Am Ende des Lebens
glücklich:
Das Scheitern
war der Weg.
Wolfgang Schuster
Verluste, Defizite, Einschränkungen: Vom Umgang mit Veränderungen am Lebensende
Im Laufe der gelebten Jahre entwickelt jeder Mensch seine ganz eigenen Vorstellungen von sich selbst. Dieses Bild der eigenen Person betrifft alle Lebens- und Seinsbereiche. Petzold hat in diesem Zusammenhang auch von den tragenden Säulen der Identität gesprochen und benennt sie mit »Leiblichkeit, soziale Bezüge, Arbeit und Leistung, materielle Sicherheit und Werte«. Solange der Lebensbogen eine aufsteigende Tendenz hat, sind diese Säulen bei den meisten Menschen stark und tragfähig und bekommen durch individuelle Erfahrungen ihren ganz eigenen Schliff. Aber was geschieht, wenn der Zenit des Lebensbogens überschritten ist? Was geschieht, wenn der Lebensbogen sich neigt? Meistens sind es kleine körperliche Anzeichen, die auf das Brüchigwerden der Lebenssäulen hindeuten: der Körper kann sich nicht mehr so rasch regenerieren, die Anfälligkeit gegenüber Krankheiten und Verletzungen steigt oder die Beweglichkeit einzelner Körperteile lässt drastisch nach. Auch die Konzentrationsfähigkeit ist nicht mehr die alte und das Gedächtnis weist die eine oder andere Lücke auf. Nach und nach haben diese Veränderungen auch Auswirkungen auf den Arbeitsbereich und die Leistungsfähigkeit des Einzelnen. Schließlich bleibt auch das soziale Netz nicht davor verschont, brüchig zu werden. Wichtige soziale Netzwerke, die über viele Jahre des Lebens gehalten haben, verlieren ihre Kraft durch den Verlust einzelner Mitglieder. Anstelle eines steten Zuwachses an Halt gebenden Kontakten tritt eine Abnahme nicht nur der Quantität, sondern oft auch der Qualität der Beziehungen. Das Thema »Vergänglichkeit und Endlichkeit« tritt ganz konkret in das Bewusstsein und bleibt nicht mehr nur ein Gedankenspiel.
Die individuellen Reaktionen alternder Menschen auf die unterschiedlichen Veränderungen und Einbrüche können recht verschieden ausfallen. Während die einen sehen können, dass beispielsweise das Ende einer bestimmten Aktivität einer anderen Tür und Tor öffnet – zum Beispiel: »Ich kann jetzt nicht mehr regelmäßig Sport betreiben, dafür habe ich jetzt mehr Zeit und lese meinen Enkeln Bücher vor« –, kann das bei anderen tiefe Verzweiflung auslösen: »Ich kann nicht mehr gut sehen und hören, da ist es wohl das Beste, zu Hause zu bleiben, was soll ich da noch unter Menschen?« Doch trotz individueller Unterschiede werden sich Menschen im letzten Abschnitt ihres Lebens immer wieder der vielen Veränderungen bewusst, die unweigerlich darauf hindeuten, dass ihr Weg zu Ende geht.
Was viele Menschen im Alter belastet, sind Einsamkeit, ein fehlendes Ziel, Langeweile, körperliche Gebrechlichkeit, Schwierigkeiten sich auf Neues einzustellen und schließlich das unausweichliche nahende Sterben. Das alles macht traurig. Alte Menschen müssen von vielem Abschied nehmen – manchmal sogar von allem, was ihnen einmal wichtig war.
Menschen müssen sich im Alter oft verabschieden …
- … von Fähigkeiten und Fertigkeiten (»Ich kann nicht mehr alleine gehen«, »Ich brauche Hilfe beim Ankleiden«)
- … von Ideen und Träumen (»Ich werde mein Haus nicht mehr umgestalten können«, »Ich werde keine Pilgerreise mehr machen«)
- … von aktiven Handlungsmöglichkeiten (»Ich muss mein Hobby aufgeben«, »Ich kann nicht mehr frei über meine Zeit verfügen«)
- … von sozialen Spielräumen (»Ich kann meine Freunde nicht mehr besuchen gehen«, »Ich habe keine Möglichkeit, meine Gesprächspartner selbst auszuwählen«)
- … von geliebten Menschen und dem vertrauten sozialen Umfeld (»Nach und nach sterben alle meine Freunde weg«, »Meine Generation – da gibt es nicht mehr viele!«)
Je weitreichender die Einschnitte sind, die der Einzelne erlebt, und je schwieriger die Gesamtsituation ist, desto häufiger kann man Abweichungen von einem »normalen Verhalten« feststellen. Das Interesse an der Umwelt scheint zu erlahmen und auch die Fähigkeit, sich jemandem liebevoll zuzuwenden, schwindet. Verbunden ist dieser Zustand mit einer starken Verminderung der Leistungsfähigkeit, was bei sehr alten Menschen oft dazu führt, dass die Aktivität stark eingeschränkt ist. Im Extremfall kann es zu depressiven Verstimmungen kommen.
Wie muss Menschen zumute sein, die sich unerwünscht und nutzlos vorkommen, die sich eingeschränkt und überfordert fühlen und gleichzeitig sehr intensiv erleben, wie die kostbare Lebenszeit verrinnt und der Tod näher rückt? Bei allen Schwierigkeiten, die in Pflegesituationen auftreten können, ist es manchmal hilfreich, sich mit dem einen oder anderen der nachfolgenden Sätze auseinanderzusetzen und nachzuspüren, welche Gefühle in einem selbst entstehen und welche Möglichkeiten einem einfallen, diesen belastenden Gedanken und Gefühlen etwas entgegenzusetzen.
