die Eltern und seine Geschwister da sind, vorbei. Bruder Jacob hat entschieden, dass sie zu ihrem Vater, dem alten Rabbiner Mannheim Auerbach, in seine armselige Wohnung in Charlottenburg ziehen sollen. Sie haben keine Wahl, also ziehen sie zu ihm.
Der Vater hat in Berlin noch weniger Aussicht auf irgendeine Anstellung als in Polen, die Mutter ist zum Geldverdienen nicht geboren. Also sind sie vollkommen abhängig von Helenes Brüdern. Dieses demütigende Gefühl der Abhängigkeit hat Marcel tief geprägt. Niemals in eine solche Abhängigkeit zu geraten, von niemandem, das hat er sich früh als Lebensziel vorgenommen. Und als Zweites: niemals so werden wie sein Vater. So weich, untüchtig, zu schwach, dem Leben zu begegnen.
David Reich geht in Berlin öfter in die Synagoge als in Włocławek. Hier fühlt er sich offenbar ein wenig aufgehoben und zu Hause. Er wünscht sich, dass der Sohn ihn begleitet. Der kommt widerstrebend mit und langweilt sich schrecklich während der Gottesdienste: »Ich konnte nicht begreifen, daß erwachsene Menschen mehr oder weniger stumpfsinnige Texte murmelten und dies auch noch für ein persönliches Gespräch mit Gott hielten.«
Der Respekt für seinen Vater wird durch die gemeinsamen Besuche der Synagoge jedenfalls nicht größer. Es gibt viele Sätze in dem Buch, das Marcel Reich-Ranicki später über sein Leben schrieb, die den Leser schockieren. Ein Satz über seinen Vater ist einer der schockierendsten: »Auch später, als wir im Warschauer Getto lebten, blieb mein gutmütiger, mein gütiger Vater ein Versager.«
Jetzt, hier in Berlin, lebt Marcel mit dem verachteten Vater, der geliebten Mutter, seinen Geschwistern und dem Großvater in der engen Wohnung. Nach den Sommerferien kommt er in die Schule, eine Volksschule in der Witzlebenstraße. Er ist überrascht, was er hier gleich am ersten Schultag erlebt. Ähnlich überrascht wie am ersten Berliner Abend in der Säulenwohnung mit dem deutschen Ei. Ein Mitschüler hat irgendetwas angestellt, der Lehrer, ein Herr Wolf, ruft ihn nach vorne, sagt »Bück dich!«, holt den für solche Fälle in der Ecke lehnenden Rohrstock herbei und versetzt dem Schüler einige kräftige Hiebe.
Marcel ist erschrocken. Über den Vorfall und beinahe noch mehr darüber, dass niemand sonst in der Klasse irgendwie überrascht oder berührt zu sein scheint. Das ist hier offenbar ganz normal. In Polen hat Marcel so etwas nie erlebt.
Auch sonst ist die Volksschule kein Spaß. Er ist ein Ausländer, ein Fremder, trägt andere Kleidung als die Berliner Jungs, versteht ihre Scherze nicht. Er gehört nicht dazu.
Er selbst hat aus seinem frühen Fremdheitsgefühl die Verpflichtung abgeleitet, durch starke Schulleistungen seinen Platz in der Klassengemeinschaft zu erkämpfen. Das klappt auch. Nicht nur in Deutsch, auch in Rechnen ist er der Beste der Klasse. Und schafft schon im nächsten Jahr locker den Sprung aufs Gymnasium. Seine stolze Mutter spendiert ihm zur Belohnung einen Besuch beim Zirkus Sarrasani auf dem Tempelhofer Feld.
Aber auch auf dem Gymnasium bleibt er ein Außenseiter. Woher er denn komme, fragt der Lehrer den Jungen mit dem komischen Akzent. Marcel nennt den Namen seines Geburtsortes, der Lehrer findet ihn lächerlich und bemüht sich, zur großen Heiterkeit aller Mitschüler, den unaussprechlichen Namen aus unaussprechlicher Ferne so witzig wie möglich auszusprechen. »Lutzlawiek«? »Wutzlawazek«? Wahnsinnig komische Scherze auf Kosten eines Außenseiters. Marcel Reich erwidert etwas Freches und bekommt daraufhin vom Lehrer eine Ohrfeige.
