VORWORT
Was wissen wir über Jacques de Molay, den letzten Großmeister der Templer, den dreiundzwanzigsten, seit Hugues de Payns den Orden 1120 gegründet hat? Eigentlich nicht sehr viel, und über zwei Drittel seines Lebens ist so gut wie nichts bekannt.
Der Templerorden war der erste geistliche Ritterorden des abendländischen Christentums. Wer in diesen Orden eintrat, mußte ein Gelübde ablegen und lebte fortan nach einer Ordensregel, die Gottesdienst und Stundengebete umfaßte. Doch anders als in den Benediktiner- oder Zisterzienserklöstern widmeten sich die Ordensbrüder nicht der Meditation und der Caritas, sondern sahen ihr opus Dei in der Übernahme militärischer Aufgaben im Dienste der Kirche. Die Bezeichnung «Ritter Christi» (miles Christi), die eine lange Vorgeschichte hatte, verschmolz schließlich ganz und gar mit dieser neu entstandenen Form der geistlichen Ritterschaft.
Der Templerorden war im Rahmen der Kreuzzüge gegründet worden. Er entstand aus der Notwendigkeit, die Kreuzfahrer auf ihrer Pilgerfahrt in das von den Ungläubigen, wie man die Muslime damals nannte, befreite Jerusalem zu schützen und die während des ersten Kreuzzugs 1098–1099 im Orient gegründeten lateinischen Staaten zu verteidigen. Diese Aufgaben dienten zur Rechtfertigung, einen neuen Ordenstypus einzurichten.
Das Haupthaus des jungen Ordens lag ursprünglich in den Gebäudekomplexen der al-Aqsa-Moschee auf dem Berg Moria, dem heutigen Tempelberg, was dem Orden seinen Namen gab: «Die armen Kampfgefährten Christi und des salomonischen Tempels» (pauperes commilitones Christi Templique Salomonici). Aufgrund zahlreicher Schenkungen im Orient und im Okzident überzog er die christliche Welt bald mit einem Netz von Komtureien, die zu Balleien und wiederum zu Provinzen (Ordensprovinzen) zusammengefaßt waren. Sie alle unterstanden einem Meister und einer Gruppe von Würdenträgern, die den Orden anfänglich von Jerusalem aus leiteten, bevor der Sitz des Großmeisters nach dem Fall Jerusalems im 13. Jahrhundert nach Akkon verlegt wurde. Der Templerorden wurde zum Vorbild für andere Ordensgemeinschaften sowohl im Orient (Hospitaliter, Deutscher Orden), wie in Spanien (Calatrava, Santiago etc.) und in den baltischen Ländern, wo der Deutsche Orden kleinen Orden der «Schwertbrüder» und den «Orden von Dobrin» ablöste.
Jacques de Molay wurde zwischen 1245 und 1250 geboren und trat 1265 in den Templerorden ein, dessen Großmeister er 1292 wurde. Im Vorjahr waren die Franken oder Lateiner endgültig aus dem Heiligen Land vertrieben worden, Akkon und die letzten Festungen der Kreuzritter waren in die Hände der Mameluken-Sultane von Ägypten und Syrien gefallen. Der Großmeister Jacques de Molay versah sein Amt auf Zypern bis zu jenem folgenschweren Tag, an dem er zu einer Unterredung mit dem Papst nach Frankreich aufbrach. Dort fielen er und seine Ordensbrüder dem französischen König Philipp dem Schönen zum Opfer, der 1307 alle Templer festnehmen ließ. 1312 wurde der Orden verboten, Jacques de Molay schließlich am 18. März 1314 auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Man weiß also wenig über Jacques de Molay. Dennoch verfügen wir über Dokumente, die ihn erwähnen, und wenngleich diese Hinweise häufig unspektakulär, beiläufig, ungenau und indirekt sind, ermöglichen sie es uns doch, in kleinen Pinselstrichen seine Biographie zu zeichnen, ohne allzu summarisch zu sein. Für die Zeit, in der er die Geschicke der Templer lenkte, lassen sich die Grundzüge seiner Amtsführung herausarbeiten, und man muß weder das Quellenstudium noch die Wahrheit strapazieren, um in der Politik und in der Führung des Templerordens in den letzten zwanzig Jahren seines Bestehens die Handschrift des Großmeisters Jacques de Molay zu erkennen.
Vor allem die zeitgenössischen Chroniken liefern ein Bild von den Ereignissen, in die der Templerorden und seine Würdenträger verwickelt waren. Die Chronik des Templers von Tyrus (Chronique du Templier de Tyr), der selbst kein Ordensmitglied, aber Sekretär des Großmeisters Guillaume de Beaujeu war, stellt eine Hauptquelle zu dieser Epoche dar. Sie wurde später von Francesco Amadi (Chroniques d’Amadi et de Strambaldi) und Florio Bustron (Chronique de l’île de Chypre) fortgeführt und um einige Einzelheiten erweitert. Darüber hinaus geben die abendländischen Chroniken wie die von Guillaume de Nangis (Chronique latine de Guillaume de Nangis) und ihre französischen Fortsetzungen, die Chroniken der italienischen Städte sowie die Chronik von Giovanni Villani (Cronica), aber auch die Chroniken englischer und fränkischer Klöster wertvolle Hinweise.