Was lösen diese Sätze in Ihnen aus und was könnte Ihnen helfen?
»Ich bin doch nur unerwünscht, mich braucht keiner.«
»Ich kann ja nicht mehr mit anpacken, ich bin einfach nur noch nutzlos.«
»Auch wenn sie es gut mit mir meinen, ich kann mich an die neue Situation nicht gewöhnen – einen alten Baum soll man halt nicht mehr verpflanzen!«
»Alle meine alten Freunde sind gestorben, von den Nachbarn lebt auch keiner mehr – die Nächste werde wohl ich sein?«
Welche Reaktionen aus der Umwelt könnten helfen, die Not zu lindern? Wenig sinnvoll ist es, mit einem »Aber das ist doch nicht so« oder »So darfst du gar nicht denken!« zu reagieren. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, diese Sätze anzuhören, ohne sich selbst schuldig oder angegriffen zu fühlen. Manchmal hilft es dem pflegebedürftigen Menschen schon, wenn es jemanden gibt, dem er solche Sätze zumuten kann und der es aushält, seine innere Not mit anzusehen. Auch wenn es in vielen Fällen tatsächlich wenig zu verändern gibt, kann menschliche Nähe und das Gefühl, wahrgenommen zu werden, Linderung bringen. Bleiben Menschen jedoch mit ihren belastenden Gedanken und Gefühlen allein, kann sich rasch eine tiefe Resignation einstellen. So entsteht eine Negativspirale, an deren Ende das gesamte Leben als eine einzige große Kränkung und Zumutung erlebt wird.
Was macht alte Menschen dagegen zu zufriedenen Alten? Subjektives Wohlbefinden scheint trotz erheblicher Einschränkungen möglich und zwar dann, wenn Menschen aktive »Zukunftsbemühungen« anstellen. Diese Erkenntnis, die vor allem den Arbeiten des österreichischen Soziologen und Altersforschers Leopold Rosenmayr zu verdanken ist, hat für alle, die mit der Pflege und Begleitung alter Menschen betraut sind, große Bedeutung. Auch wenn der Handlungsspielraum kleiner und kleiner wird, auch wenn die Umsetzung der einen oder anderen »Zukunftsbemühung« den Pflegealltag erschwert, sollten Menschen dabei unterstützt werden, jede noch so kleine Chance zur Selbstverwirklichung und Lebensgestaltung zu ergreifen. Professionelle Pflegekräfte sprechen in diesem Zusammenhang von »aktivierender Pflege« oder »aktivierender Förderung«.
Zu Beginn stehen vor allem finanzielle Dinge, gesundheitliche Aspekte und die aktive Pflege sozialer Kontakte im Vordergrund. Nach und nach verringern sich die konkreten Gestaltungsmöglichkeiten und beschränken sich auf das unmittelbar erreichbare und überschaubare Umfeld. Deshalb ist es wichtig, sich beizeiten mit den Vor- und Nachteilen der unterschiedlichen Betreuungsangebote beschäftigen zu können. Dies führt zu einer größeren Sicherheit für jene Zeitspanne, vor der sich die meisten fürchten: »Wenn es alleine nicht mehr so gut geht.«
Neben einer Beschäftigung mit der Gegenwart und der gedanklichen Zukunftsplanung spielt für das subjektive Wohlbefinden auch die Möglichkeit eine Rolle, die Gedanken in die Vergangenheit wandern zu lassen. Es wird von älteren Menschen zumeist als sehr bereichernd erlebt, jemandem unter dem Motto davon zu erzählen, wie man »damals« Zukunft gestaltet hat. Was hat früher schon in Krisensituationen geholfen? Es tut ganz offensichtlich nicht nur gut, tatsächliche Zukunftsgestaltung vorzunehmen, sondern auch mit einem Menschen über das zu sprechen, was einst wichtig und möglich war und was dem Leben Sinn und Freude verlieh. Vielleicht lässt sich auch leichter entdecken, welche kleinen Wünsche man doch noch umsetzen kann – in der Realität oder zumindest in Gedanken. An dieser Stelle sei auch auf die große Bedeutung von Zufriedenheit und einer positiven Lebensbilanz hingewiesen. »Positiv« meint nicht, dass das Leben rückblickend nur als schön, einfach und gut beschrieben wird, »positiv« bedeutet vielmehr, dass der Mensch zu diesem seinem gelebten Leben steht und einen inneren Sinnzusammenhang herstellen kann.
Die altersbedingten Veränderungen werden es in jedem Fall notwendig machen, in der Lebensgestaltung eine klare Auswahl (Selektion) der anzustrebenden Ziele zu treffen, genau zu überlegen, wie man sie am ehesten erreichen kann (Optimierung) und wie man dabei bestimmte Schwächen oder Ausfälle geeignet ersetzen kann (Kompensation). Dieser »SOK-Prozess« findet ein Leben lang statt, erhält allerdings im Alter eine besondere Bedeutung. Da das Selbstbild eines Menschen über die Jahre hin relativ stabil bleibt, kann man nie früh genug damit beginnen, sich bewusst und sorgfältig mit den aktuell nötigen Anpassungsprozessen zu befassen, die die neuen...