Wer weiß, was geschehen wäre, wenn der Lehrer eine Papierkrawatte getragen hätte? Nein, zum Gegenangriff war Marcel Reich nicht der Richtige. Als mittelloses Ausländerkind wohl auch einfach nicht in einer Position der Stärke.
Die wollte er sich weiterhin durch Fleiß erarbeiten. Und jetzt fing die Sache mit dem Lesen so richtig an. Marcel Reich las und las und war, trotz der Fremdheit und den Demütigungen in diesen Jahren, zum ersten Mal in seinem Leben glücklich. Denn er war verliebt. Verliebt in die Literatur.
Er las und las. Edgar Wallace und »Ben Hur«, »Quo Vadis« und »Lederstrumpf«, nur die Bücher von Karl May, die seine Mitschüler lasen, konnte er nicht leiden. Er fand Old Shatterhand einen unerträglichen Angeber. Sein absolutes Lieblingsbuch damals: Erich Kästners »Emil und die Detektive«. Später las er alles, was der Bücherschrank seiner Mutter hergab, Dostojewskis »Dämonen«, Schillers Balladen, Balzac, Hamsun, Stendhal, Flaubert, Shakespeares Dramen. Als er zwölf war, ging er zum ersten Mal ins Deutsche Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Er sah Schillers »Wilhelm Tell« und war nun für die Welt da draußen endgültig verloren. Und für die Welt des Theaters gewonnen. Was immer er sehen konnte, wofür immer er Karten bekam – er sah es sich an.
Und er hatte bald schon das Glück, im Gymnasium auf einen Deutschlehrer zu treffen, der sich seinen Enthusiasmus für die Literatur bewahrt hatte. Er hieß Reinhold Knick, war Marcels Klassenlehrer am Werner-von-Siemens-Gymnasium in Schöneberg und einer »vom Geschlecht jener, die glauben, ohne Literatur und Musik, ohne Kunst und Theater habe das Leben keinen Sinn«, so wird sich Marcel Reich-Ranicki später dankbar an ihn erinnern. Keinem seiner Lehrer verdankte der junge Schüler mehr als diesem.
Vielleicht hat zu der großen Bewunderung, die der junge Schüler für seinen enthusiastischen Lehrer empfand, auch diese kleine Episode beigetragen: Irgendwann nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 kam es auf dem Schulhof »in der Hitze des Gefechts«, wie sich der jüdische Schüler Marcel später erinnert, beim Handballspiel zu einer Auseinandersetzung zwischen einem Schulführer der Hitlerjugend und einem Juden, den der HJler mit »Du Drecksjude!« beschimpfte. Daraufhin hielt Lehrer Knick in der Klasse mit zitternder Stimme eine feierliche Ansprache, in der er seine Schüler darauf hinwies, dass auch Jesus Jude gewesen sei und dass er als Christ solche Vorfälle nicht billigen könne. Knick wurde daraufhin von der HJ-Gebietsführung vorgeladen und von der Gestapo vernommen. Ende des Schuljahres wurde er an eine andere Schule versetzt.
Der Schüler Marcel ließ den Kontakt aber lange nicht abreißen. Lehrer Knick war für ihn die deutsche Klassik, der deutsche Idealismus, die verwirklichte, ideale deutsche Literatur. Knick ermutigte ihn, ihn in seiner Wohnung in Steglitz zu besuchen. Marcel nahm das Angebot gerne an und kam regelmäßig um siebzehn Uhr – stets gut vorbereitet mit einem Zettel, auf dem er Autorennamen und Buchtitel notiert hatte – und berichtete dem Lehrer von seinen Leseeindrücken und Urteilen. Die Zeit war kostbar. Um achtzehn Uhr klopfte Knicks Frau an der...