Diese Quellen werden durch Briefe ergänzt. In den Archiven des Königreichs Aragón in Barcelona finden sich zahlreiche unveröffentlichte Briefe, die jedoch einer sorgfältigen Prüfung bedürfen, da sie häufig nur als Abschrift vorliegen. Unter diesen Dokumenten befinden sich auch Briefe von Jacques de Molay. Es handelt sich um zwei Denkschriften, die der Großmeister für Papst Clemens V. verfaßt hat, von denen sich die eine mit dem Kreuzzug, die andere mit den Plänen zur Verschmelzung des Templerordens mit dem Orden der Hospitaliter auseinandersetzt, sowie um ein kleines Konvolut von Briefen auf Latein und Französisch, das ich im Anhang zu einem provisorischen Textcorpus zusammengestellt habe. Die Antworten auf diese Briefe sind verloren, doch zumindest besitzen wir einige Briefe, die an Jacques de Molay gerichtet waren und die unser Bild abrunden. Da sie zum Teil ins Persönliche gehen, stellen sie für uns wertvolle Dokumente bei der Annäherung an die Persönlichkeit des Großmeisters dar. Die päpstlichen Archive, zugänglich über die Register der Papstbriefe, die unter Führung der École française von Rom erstellt wurden, enthalten ebenfalls zahlreiche Hinweise, die man nach einem Vergleich mit den Originalhandschriften zu den Quellen hinzufügen muß.
Und schließlich sind da noch die Verhörprotokolle aus dem Prozeß gegen die Templer: in erster Linie die Aussagen Jacques de Molays (insgesamt fünf Protokolle) sowie alle anderen, in denen er genannt und manchmal beschuldigt wird. Sie stellen eine grundlegende Quelle dar, auch wenn es schwer ist, sie richtig einzuschätzen. Stellen Sie sich vor, man würde die Geschichte nur anhand von Polizeiberichten, gerichtlichen Untersuchungen oder Gedächtnisprotokollen schreiben. Genau das ist die Aktenlage im Prozeß gegen die Templer. Eine politisch-polizeiliche Maschinerie ist am Werk: Wollte man sich auf Guillaume de Nogaret verlassen, könnte man sich ebenso gut auf den Chefankläger der Stalinprozesse, Wyschinskij, oder Senator McCarthy verlassen. Diese Verhöre wurden zuerst von Folterknechten, dann von Inquisitoren geführt, für die es nur Schuldige gab. Außerdem entstammen die Zeugnisse all derer, die man verhört hatte, größtenteils der Erinnerung: Wieviele Ereignisse sind schon im Gedächtnis verfälscht, falsch situiert, falsch datiert worden? Gewiß liegt ihnen ein wahrer Kern zugrunde, aber wie stoßen wir auf den Kern, wie erkennen wir die Wahrheit? Wie tief müssen wir schürfen?
Alle Historiker, die sich mit der Geschichte der Templer und dem tragischen Ende des Ordens befaßt haben, mußten sich mit diesem Problem auseinandersetzen. Doch sie haben (wie auch ich bisher) eine schematische Lösung verfolgt: Waren die Templer nun schuldig oder nicht? Im ersten Fall lieferten die Prozeßunterlagen ein zuverlässiges Zeugnis, anderenfalls nicht. Gegenwärtig schlagen die Historiker einen neuen Weg ein. Sie konzentrieren sich auf die Texte und suchen nach den zahlreichen Widersprüchen, Unzulänglichkeiten und Irrtümern in ihnen, aber auch nach dem Körnchen Wahrheit, das sie enthalten. Die Prozeßakten werden zerpflückt, um die Interessenlagen und unterschiedlichen Zielrichtungen aller Beteiligten zum Vorschein zu bringen: Der Papst und die päpstlichen Kommissare gingen der Frage nach den Verfehlungen der Templer anders nach als die königlichen Gerichte und ihre Verbündeten von der Inquisition. Sie hatten nicht das gleiche Ziel: Erstere wollten die Mißstände im Orden beseitigen, letztere einen häretischen, gotteslästerlichen, unmoralischen, nutzlosen und sonstwie gescholtenen Orden auslöschen.
Und die verhörten Templer wollten natürlich ihre Haut retten!
Unter diesen Umständen wäre es naiv, wollte man sich blind auf ihre Zeugnisse verlassen. Trotzdem liegen diese Aussagen vor!
Die Lektüre des 2001 erschienenen Buchs von Barbara Frale, L’ultima battaglia dei Templari, von dem ich während meiner Arbeit an dieser Biographie Kenntnis erhielt, hat mich schließlich dazu bewogen, alle Dokumente mit einzubeziehen, die «zweifelhaft» sind, weil sie auf der Erinnerung – auch auf der Erinnerung unter der Folter –, auf dem Hören-Sagen, dem Gerücht und dem Zeugnis derjenigen beruhen, die jemanden kannten, der jemanden kannte, der angeblich etwas wußte … Warum sollte man die Berichte der zahlreichen «Beobachter» (wenn wir diese teilweise oder gänzlich...